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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreichischer Neuliberalismus

der Witwer der verstorbnen Frau Schwester nicht heiraten durfte, die sich so
oft als aufopfernde Pflegemutter seiner Kinder erweist, hat den englischen Export
nicht im mindesten geschädigt. Was aber die Schulen betrifft, so ist allerdings
die Konnivenz der Staatsbehörden gegen klerikale Übergriffe (die Charmatz gar
nicht einmal erwähnt, wie die Nötigung von Gymnasiasten zu häusigen Beichten,
zu geistlichen Exerzitien) durchaus verwerflich, aber ob der Klerus grundsätzlich
bildungsfeindlich ist, dafür wird der Liberalismus, wenn er Erfolg haben will,
überzeugendere Beweise beibringen müssen, als sie das vorliegende Buch enthält.
Daß manche Geistliche den Bauern recht geben, wenn diese die Verkürzung der
Schulzeit fordern, ist noch kein Beweis weder für die Jndustriefeindlichkeit noch
für die reaktionäre Gesinnung; die Engländer haben sich immer über die unersätt¬
liche Schulmeisterei der Deutschen lustig gemacht und unter, auch nachdem sie
den alten Schlendrian aufgegeben und das preußische Schulwesen einigermaßen
nachgeahmt haben, weder den Volksschülern noch den Gymnasiasten ein so an¬
haltendes Höcker in der Schulstube zu wie wir Deutschen, die Deutschösterreicher
nicht ausgenommen. Es ist ganz unbegreiflich, wie angesichts der englischen
Geschichte immer noch so übertriebne Vorstellungen von der Bedeutung der Schule
für die Industrie verbreitet werden können. In der Zeit, da Englands Industrie
ihr Monopol auf dem Weltmarkt eroberte, waren fast alle englischen Fabrik¬
arbeiter Analphabeten und viele von ihnen so unwissend, daß sie den Namen
ihrer Königin nicht kannten. Was die industrielle Macht von England, Deutsch¬
land, Nordamerika und Belgien begründet hat, das war nicht die ausgezeichnete
Schulbildung (Volksschulen waren in England so gut wie nicht vorhanden, die
Gymnasien trieben mehr Sport als Wissenschaft und von Wissenschaften fast nichts
als die alten Sprachen, die Universitäten aber waren nach Adam Smiths Be¬
schreibung die jämmerlichsten der Welt; und in Belgien, um dessen Volksschulen
es noch heute schlecht bestellt sein soll, regieren seit zwanzig Jahren die Kleri¬
kalen), sondern der Reichtum an Kohle und Eisen. Ob es Österreich darin mit
seinen Konkurrenten aufnehmen kann, davon, nicht von seinen Schulen hängt
die Entwicklung seiner Großindustrie ab. Allerdings haben sich seit einigen
Jahrzehnten die Verhältnisse geändert. Die Industrie bedarf guter technischer
Schulen, und die meisten Industrien können keine so stumpfsinnigen Arbeiter
mehr brauchen, wie den englischen bis vor fünfzig Jahren genügten. Sollte
der Klerus so töricht sein, die Entwicklung des technischen Schulwesens hemmen
Zu wollen oder das Niveau der Volksschule herabzudrücken, so müßte er aller¬
dings unschädlich gemacht werden. Aber der Grundsatz Carneris, den sich
Charmatz aneignet, ist falsch: "daß kein Staat die konfessionelle Schule zulassen
könne, der nicht für alle Zukunft dem Fortschritte sich verschließen und auf
seinen eigentlichen Zweck nicht verzichten will." Preußen hat nie eine andre
als die konfessionelle Schule gehabt, und in England sind bis zum Erlaß des
vorjährigen Schulgesetzes die meisten Schulen Kirchenschulen gewesen. Gerade
daß Österreich im Jahre 1869 die Konfessionsschule abgeschafft hat, die sich


Österreichischer Neuliberalismus

der Witwer der verstorbnen Frau Schwester nicht heiraten durfte, die sich so
oft als aufopfernde Pflegemutter seiner Kinder erweist, hat den englischen Export
nicht im mindesten geschädigt. Was aber die Schulen betrifft, so ist allerdings
die Konnivenz der Staatsbehörden gegen klerikale Übergriffe (die Charmatz gar
nicht einmal erwähnt, wie die Nötigung von Gymnasiasten zu häusigen Beichten,
zu geistlichen Exerzitien) durchaus verwerflich, aber ob der Klerus grundsätzlich
bildungsfeindlich ist, dafür wird der Liberalismus, wenn er Erfolg haben will,
überzeugendere Beweise beibringen müssen, als sie das vorliegende Buch enthält.
Daß manche Geistliche den Bauern recht geben, wenn diese die Verkürzung der
Schulzeit fordern, ist noch kein Beweis weder für die Jndustriefeindlichkeit noch
für die reaktionäre Gesinnung; die Engländer haben sich immer über die unersätt¬
liche Schulmeisterei der Deutschen lustig gemacht und unter, auch nachdem sie
den alten Schlendrian aufgegeben und das preußische Schulwesen einigermaßen
nachgeahmt haben, weder den Volksschülern noch den Gymnasiasten ein so an¬
haltendes Höcker in der Schulstube zu wie wir Deutschen, die Deutschösterreicher
nicht ausgenommen. Es ist ganz unbegreiflich, wie angesichts der englischen
Geschichte immer noch so übertriebne Vorstellungen von der Bedeutung der Schule
für die Industrie verbreitet werden können. In der Zeit, da Englands Industrie
ihr Monopol auf dem Weltmarkt eroberte, waren fast alle englischen Fabrik¬
arbeiter Analphabeten und viele von ihnen so unwissend, daß sie den Namen
ihrer Königin nicht kannten. Was die industrielle Macht von England, Deutsch¬
land, Nordamerika und Belgien begründet hat, das war nicht die ausgezeichnete
Schulbildung (Volksschulen waren in England so gut wie nicht vorhanden, die
Gymnasien trieben mehr Sport als Wissenschaft und von Wissenschaften fast nichts
als die alten Sprachen, die Universitäten aber waren nach Adam Smiths Be¬
schreibung die jämmerlichsten der Welt; und in Belgien, um dessen Volksschulen
es noch heute schlecht bestellt sein soll, regieren seit zwanzig Jahren die Kleri¬
kalen), sondern der Reichtum an Kohle und Eisen. Ob es Österreich darin mit
seinen Konkurrenten aufnehmen kann, davon, nicht von seinen Schulen hängt
die Entwicklung seiner Großindustrie ab. Allerdings haben sich seit einigen
Jahrzehnten die Verhältnisse geändert. Die Industrie bedarf guter technischer
Schulen, und die meisten Industrien können keine so stumpfsinnigen Arbeiter
mehr brauchen, wie den englischen bis vor fünfzig Jahren genügten. Sollte
der Klerus so töricht sein, die Entwicklung des technischen Schulwesens hemmen
Zu wollen oder das Niveau der Volksschule herabzudrücken, so müßte er aller¬
dings unschädlich gemacht werden. Aber der Grundsatz Carneris, den sich
Charmatz aneignet, ist falsch: „daß kein Staat die konfessionelle Schule zulassen
könne, der nicht für alle Zukunft dem Fortschritte sich verschließen und auf
seinen eigentlichen Zweck nicht verzichten will." Preußen hat nie eine andre
als die konfessionelle Schule gehabt, und in England sind bis zum Erlaß des
vorjährigen Schulgesetzes die meisten Schulen Kirchenschulen gewesen. Gerade
daß Österreich im Jahre 1869 die Konfessionsschule abgeschafft hat, die sich


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[0633] Österreichischer Neuliberalismus der Witwer der verstorbnen Frau Schwester nicht heiraten durfte, die sich so oft als aufopfernde Pflegemutter seiner Kinder erweist, hat den englischen Export nicht im mindesten geschädigt. Was aber die Schulen betrifft, so ist allerdings die Konnivenz der Staatsbehörden gegen klerikale Übergriffe (die Charmatz gar nicht einmal erwähnt, wie die Nötigung von Gymnasiasten zu häusigen Beichten, zu geistlichen Exerzitien) durchaus verwerflich, aber ob der Klerus grundsätzlich bildungsfeindlich ist, dafür wird der Liberalismus, wenn er Erfolg haben will, überzeugendere Beweise beibringen müssen, als sie das vorliegende Buch enthält. Daß manche Geistliche den Bauern recht geben, wenn diese die Verkürzung der Schulzeit fordern, ist noch kein Beweis weder für die Jndustriefeindlichkeit noch für die reaktionäre Gesinnung; die Engländer haben sich immer über die unersätt¬ liche Schulmeisterei der Deutschen lustig gemacht und unter, auch nachdem sie den alten Schlendrian aufgegeben und das preußische Schulwesen einigermaßen nachgeahmt haben, weder den Volksschülern noch den Gymnasiasten ein so an¬ haltendes Höcker in der Schulstube zu wie wir Deutschen, die Deutschösterreicher nicht ausgenommen. Es ist ganz unbegreiflich, wie angesichts der englischen Geschichte immer noch so übertriebne Vorstellungen von der Bedeutung der Schule für die Industrie verbreitet werden können. In der Zeit, da Englands Industrie ihr Monopol auf dem Weltmarkt eroberte, waren fast alle englischen Fabrik¬ arbeiter Analphabeten und viele von ihnen so unwissend, daß sie den Namen ihrer Königin nicht kannten. Was die industrielle Macht von England, Deutsch¬ land, Nordamerika und Belgien begründet hat, das war nicht die ausgezeichnete Schulbildung (Volksschulen waren in England so gut wie nicht vorhanden, die Gymnasien trieben mehr Sport als Wissenschaft und von Wissenschaften fast nichts als die alten Sprachen, die Universitäten aber waren nach Adam Smiths Be¬ schreibung die jämmerlichsten der Welt; und in Belgien, um dessen Volksschulen es noch heute schlecht bestellt sein soll, regieren seit zwanzig Jahren die Kleri¬ kalen), sondern der Reichtum an Kohle und Eisen. Ob es Österreich darin mit seinen Konkurrenten aufnehmen kann, davon, nicht von seinen Schulen hängt die Entwicklung seiner Großindustrie ab. Allerdings haben sich seit einigen Jahrzehnten die Verhältnisse geändert. Die Industrie bedarf guter technischer Schulen, und die meisten Industrien können keine so stumpfsinnigen Arbeiter mehr brauchen, wie den englischen bis vor fünfzig Jahren genügten. Sollte der Klerus so töricht sein, die Entwicklung des technischen Schulwesens hemmen Zu wollen oder das Niveau der Volksschule herabzudrücken, so müßte er aller¬ dings unschädlich gemacht werden. Aber der Grundsatz Carneris, den sich Charmatz aneignet, ist falsch: „daß kein Staat die konfessionelle Schule zulassen könne, der nicht für alle Zukunft dem Fortschritte sich verschließen und auf seinen eigentlichen Zweck nicht verzichten will." Preußen hat nie eine andre als die konfessionelle Schule gehabt, und in England sind bis zum Erlaß des vorjährigen Schulgesetzes die meisten Schulen Kirchenschulen gewesen. Gerade daß Österreich im Jahre 1869 die Konfessionsschule abgeschafft hat, die sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/633>, abgerufen am 29.06.2024.