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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte

Schroffheit ausgebildet hat und diese isolierten Beamten von jeder wohltätigen
Einwirkung kollegialgerichtlicher Rechtsprechung und jeder einschneidenden Ein¬
wirkung des Vorgesetzten auf ihre Amtsführung frei gemacht hat, sodaß diese
jedem maßgebenden Einfluß entzognen Richter ganz besonders in Gefahr kommen,
in den Fehler der Einseitigkeit und Unzugänglichkeit für die Ansichten andrer
zu verfallen." So äußert sich wörtlich einer der angesehensten Berliner Richter,
der Amtsgerichtsrat Jastrow, in der Zeitschrift für deutschen Zivilprozeß,
Band 18, Seite 302 ff.

Hieraus ergibt sich aber auch, daß eine Beseitigung oder auch nur Ein¬
schränkung der Kollegialgerichte entschieden abzulehnen ist; denn die Kollegial-
gerichte sind das einzige und beste Mittel, den Mängeln, die einer gedeihlichen
Rechtspflege durch das übermäßige Hervortreten der richterlichen Individualität
drohen, abzuhelfen. Mehrfach ist von den Verteidigern der Kollegialgerichte
eine Zusammensetzung des Gerichtshofs etwa dahin als die wünschenswerte
gepriesen: an seiner Spitze ein Vorsitzender, schneidig, energisch und gewandt,
der auf straffe Durchführung des Prozesses bedacht ist, nur das Wesentliche
im Auge hat und alles unnütze Beiwerk zielbewußt abschneidet; neben ihm ein
älterer Beisitzer, kein gelehrter Jurist, der aber wohlwollend und menschen¬
freundlich ist, dabei die Verhältnisse des Bezirks genau kennt; schließlich ein
jüngerer Landrichter mit reichem Wissen, Scharfsinn und Fleiß. Nun weisen
die Gegner mit Recht darauf hin, daß nicht jedes Kollegium in dieser wünschens¬
werten Weise zusammengesetzt ist oder sein kann. Dies ist gewiß als richtig
zuzugeben; aber es ist doch auch keinesfalls anzunehmen, daß ein Kollegium
vorkommt, in dem der eine Richter nicht zuhört, weil er taub ist, der zweite
schläft, und der dritte bereits Schlaganfälle erlitten hat, oder auch nur daß
sich alle drei Richter überbieten werden in Gleichgiltigkeit gegen die Interessen
der Rechtsuchenden und in dem Bestreben, Abweisnngsgründe zu finden, in dem
Mangel an praktischem Blick und an Menschenkenntnis, in dem Hang zu
juristischen Tüfteleien oder umgekehrt zu einer das Gesetz beiseite schiebenden
Billigkeit. Eine solche "Homogenität" des Kollegiums kommt niemals vor;
vielmehr sind seine Mitglieder einander mehr oder minder oder auch gänzlich
ungleich, und gerade in dieser Mischung der Geister liegt der Vorzug der
kollegialgerichtlichen Verfassung, weil jeder Richter sich seiner Schwächen bewußt
wird dadurch, daß er der entgegengesetzten Amtsführung und Anschauungen der
andern Mitglieder des Kollegiums gewahr wird, und jeder Richter sich bewußt
ist, daß die Art, wie er sein Amt betätigt, ständig der Kenntnisnahme und
hiermit der Aburteilung durch die andern Mitglieder des Kollegiums unter¬
liegt. Denn gerade die Isoliertheit des Einzelrichters, der sein Amt ohne jede
Einwirkung, ja oft abgesondert und fern von Berufsgenossen versieht, bringt
nur zu leicht Gefahren mit sich. Ein Richter, der dazu neigt, Ansprüche, die
nicht genügend begründet, also aufklärungsbedürftig sind, so schnell wie möglich
abzuweisen, der also die Blüte der richterlichen Tätigkeit in der Auffindung


Die richterliche Individualität und die Aollegialgerichte

Schroffheit ausgebildet hat und diese isolierten Beamten von jeder wohltätigen
Einwirkung kollegialgerichtlicher Rechtsprechung und jeder einschneidenden Ein¬
wirkung des Vorgesetzten auf ihre Amtsführung frei gemacht hat, sodaß diese
jedem maßgebenden Einfluß entzognen Richter ganz besonders in Gefahr kommen,
in den Fehler der Einseitigkeit und Unzugänglichkeit für die Ansichten andrer
zu verfallen." So äußert sich wörtlich einer der angesehensten Berliner Richter,
der Amtsgerichtsrat Jastrow, in der Zeitschrift für deutschen Zivilprozeß,
Band 18, Seite 302 ff.

Hieraus ergibt sich aber auch, daß eine Beseitigung oder auch nur Ein¬
schränkung der Kollegialgerichte entschieden abzulehnen ist; denn die Kollegial-
gerichte sind das einzige und beste Mittel, den Mängeln, die einer gedeihlichen
Rechtspflege durch das übermäßige Hervortreten der richterlichen Individualität
drohen, abzuhelfen. Mehrfach ist von den Verteidigern der Kollegialgerichte
eine Zusammensetzung des Gerichtshofs etwa dahin als die wünschenswerte
gepriesen: an seiner Spitze ein Vorsitzender, schneidig, energisch und gewandt,
der auf straffe Durchführung des Prozesses bedacht ist, nur das Wesentliche
im Auge hat und alles unnütze Beiwerk zielbewußt abschneidet; neben ihm ein
älterer Beisitzer, kein gelehrter Jurist, der aber wohlwollend und menschen¬
freundlich ist, dabei die Verhältnisse des Bezirks genau kennt; schließlich ein
jüngerer Landrichter mit reichem Wissen, Scharfsinn und Fleiß. Nun weisen
die Gegner mit Recht darauf hin, daß nicht jedes Kollegium in dieser wünschens¬
werten Weise zusammengesetzt ist oder sein kann. Dies ist gewiß als richtig
zuzugeben; aber es ist doch auch keinesfalls anzunehmen, daß ein Kollegium
vorkommt, in dem der eine Richter nicht zuhört, weil er taub ist, der zweite
schläft, und der dritte bereits Schlaganfälle erlitten hat, oder auch nur daß
sich alle drei Richter überbieten werden in Gleichgiltigkeit gegen die Interessen
der Rechtsuchenden und in dem Bestreben, Abweisnngsgründe zu finden, in dem
Mangel an praktischem Blick und an Menschenkenntnis, in dem Hang zu
juristischen Tüfteleien oder umgekehrt zu einer das Gesetz beiseite schiebenden
Billigkeit. Eine solche „Homogenität" des Kollegiums kommt niemals vor;
vielmehr sind seine Mitglieder einander mehr oder minder oder auch gänzlich
ungleich, und gerade in dieser Mischung der Geister liegt der Vorzug der
kollegialgerichtlichen Verfassung, weil jeder Richter sich seiner Schwächen bewußt
wird dadurch, daß er der entgegengesetzten Amtsführung und Anschauungen der
andern Mitglieder des Kollegiums gewahr wird, und jeder Richter sich bewußt
ist, daß die Art, wie er sein Amt betätigt, ständig der Kenntnisnahme und
hiermit der Aburteilung durch die andern Mitglieder des Kollegiums unter¬
liegt. Denn gerade die Isoliertheit des Einzelrichters, der sein Amt ohne jede
Einwirkung, ja oft abgesondert und fern von Berufsgenossen versieht, bringt
nur zu leicht Gefahren mit sich. Ein Richter, der dazu neigt, Ansprüche, die
nicht genügend begründet, also aufklärungsbedürftig sind, so schnell wie möglich
abzuweisen, der also die Blüte der richterlichen Tätigkeit in der Auffindung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/688>, abgerufen am 23.07.2024.