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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Adolf Stern

erschienenen Aufsatz "Drei Revolutionen in der deutschen Literatur" (jetzt:
Studien zur Literatur der Gegenwart. Neue Folge, 1904) so glänzend wie
selten die Fülle seiner Kenntnisse und Erkenntnisse zusammengefaßt und damit
wieder einmal die Weite seines Blicks erwiesen. Die vergleichende Betrachtung
der Romantik, des jungen Deutschlands und des jüngsten Deutschlands gehört
psychologisch und historisch zum Besten und Lehrreichsten, was die nun hinter
uns liegenden stürmischen Jahre gebracht haben, ja sie ist so etwas wie ein
Abschluß, den der Verehrer von Tiecks Novellen, der Freund Hebbels, der
Biograph Ludwigs, der Verfasser des Ausrufs für Bayreuth noch im Rückblick
auf ein wunderbar reiches Miterleben sehen und festhalten durfte.

Es braucht danach nicht erst betont zu werden, daß die hervorragendsten
und wertvollsten unter den Studien die sind, die jenen in den fünfziger und
sechziger Jahren vornehmlich hervorgetretnen Poeten gelten. Theodor Storm,
Gottfried Keller werden zum Beispiel in allseitiger Betrachtung und doch mit
scharfer Charakteristik erfaßt. "Storm hat der Natur tiefer ins Auge geblickt
als diejenigen, die sich einbilden, jedes Augenlid der ewigen Mutter durch die
Lupe gesehen zu haben." Daß Stern bei Fontane, dessen Bedeutung er lange
vor der Kritik der achtziger Jahre erkannte und verfocht, in den Ruhm gerade
auch der Spätwerke des Meisters nicht so voll einstimmen kann wie wir
Jüngern, überrascht nicht. Aber jeder wird die Feinheit einer Bemerkung be¬
wundern müssen, wie diese (bei Fontanes "Quitt"): "Es ist, als ob Fontane
über Dinge, die nur in der Phantasie gebildet werden können, wie über einen
heißen Boden hinwegeilt." Die Studien werden sehr lange lebendig sein, der
künftige Literarhistoriker wird sie nicht entbehren können, und den Verehrer
Sterns wird es immer wieder mit Befriedigung erfüllen, wenn er sieht, wie
viele von den Poeten Stern unbeirrt durch Tagesmeinungen früh nach ihrer
wahren Bedeutung erkannt hat, die erst in den letzten Jahren recht in die
Weite drangen, ja noch heute immer wieder emporgehoben werden müssen. Ich
denke zum Beispiel auch an den in Norddeutschland noch lange nicht genug
bekannten Ferdinand v. Saar. Persönliche Klänge und so etwas wie eine ganz
eigne Verwahrung gegenüber Mißgunst und Verkennung aber tönen für mich,
wie ich es schon sagte, am deutlichsten aus dem großen Aufsatz über Paul
Heyse, dessen schwer im ganzen übersehbares Wirken Stern aus dem Grunde
kennt und beherrscht. Es wird noch sehr oft nötig sein, sich in dem immer
noch schwankenden Urteil über Heyse Sterns besonnene und doch warme Kritik
vor Augen zu halten, bei der dann für den Kenner von Sterns Dichtungen
immer die leise Apologie des Verfassers selbst mitschwingen darf.

Adolf Stern war niemals an einer Universität tätig und hat somit in
den neunundzwanzig Jahren seiner Wirksamkeit an der Technischen Hochschule
zu Dresden Schüler, wie sie Kolleg und Seminar dem Universitätsprofessor
seines Fachs zuführen, nicht gewinnen können. Er war auch nach dem Zeug¬
nisse eines jungen Freundes nicht die Natur, die Schule zu machen vermochte.


Adolf Stern

erschienenen Aufsatz „Drei Revolutionen in der deutschen Literatur" (jetzt:
Studien zur Literatur der Gegenwart. Neue Folge, 1904) so glänzend wie
selten die Fülle seiner Kenntnisse und Erkenntnisse zusammengefaßt und damit
wieder einmal die Weite seines Blicks erwiesen. Die vergleichende Betrachtung
der Romantik, des jungen Deutschlands und des jüngsten Deutschlands gehört
psychologisch und historisch zum Besten und Lehrreichsten, was die nun hinter
uns liegenden stürmischen Jahre gebracht haben, ja sie ist so etwas wie ein
Abschluß, den der Verehrer von Tiecks Novellen, der Freund Hebbels, der
Biograph Ludwigs, der Verfasser des Ausrufs für Bayreuth noch im Rückblick
auf ein wunderbar reiches Miterleben sehen und festhalten durfte.

Es braucht danach nicht erst betont zu werden, daß die hervorragendsten
und wertvollsten unter den Studien die sind, die jenen in den fünfziger und
sechziger Jahren vornehmlich hervorgetretnen Poeten gelten. Theodor Storm,
Gottfried Keller werden zum Beispiel in allseitiger Betrachtung und doch mit
scharfer Charakteristik erfaßt. „Storm hat der Natur tiefer ins Auge geblickt
als diejenigen, die sich einbilden, jedes Augenlid der ewigen Mutter durch die
Lupe gesehen zu haben." Daß Stern bei Fontane, dessen Bedeutung er lange
vor der Kritik der achtziger Jahre erkannte und verfocht, in den Ruhm gerade
auch der Spätwerke des Meisters nicht so voll einstimmen kann wie wir
Jüngern, überrascht nicht. Aber jeder wird die Feinheit einer Bemerkung be¬
wundern müssen, wie diese (bei Fontanes „Quitt"): „Es ist, als ob Fontane
über Dinge, die nur in der Phantasie gebildet werden können, wie über einen
heißen Boden hinwegeilt." Die Studien werden sehr lange lebendig sein, der
künftige Literarhistoriker wird sie nicht entbehren können, und den Verehrer
Sterns wird es immer wieder mit Befriedigung erfüllen, wenn er sieht, wie
viele von den Poeten Stern unbeirrt durch Tagesmeinungen früh nach ihrer
wahren Bedeutung erkannt hat, die erst in den letzten Jahren recht in die
Weite drangen, ja noch heute immer wieder emporgehoben werden müssen. Ich
denke zum Beispiel auch an den in Norddeutschland noch lange nicht genug
bekannten Ferdinand v. Saar. Persönliche Klänge und so etwas wie eine ganz
eigne Verwahrung gegenüber Mißgunst und Verkennung aber tönen für mich,
wie ich es schon sagte, am deutlichsten aus dem großen Aufsatz über Paul
Heyse, dessen schwer im ganzen übersehbares Wirken Stern aus dem Grunde
kennt und beherrscht. Es wird noch sehr oft nötig sein, sich in dem immer
noch schwankenden Urteil über Heyse Sterns besonnene und doch warme Kritik
vor Augen zu halten, bei der dann für den Kenner von Sterns Dichtungen
immer die leise Apologie des Verfassers selbst mitschwingen darf.

Adolf Stern war niemals an einer Universität tätig und hat somit in
den neunundzwanzig Jahren seiner Wirksamkeit an der Technischen Hochschule
zu Dresden Schüler, wie sie Kolleg und Seminar dem Universitätsprofessor
seines Fachs zuführen, nicht gewinnen können. Er war auch nach dem Zeug¬
nisse eines jungen Freundes nicht die Natur, die Schule zu machen vermochte.


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[0584] Adolf Stern erschienenen Aufsatz „Drei Revolutionen in der deutschen Literatur" (jetzt: Studien zur Literatur der Gegenwart. Neue Folge, 1904) so glänzend wie selten die Fülle seiner Kenntnisse und Erkenntnisse zusammengefaßt und damit wieder einmal die Weite seines Blicks erwiesen. Die vergleichende Betrachtung der Romantik, des jungen Deutschlands und des jüngsten Deutschlands gehört psychologisch und historisch zum Besten und Lehrreichsten, was die nun hinter uns liegenden stürmischen Jahre gebracht haben, ja sie ist so etwas wie ein Abschluß, den der Verehrer von Tiecks Novellen, der Freund Hebbels, der Biograph Ludwigs, der Verfasser des Ausrufs für Bayreuth noch im Rückblick auf ein wunderbar reiches Miterleben sehen und festhalten durfte. Es braucht danach nicht erst betont zu werden, daß die hervorragendsten und wertvollsten unter den Studien die sind, die jenen in den fünfziger und sechziger Jahren vornehmlich hervorgetretnen Poeten gelten. Theodor Storm, Gottfried Keller werden zum Beispiel in allseitiger Betrachtung und doch mit scharfer Charakteristik erfaßt. „Storm hat der Natur tiefer ins Auge geblickt als diejenigen, die sich einbilden, jedes Augenlid der ewigen Mutter durch die Lupe gesehen zu haben." Daß Stern bei Fontane, dessen Bedeutung er lange vor der Kritik der achtziger Jahre erkannte und verfocht, in den Ruhm gerade auch der Spätwerke des Meisters nicht so voll einstimmen kann wie wir Jüngern, überrascht nicht. Aber jeder wird die Feinheit einer Bemerkung be¬ wundern müssen, wie diese (bei Fontanes „Quitt"): „Es ist, als ob Fontane über Dinge, die nur in der Phantasie gebildet werden können, wie über einen heißen Boden hinwegeilt." Die Studien werden sehr lange lebendig sein, der künftige Literarhistoriker wird sie nicht entbehren können, und den Verehrer Sterns wird es immer wieder mit Befriedigung erfüllen, wenn er sieht, wie viele von den Poeten Stern unbeirrt durch Tagesmeinungen früh nach ihrer wahren Bedeutung erkannt hat, die erst in den letzten Jahren recht in die Weite drangen, ja noch heute immer wieder emporgehoben werden müssen. Ich denke zum Beispiel auch an den in Norddeutschland noch lange nicht genug bekannten Ferdinand v. Saar. Persönliche Klänge und so etwas wie eine ganz eigne Verwahrung gegenüber Mißgunst und Verkennung aber tönen für mich, wie ich es schon sagte, am deutlichsten aus dem großen Aufsatz über Paul Heyse, dessen schwer im ganzen übersehbares Wirken Stern aus dem Grunde kennt und beherrscht. Es wird noch sehr oft nötig sein, sich in dem immer noch schwankenden Urteil über Heyse Sterns besonnene und doch warme Kritik vor Augen zu halten, bei der dann für den Kenner von Sterns Dichtungen immer die leise Apologie des Verfassers selbst mitschwingen darf. Adolf Stern war niemals an einer Universität tätig und hat somit in den neunundzwanzig Jahren seiner Wirksamkeit an der Technischen Hochschule zu Dresden Schüler, wie sie Kolleg und Seminar dem Universitätsprofessor seines Fachs zuführen, nicht gewinnen können. Er war auch nach dem Zeug¬ nisse eines jungen Freundes nicht die Natur, die Schule zu machen vermochte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/584>, abgerufen am 29.06.2024.