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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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österreichischer Neuliberalismus

freilich tatsächlich von selbst wiederherstellte, hat die "Reaktion" und den Sturz
des Liberalismus kräftig gefördert. Mit dem Worte Konfessionsschule ist
natürlich nur gesagt, daß der Lehrer der Konfession der Mehrzahl der Schüler
angehören, und daß für die Unterweisung dieser in ihrer Religion gesorgt
sein soll, nicht, daß die Kirche die Schulaufsichtsbeamten bestellt. Wenn nur
der Staat das Schulwesen organisiert und die Aufsicht pflichtmäßig übt, schadet
die Konfessionalität gar nichts. An der strammen und verständigen Staats¬
aufsicht hat es freilich bis jetzt gefehlt, wie der Umstand beweist, daß die
Gymnasiasten und die Volksschüler zu allerlei Andachtsübungen gezwungen
werden, die zwar kein Hemmnis für die Entwicklung der Großindustrie, aber
pädagogisch verwerflich sind.

Ist die Forderung der konfessionslosen Schule sachlich, um der Industrie
willen, nicht gerechtfertigt, so ist sie vielleicht taktisch, als Kampfruf, zu empfehlen,
zur Begründung der Losung: der Klerikalismus ist der Feind? Nun, wie weit
man mit solchem Kampfgeschrei, das der alte Liberalismus seit beinahe vierzig
Jahren unermüdlich angestimmt hat, gekommen ist, zeigt ja der Wahlausfall,
beim allgemeinen gleichen Stimmrecht: die Klerikalen verschiedner Schattierung
machen zusammen die stärkste Partei aus, und die Liberalen sehen sich darauf
angewiesen, für die Gegenwart die Vertretung ihrer Interessen den Sozialdemo¬
kraten anzuvertrauen, im übrigen aber sich, wie der Verfasser des vorliegenden
Buches, mit Zukunftsmusik zu trösten. Die Niederlage des Liberalismus ist
um so auffälliger, weil der österreichische Episkopat wegen seines Reichtums,
seines Geizes, seines Hochmuts, seiner unsozialen, unchristlichen Gesinnung bis
in die Reihen des schon recht revolutionslustigen Seelsorgsklerus verhaßt ist,
sodaß, sollte man meinen, eine Verständigung mit diesem hätte gelingen müssen,
wenn die Liberalen mehr praktische Politik und weniger Kulturpaukerei getrieben
hätten, und das wird wohl auch für den neuen Liberalismus gelten, falls dieser es
zur Parteibildung bringt: ohne die Pfaffenfresserei wird er es in der Verbesserung
der Schulen -- die übrigens gar nicht schlecht sein sollen -- wahrscheinlich weiter
bringen. Mit alledem sind wir freilich ins spezifisch Österreichische hineingeraten,
über das wir uns kein Urteil erlauben wollten; indes die eben erwähnten Tat¬
sachen stehn doch so groß und deutlich vor aller Welt Augen, daß sie auch der
Ausländer sehen muß und sich über ihre Bedeutung nicht täuschen kann.

Vielleicht wird die alte Losung nur darum so hartnäckig festgehalten, weil
ohne sie der Liberalismus keinen Inhalt mehr hätte. Bekanntlich bedeutet auf
dem europäischen Festlande das Wort liberal als Bezeichnung politischer Par¬
teien, die sich mindestens so illiberal, so engherzig und tyrannisch zu benehmen
pflegen wie ihre Gegner, weiter nichts als antiklerikal, auf deutsch kirchenfeind¬
lich. Daneben allerdings auch noch antiagrarisch und freihändlerisch, den Gegen¬
satz zum "Konservatismus oder Feudalismus", wie Charmatz schreibt. Die
Aufgabe des Liberalismus sei gewesen, den Industriestaat planmäßig zu schaffen;
diese Aufgabe habe er in Österreich noch nicht erfüllt, und der Klerus müsse


österreichischer Neuliberalismus

freilich tatsächlich von selbst wiederherstellte, hat die „Reaktion" und den Sturz
des Liberalismus kräftig gefördert. Mit dem Worte Konfessionsschule ist
natürlich nur gesagt, daß der Lehrer der Konfession der Mehrzahl der Schüler
angehören, und daß für die Unterweisung dieser in ihrer Religion gesorgt
sein soll, nicht, daß die Kirche die Schulaufsichtsbeamten bestellt. Wenn nur
der Staat das Schulwesen organisiert und die Aufsicht pflichtmäßig übt, schadet
die Konfessionalität gar nichts. An der strammen und verständigen Staats¬
aufsicht hat es freilich bis jetzt gefehlt, wie der Umstand beweist, daß die
Gymnasiasten und die Volksschüler zu allerlei Andachtsübungen gezwungen
werden, die zwar kein Hemmnis für die Entwicklung der Großindustrie, aber
pädagogisch verwerflich sind.

Ist die Forderung der konfessionslosen Schule sachlich, um der Industrie
willen, nicht gerechtfertigt, so ist sie vielleicht taktisch, als Kampfruf, zu empfehlen,
zur Begründung der Losung: der Klerikalismus ist der Feind? Nun, wie weit
man mit solchem Kampfgeschrei, das der alte Liberalismus seit beinahe vierzig
Jahren unermüdlich angestimmt hat, gekommen ist, zeigt ja der Wahlausfall,
beim allgemeinen gleichen Stimmrecht: die Klerikalen verschiedner Schattierung
machen zusammen die stärkste Partei aus, und die Liberalen sehen sich darauf
angewiesen, für die Gegenwart die Vertretung ihrer Interessen den Sozialdemo¬
kraten anzuvertrauen, im übrigen aber sich, wie der Verfasser des vorliegenden
Buches, mit Zukunftsmusik zu trösten. Die Niederlage des Liberalismus ist
um so auffälliger, weil der österreichische Episkopat wegen seines Reichtums,
seines Geizes, seines Hochmuts, seiner unsozialen, unchristlichen Gesinnung bis
in die Reihen des schon recht revolutionslustigen Seelsorgsklerus verhaßt ist,
sodaß, sollte man meinen, eine Verständigung mit diesem hätte gelingen müssen,
wenn die Liberalen mehr praktische Politik und weniger Kulturpaukerei getrieben
hätten, und das wird wohl auch für den neuen Liberalismus gelten, falls dieser es
zur Parteibildung bringt: ohne die Pfaffenfresserei wird er es in der Verbesserung
der Schulen — die übrigens gar nicht schlecht sein sollen — wahrscheinlich weiter
bringen. Mit alledem sind wir freilich ins spezifisch Österreichische hineingeraten,
über das wir uns kein Urteil erlauben wollten; indes die eben erwähnten Tat¬
sachen stehn doch so groß und deutlich vor aller Welt Augen, daß sie auch der
Ausländer sehen muß und sich über ihre Bedeutung nicht täuschen kann.

Vielleicht wird die alte Losung nur darum so hartnäckig festgehalten, weil
ohne sie der Liberalismus keinen Inhalt mehr hätte. Bekanntlich bedeutet auf
dem europäischen Festlande das Wort liberal als Bezeichnung politischer Par¬
teien, die sich mindestens so illiberal, so engherzig und tyrannisch zu benehmen
pflegen wie ihre Gegner, weiter nichts als antiklerikal, auf deutsch kirchenfeind¬
lich. Daneben allerdings auch noch antiagrarisch und freihändlerisch, den Gegen¬
satz zum „Konservatismus oder Feudalismus", wie Charmatz schreibt. Die
Aufgabe des Liberalismus sei gewesen, den Industriestaat planmäßig zu schaffen;
diese Aufgabe habe er in Österreich noch nicht erfüllt, und der Klerus müsse


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[0634] österreichischer Neuliberalismus freilich tatsächlich von selbst wiederherstellte, hat die „Reaktion" und den Sturz des Liberalismus kräftig gefördert. Mit dem Worte Konfessionsschule ist natürlich nur gesagt, daß der Lehrer der Konfession der Mehrzahl der Schüler angehören, und daß für die Unterweisung dieser in ihrer Religion gesorgt sein soll, nicht, daß die Kirche die Schulaufsichtsbeamten bestellt. Wenn nur der Staat das Schulwesen organisiert und die Aufsicht pflichtmäßig übt, schadet die Konfessionalität gar nichts. An der strammen und verständigen Staats¬ aufsicht hat es freilich bis jetzt gefehlt, wie der Umstand beweist, daß die Gymnasiasten und die Volksschüler zu allerlei Andachtsübungen gezwungen werden, die zwar kein Hemmnis für die Entwicklung der Großindustrie, aber pädagogisch verwerflich sind. Ist die Forderung der konfessionslosen Schule sachlich, um der Industrie willen, nicht gerechtfertigt, so ist sie vielleicht taktisch, als Kampfruf, zu empfehlen, zur Begründung der Losung: der Klerikalismus ist der Feind? Nun, wie weit man mit solchem Kampfgeschrei, das der alte Liberalismus seit beinahe vierzig Jahren unermüdlich angestimmt hat, gekommen ist, zeigt ja der Wahlausfall, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht: die Klerikalen verschiedner Schattierung machen zusammen die stärkste Partei aus, und die Liberalen sehen sich darauf angewiesen, für die Gegenwart die Vertretung ihrer Interessen den Sozialdemo¬ kraten anzuvertrauen, im übrigen aber sich, wie der Verfasser des vorliegenden Buches, mit Zukunftsmusik zu trösten. Die Niederlage des Liberalismus ist um so auffälliger, weil der österreichische Episkopat wegen seines Reichtums, seines Geizes, seines Hochmuts, seiner unsozialen, unchristlichen Gesinnung bis in die Reihen des schon recht revolutionslustigen Seelsorgsklerus verhaßt ist, sodaß, sollte man meinen, eine Verständigung mit diesem hätte gelingen müssen, wenn die Liberalen mehr praktische Politik und weniger Kulturpaukerei getrieben hätten, und das wird wohl auch für den neuen Liberalismus gelten, falls dieser es zur Parteibildung bringt: ohne die Pfaffenfresserei wird er es in der Verbesserung der Schulen — die übrigens gar nicht schlecht sein sollen — wahrscheinlich weiter bringen. Mit alledem sind wir freilich ins spezifisch Österreichische hineingeraten, über das wir uns kein Urteil erlauben wollten; indes die eben erwähnten Tat¬ sachen stehn doch so groß und deutlich vor aller Welt Augen, daß sie auch der Ausländer sehen muß und sich über ihre Bedeutung nicht täuschen kann. Vielleicht wird die alte Losung nur darum so hartnäckig festgehalten, weil ohne sie der Liberalismus keinen Inhalt mehr hätte. Bekanntlich bedeutet auf dem europäischen Festlande das Wort liberal als Bezeichnung politischer Par¬ teien, die sich mindestens so illiberal, so engherzig und tyrannisch zu benehmen pflegen wie ihre Gegner, weiter nichts als antiklerikal, auf deutsch kirchenfeind¬ lich. Daneben allerdings auch noch antiagrarisch und freihändlerisch, den Gegen¬ satz zum „Konservatismus oder Feudalismus", wie Charmatz schreibt. Die Aufgabe des Liberalismus sei gewesen, den Industriestaat planmäßig zu schaffen; diese Aufgabe habe er in Österreich noch nicht erfüllt, und der Klerus müsse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/634>, abgerufen am 26.06.2024.