Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte

subjektiven Auffassung für berechtigt und sogar für die allein richtige. Und
diese Auffassung des Richters ist auch wieder erklärlich. Zunächst kommt hier
folgendes in Betracht: Unsre Richter haben viel mit der Nachtseite ihrer Mit¬
bürger zu tun; die besten Volksteile sind es wahrlich nicht, die am meisten
mit dem Gericht zu tun haben, und so erklärt es sich, daß der Richter nur zu
leicht gegen die Interessen der Rechtsuchenden gleichgiltig wird, daß er, wie der
oben erwähnte Grundbuchrichter, Anträge, die ihm nicht zweifelsfrei begründet
erscheinen, zurückweist und den Beteiligten den mit Kosten und Säumnissen ver-
vundnen Weg der Beschwerde überläßt; oder daß er, wie Ofner es ausdrückt,
die Blüte richterlicher Tätigkeit in der Auffindung von Abweisungsgründen sieht,
oder, wie Dickel erzählt, ein Recht, das in einem neuen Termin klargestellt
werden könnte, sofort aberkennt, also dauernd oder bis zur erneuten Geltend-
machung vernichtet, um nur eine Sache zu Ende zu bringen. Das ist alles
erklärlich, weil sich der Richter, wie eigentlich selbstverständlich, niemals in der
Lage des Rechtsuchenden befunden hat und sich nicht in die Seele dessen ver¬
setzen kann, der wirtschaftlich eines Prozesses benötigt ist.

Und nun eine andre Erwägung. Unser Recht ist ein feiner, vielgestaltiger,
schwer erfaßbarer Körper; aber auch der gelehrteste Jurist kann ein sehr schlechter
Richter sein. Mit dem bloßen juristischen Wissen ist es nicht getan; um eine
richtige Entscheidung zu treffen, dazu gehört ferner praktischer Blick, Einsicht
in die sozialen sowie in die sonstigen tatsächlichen Verhältnisse der Rechtsuchenden,
auch eine gewisse Menschenkenntnis. Das ist unbestreitbar, ergibt aber zugleich,
daß man an die Richter Anforderungen macht, denen sie nicht durchweg ge¬
wachsen sein können. Denn praktischer Blick, Menschenkenntnis und Verständnis
für die Lage der Rechtsuchenden, das sind Eigenschaften, die doch nicht jeder
Richter hat, die mancher vielleicht nie erlangt. Daher die Gefahr von Ent¬
scheidungen, die bei aller juristischen Schärfe schief sind, das Rechtsgefühl ver¬
letzen, der Sachlage in das Gesicht schlagen. Hat aber der Richter wirklich
praktischen Blick, Menschen- und Sachkenntnis, oder glaubt er, sie zu haben, so
besteht wieder die Gefahr, daß er diese seine Fähigkeiten überschätzt und -- wie
Stölzel erzählt -- aus dem "Eindruck", den die Partei auf ihn macht, aus
der Art ihres Vordringens und aus ihrem Augenzwinkern die Sachlage genügend
zu erkennen glaubt, also in Willkür zu verfallen droht. Auch neigen gerade
die praktischen Köpfe unter den Richtern leicht zu einer Unterschätzung des
logisch-formalistischen Elements im Recht, zu der sogenannten g,6<zMa8 oerebrina,
also zu Entscheidungen, die zwar der Billigkeit entsprechen, mit dem Gesetz,
wie es nun einmal besteht, aber nicht zu vereinigen sind.

Es handelt sich hier, wie immer wieder hervorzuheben, nicht um Pflicht¬
widrigkeiten des einzelnen Richters; vielmehr hat nur das Hervortreten der
Individualität des einzelnen Richters Mißstände zur Folge; und daß diese
Mißstünde so besonders häufig und scharf hervortreten, dafür sorgt die heutige
Gerichtsverfassung, "die den Gedanken des Einzelrichters in seiner ganzen


Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte

subjektiven Auffassung für berechtigt und sogar für die allein richtige. Und
diese Auffassung des Richters ist auch wieder erklärlich. Zunächst kommt hier
folgendes in Betracht: Unsre Richter haben viel mit der Nachtseite ihrer Mit¬
bürger zu tun; die besten Volksteile sind es wahrlich nicht, die am meisten
mit dem Gericht zu tun haben, und so erklärt es sich, daß der Richter nur zu
leicht gegen die Interessen der Rechtsuchenden gleichgiltig wird, daß er, wie der
oben erwähnte Grundbuchrichter, Anträge, die ihm nicht zweifelsfrei begründet
erscheinen, zurückweist und den Beteiligten den mit Kosten und Säumnissen ver-
vundnen Weg der Beschwerde überläßt; oder daß er, wie Ofner es ausdrückt,
die Blüte richterlicher Tätigkeit in der Auffindung von Abweisungsgründen sieht,
oder, wie Dickel erzählt, ein Recht, das in einem neuen Termin klargestellt
werden könnte, sofort aberkennt, also dauernd oder bis zur erneuten Geltend-
machung vernichtet, um nur eine Sache zu Ende zu bringen. Das ist alles
erklärlich, weil sich der Richter, wie eigentlich selbstverständlich, niemals in der
Lage des Rechtsuchenden befunden hat und sich nicht in die Seele dessen ver¬
setzen kann, der wirtschaftlich eines Prozesses benötigt ist.

Und nun eine andre Erwägung. Unser Recht ist ein feiner, vielgestaltiger,
schwer erfaßbarer Körper; aber auch der gelehrteste Jurist kann ein sehr schlechter
Richter sein. Mit dem bloßen juristischen Wissen ist es nicht getan; um eine
richtige Entscheidung zu treffen, dazu gehört ferner praktischer Blick, Einsicht
in die sozialen sowie in die sonstigen tatsächlichen Verhältnisse der Rechtsuchenden,
auch eine gewisse Menschenkenntnis. Das ist unbestreitbar, ergibt aber zugleich,
daß man an die Richter Anforderungen macht, denen sie nicht durchweg ge¬
wachsen sein können. Denn praktischer Blick, Menschenkenntnis und Verständnis
für die Lage der Rechtsuchenden, das sind Eigenschaften, die doch nicht jeder
Richter hat, die mancher vielleicht nie erlangt. Daher die Gefahr von Ent¬
scheidungen, die bei aller juristischen Schärfe schief sind, das Rechtsgefühl ver¬
letzen, der Sachlage in das Gesicht schlagen. Hat aber der Richter wirklich
praktischen Blick, Menschen- und Sachkenntnis, oder glaubt er, sie zu haben, so
besteht wieder die Gefahr, daß er diese seine Fähigkeiten überschätzt und — wie
Stölzel erzählt — aus dem „Eindruck", den die Partei auf ihn macht, aus
der Art ihres Vordringens und aus ihrem Augenzwinkern die Sachlage genügend
zu erkennen glaubt, also in Willkür zu verfallen droht. Auch neigen gerade
die praktischen Köpfe unter den Richtern leicht zu einer Unterschätzung des
logisch-formalistischen Elements im Recht, zu der sogenannten g,6<zMa8 oerebrina,
also zu Entscheidungen, die zwar der Billigkeit entsprechen, mit dem Gesetz,
wie es nun einmal besteht, aber nicht zu vereinigen sind.

Es handelt sich hier, wie immer wieder hervorzuheben, nicht um Pflicht¬
widrigkeiten des einzelnen Richters; vielmehr hat nur das Hervortreten der
Individualität des einzelnen Richters Mißstände zur Folge; und daß diese
Mißstünde so besonders häufig und scharf hervortreten, dafür sorgt die heutige
Gerichtsverfassung, „die den Gedanken des Einzelrichters in seiner ganzen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0687" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/304103"/>
          <fw type="header" place="top"> Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2986" prev="#ID_2985"> subjektiven Auffassung für berechtigt und sogar für die allein richtige. Und<lb/>
diese Auffassung des Richters ist auch wieder erklärlich. Zunächst kommt hier<lb/>
folgendes in Betracht: Unsre Richter haben viel mit der Nachtseite ihrer Mit¬<lb/>
bürger zu tun; die besten Volksteile sind es wahrlich nicht, die am meisten<lb/>
mit dem Gericht zu tun haben, und so erklärt es sich, daß der Richter nur zu<lb/>
leicht gegen die Interessen der Rechtsuchenden gleichgiltig wird, daß er, wie der<lb/>
oben erwähnte Grundbuchrichter, Anträge, die ihm nicht zweifelsfrei begründet<lb/>
erscheinen, zurückweist und den Beteiligten den mit Kosten und Säumnissen ver-<lb/>
vundnen Weg der Beschwerde überläßt; oder daß er, wie Ofner es ausdrückt,<lb/>
die Blüte richterlicher Tätigkeit in der Auffindung von Abweisungsgründen sieht,<lb/>
oder, wie Dickel erzählt, ein Recht, das in einem neuen Termin klargestellt<lb/>
werden könnte, sofort aberkennt, also dauernd oder bis zur erneuten Geltend-<lb/>
machung vernichtet, um nur eine Sache zu Ende zu bringen. Das ist alles<lb/>
erklärlich, weil sich der Richter, wie eigentlich selbstverständlich, niemals in der<lb/>
Lage des Rechtsuchenden befunden hat und sich nicht in die Seele dessen ver¬<lb/>
setzen kann, der wirtschaftlich eines Prozesses benötigt ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2987"> Und nun eine andre Erwägung. Unser Recht ist ein feiner, vielgestaltiger,<lb/>
schwer erfaßbarer Körper; aber auch der gelehrteste Jurist kann ein sehr schlechter<lb/>
Richter sein. Mit dem bloßen juristischen Wissen ist es nicht getan; um eine<lb/>
richtige Entscheidung zu treffen, dazu gehört ferner praktischer Blick, Einsicht<lb/>
in die sozialen sowie in die sonstigen tatsächlichen Verhältnisse der Rechtsuchenden,<lb/>
auch eine gewisse Menschenkenntnis. Das ist unbestreitbar, ergibt aber zugleich,<lb/>
daß man an die Richter Anforderungen macht, denen sie nicht durchweg ge¬<lb/>
wachsen sein können. Denn praktischer Blick, Menschenkenntnis und Verständnis<lb/>
für die Lage der Rechtsuchenden, das sind Eigenschaften, die doch nicht jeder<lb/>
Richter hat, die mancher vielleicht nie erlangt. Daher die Gefahr von Ent¬<lb/>
scheidungen, die bei aller juristischen Schärfe schief sind, das Rechtsgefühl ver¬<lb/>
letzen, der Sachlage in das Gesicht schlagen. Hat aber der Richter wirklich<lb/>
praktischen Blick, Menschen- und Sachkenntnis, oder glaubt er, sie zu haben, so<lb/>
besteht wieder die Gefahr, daß er diese seine Fähigkeiten überschätzt und &#x2014; wie<lb/>
Stölzel erzählt &#x2014; aus dem &#x201E;Eindruck", den die Partei auf ihn macht, aus<lb/>
der Art ihres Vordringens und aus ihrem Augenzwinkern die Sachlage genügend<lb/>
zu erkennen glaubt, also in Willkür zu verfallen droht. Auch neigen gerade<lb/>
die praktischen Köpfe unter den Richtern leicht zu einer Unterschätzung des<lb/>
logisch-formalistischen Elements im Recht, zu der sogenannten g,6&lt;zMa8 oerebrina,<lb/>
also zu Entscheidungen, die zwar der Billigkeit entsprechen, mit dem Gesetz,<lb/>
wie es nun einmal besteht, aber nicht zu vereinigen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2988" next="#ID_2989"> Es handelt sich hier, wie immer wieder hervorzuheben, nicht um Pflicht¬<lb/>
widrigkeiten des einzelnen Richters; vielmehr hat nur das Hervortreten der<lb/>
Individualität des einzelnen Richters Mißstände zur Folge; und daß diese<lb/>
Mißstünde so besonders häufig und scharf hervortreten, dafür sorgt die heutige<lb/>
Gerichtsverfassung, &#x201E;die den Gedanken des Einzelrichters in seiner ganzen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0687] Die richterliche Individualität und die Rollegialgerichte subjektiven Auffassung für berechtigt und sogar für die allein richtige. Und diese Auffassung des Richters ist auch wieder erklärlich. Zunächst kommt hier folgendes in Betracht: Unsre Richter haben viel mit der Nachtseite ihrer Mit¬ bürger zu tun; die besten Volksteile sind es wahrlich nicht, die am meisten mit dem Gericht zu tun haben, und so erklärt es sich, daß der Richter nur zu leicht gegen die Interessen der Rechtsuchenden gleichgiltig wird, daß er, wie der oben erwähnte Grundbuchrichter, Anträge, die ihm nicht zweifelsfrei begründet erscheinen, zurückweist und den Beteiligten den mit Kosten und Säumnissen ver- vundnen Weg der Beschwerde überläßt; oder daß er, wie Ofner es ausdrückt, die Blüte richterlicher Tätigkeit in der Auffindung von Abweisungsgründen sieht, oder, wie Dickel erzählt, ein Recht, das in einem neuen Termin klargestellt werden könnte, sofort aberkennt, also dauernd oder bis zur erneuten Geltend- machung vernichtet, um nur eine Sache zu Ende zu bringen. Das ist alles erklärlich, weil sich der Richter, wie eigentlich selbstverständlich, niemals in der Lage des Rechtsuchenden befunden hat und sich nicht in die Seele dessen ver¬ setzen kann, der wirtschaftlich eines Prozesses benötigt ist. Und nun eine andre Erwägung. Unser Recht ist ein feiner, vielgestaltiger, schwer erfaßbarer Körper; aber auch der gelehrteste Jurist kann ein sehr schlechter Richter sein. Mit dem bloßen juristischen Wissen ist es nicht getan; um eine richtige Entscheidung zu treffen, dazu gehört ferner praktischer Blick, Einsicht in die sozialen sowie in die sonstigen tatsächlichen Verhältnisse der Rechtsuchenden, auch eine gewisse Menschenkenntnis. Das ist unbestreitbar, ergibt aber zugleich, daß man an die Richter Anforderungen macht, denen sie nicht durchweg ge¬ wachsen sein können. Denn praktischer Blick, Menschenkenntnis und Verständnis für die Lage der Rechtsuchenden, das sind Eigenschaften, die doch nicht jeder Richter hat, die mancher vielleicht nie erlangt. Daher die Gefahr von Ent¬ scheidungen, die bei aller juristischen Schärfe schief sind, das Rechtsgefühl ver¬ letzen, der Sachlage in das Gesicht schlagen. Hat aber der Richter wirklich praktischen Blick, Menschen- und Sachkenntnis, oder glaubt er, sie zu haben, so besteht wieder die Gefahr, daß er diese seine Fähigkeiten überschätzt und — wie Stölzel erzählt — aus dem „Eindruck", den die Partei auf ihn macht, aus der Art ihres Vordringens und aus ihrem Augenzwinkern die Sachlage genügend zu erkennen glaubt, also in Willkür zu verfallen droht. Auch neigen gerade die praktischen Köpfe unter den Richtern leicht zu einer Unterschätzung des logisch-formalistischen Elements im Recht, zu der sogenannten g,6<zMa8 oerebrina, also zu Entscheidungen, die zwar der Billigkeit entsprechen, mit dem Gesetz, wie es nun einmal besteht, aber nicht zu vereinigen sind. Es handelt sich hier, wie immer wieder hervorzuheben, nicht um Pflicht¬ widrigkeiten des einzelnen Richters; vielmehr hat nur das Hervortreten der Individualität des einzelnen Richters Mißstände zur Folge; und daß diese Mißstünde so besonders häufig und scharf hervortreten, dafür sorgt die heutige Gerichtsverfassung, „die den Gedanken des Einzelrichters in seiner ganzen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/687
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/687>, abgerufen am 23.07.2024.