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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Denn natürlich hätte eine Beseitigung der Vorschulen nur die Wirkung, daß
die zahlreichere Unterschicht ihrer Schüler allerdings, zu ihrem Schaden, in
die Volksschule zurückkehrte, für eine ansehnliche Minderheit aber, und zwar
keineswegs von Minderwertigen, Privatschulen gegründet würden, wie sie jetzt
schon in den großen Städten neben den offiziellen Vorschulen existieren. Das
wäre also erst recht antisoziale Schulpolitik, und der vermeintliche soziale
Effekt wäre in sein Gegenteil verkehrt.

4. Auch die Kunst pocht an die Pforte unsrer Schule, ein edler Gast
fürwahr, der die Herzen gewinnt; und so möchte man den Empfang, den ihm
neuerdings unsre Schulhäuser in Württemberg gewähren, in denen beim
Eintritt aus allen Wänden und Ecken die Warnung entgegenleuchtet: "Nicht
ausspucken", womit die Hygiene der Kunst eine kräftige Ohrfeige versetzt, diesen
möchte man etwas geschmackvoller und freundlicher gestaltet wissen. Und ihrer
Grundlage, dem Zeichenunterricht, könnte man wohl, auch um den Preis des
Verzichts auf andres, eine geräumigere Wohnung in unserm Hause wünschen.
Aber auch ihre Gönner lassen gar oft den besonnenen Überblick über das Ganze
vermissen. Und vor allem: gerecht sind sie nicht. Die Kunst, die uns doch am
nächsten steht, die Poesie, nimmt einen recht breiten Raum ein in unserm
Unterricht, die vaterländische wie die antike; auch für die andrer moderner
Kulturvölker fällt nicht ganz weniges ab. Daß die Behandlung im einzelnen
oft fehlgreift, mag sein. Das liegt in der UnVollkommenheit des Persönlichen,
wie sie überall vorkommt, und man sollte davon nicht so viel Aufhebens
machen oder es gar dem "System" zuschreiben. Auch kann man wirklich über
manches verschiedner Ansicht sein, und dem Terrorismus der Parteipresse,
auch dem des Kunstworts bei all seinen Verdiensten, unterwerfen wir uns nicht.
Ferner erfreut sich die Musik, zwar zumeist in halb privater Form, doch mit
Unterstützung der Schule einer wachsenden Pflege bei unsrer Jugend. Es bleibt
die wichtige, aber schwierige bildende Kunst. Die Wege, auf denen sie der
Schule näher gebracht werden soll, sind noch nicht geklärt, viel weniger geebnet.
Einige grundsätzliche Einschränkungen aber müssen doch von vornherein fest¬
gestellt werden. Die Anschauung ist zu pflegen, gewiß! Viel mehr als noch
vor zehn Jahren geschieht es jetzt schon. Ja es fragt sich bereits, ob die
Grenze nicht erreicht oder gar überschritten ist. Die buchhändlerische, schrift¬
stellerische, künstlerische Betriebsamkeit überschüttet uns mit einer Fülle von
teilweise recht gutem, nur nicht gehörig gesichtetem Material, das wir nicht
mehr verarbeiten, kaum mehr übersehn können, und nicht alles ist Luckenbach,
der übrigens die Grenze dessen, was wir verarbeiten können, auch schon zu
überschreiten beginnt. Unsre Wände hängen meist voll; der Unterricht aber
soll sich doch nicht auflösen in Bilderanschauen, das leicht zur Oberflächlichkeit
führt, noch auch in Bildererklären, das recht viel Zeit kostet und nicht jeder¬
manns Geschmack und Geschick entspricht. Und endlich, was mir die Hauptsache
ist: die Anschauung in allen Ehren, aber das höchste Ziel unsers Unterrichts


Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Denn natürlich hätte eine Beseitigung der Vorschulen nur die Wirkung, daß
die zahlreichere Unterschicht ihrer Schüler allerdings, zu ihrem Schaden, in
die Volksschule zurückkehrte, für eine ansehnliche Minderheit aber, und zwar
keineswegs von Minderwertigen, Privatschulen gegründet würden, wie sie jetzt
schon in den großen Städten neben den offiziellen Vorschulen existieren. Das
wäre also erst recht antisoziale Schulpolitik, und der vermeintliche soziale
Effekt wäre in sein Gegenteil verkehrt.

4. Auch die Kunst pocht an die Pforte unsrer Schule, ein edler Gast
fürwahr, der die Herzen gewinnt; und so möchte man den Empfang, den ihm
neuerdings unsre Schulhäuser in Württemberg gewähren, in denen beim
Eintritt aus allen Wänden und Ecken die Warnung entgegenleuchtet: „Nicht
ausspucken", womit die Hygiene der Kunst eine kräftige Ohrfeige versetzt, diesen
möchte man etwas geschmackvoller und freundlicher gestaltet wissen. Und ihrer
Grundlage, dem Zeichenunterricht, könnte man wohl, auch um den Preis des
Verzichts auf andres, eine geräumigere Wohnung in unserm Hause wünschen.
Aber auch ihre Gönner lassen gar oft den besonnenen Überblick über das Ganze
vermissen. Und vor allem: gerecht sind sie nicht. Die Kunst, die uns doch am
nächsten steht, die Poesie, nimmt einen recht breiten Raum ein in unserm
Unterricht, die vaterländische wie die antike; auch für die andrer moderner
Kulturvölker fällt nicht ganz weniges ab. Daß die Behandlung im einzelnen
oft fehlgreift, mag sein. Das liegt in der UnVollkommenheit des Persönlichen,
wie sie überall vorkommt, und man sollte davon nicht so viel Aufhebens
machen oder es gar dem „System" zuschreiben. Auch kann man wirklich über
manches verschiedner Ansicht sein, und dem Terrorismus der Parteipresse,
auch dem des Kunstworts bei all seinen Verdiensten, unterwerfen wir uns nicht.
Ferner erfreut sich die Musik, zwar zumeist in halb privater Form, doch mit
Unterstützung der Schule einer wachsenden Pflege bei unsrer Jugend. Es bleibt
die wichtige, aber schwierige bildende Kunst. Die Wege, auf denen sie der
Schule näher gebracht werden soll, sind noch nicht geklärt, viel weniger geebnet.
Einige grundsätzliche Einschränkungen aber müssen doch von vornherein fest¬
gestellt werden. Die Anschauung ist zu pflegen, gewiß! Viel mehr als noch
vor zehn Jahren geschieht es jetzt schon. Ja es fragt sich bereits, ob die
Grenze nicht erreicht oder gar überschritten ist. Die buchhändlerische, schrift¬
stellerische, künstlerische Betriebsamkeit überschüttet uns mit einer Fülle von
teilweise recht gutem, nur nicht gehörig gesichtetem Material, das wir nicht
mehr verarbeiten, kaum mehr übersehn können, und nicht alles ist Luckenbach,
der übrigens die Grenze dessen, was wir verarbeiten können, auch schon zu
überschreiten beginnt. Unsre Wände hängen meist voll; der Unterricht aber
soll sich doch nicht auflösen in Bilderanschauen, das leicht zur Oberflächlichkeit
führt, noch auch in Bildererklären, das recht viel Zeit kostet und nicht jeder¬
manns Geschmack und Geschick entspricht. Und endlich, was mir die Hauptsache
ist: die Anschauung in allen Ehren, aber das höchste Ziel unsers Unterrichts


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[0576] Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung Denn natürlich hätte eine Beseitigung der Vorschulen nur die Wirkung, daß die zahlreichere Unterschicht ihrer Schüler allerdings, zu ihrem Schaden, in die Volksschule zurückkehrte, für eine ansehnliche Minderheit aber, und zwar keineswegs von Minderwertigen, Privatschulen gegründet würden, wie sie jetzt schon in den großen Städten neben den offiziellen Vorschulen existieren. Das wäre also erst recht antisoziale Schulpolitik, und der vermeintliche soziale Effekt wäre in sein Gegenteil verkehrt. 4. Auch die Kunst pocht an die Pforte unsrer Schule, ein edler Gast fürwahr, der die Herzen gewinnt; und so möchte man den Empfang, den ihm neuerdings unsre Schulhäuser in Württemberg gewähren, in denen beim Eintritt aus allen Wänden und Ecken die Warnung entgegenleuchtet: „Nicht ausspucken", womit die Hygiene der Kunst eine kräftige Ohrfeige versetzt, diesen möchte man etwas geschmackvoller und freundlicher gestaltet wissen. Und ihrer Grundlage, dem Zeichenunterricht, könnte man wohl, auch um den Preis des Verzichts auf andres, eine geräumigere Wohnung in unserm Hause wünschen. Aber auch ihre Gönner lassen gar oft den besonnenen Überblick über das Ganze vermissen. Und vor allem: gerecht sind sie nicht. Die Kunst, die uns doch am nächsten steht, die Poesie, nimmt einen recht breiten Raum ein in unserm Unterricht, die vaterländische wie die antike; auch für die andrer moderner Kulturvölker fällt nicht ganz weniges ab. Daß die Behandlung im einzelnen oft fehlgreift, mag sein. Das liegt in der UnVollkommenheit des Persönlichen, wie sie überall vorkommt, und man sollte davon nicht so viel Aufhebens machen oder es gar dem „System" zuschreiben. Auch kann man wirklich über manches verschiedner Ansicht sein, und dem Terrorismus der Parteipresse, auch dem des Kunstworts bei all seinen Verdiensten, unterwerfen wir uns nicht. Ferner erfreut sich die Musik, zwar zumeist in halb privater Form, doch mit Unterstützung der Schule einer wachsenden Pflege bei unsrer Jugend. Es bleibt die wichtige, aber schwierige bildende Kunst. Die Wege, auf denen sie der Schule näher gebracht werden soll, sind noch nicht geklärt, viel weniger geebnet. Einige grundsätzliche Einschränkungen aber müssen doch von vornherein fest¬ gestellt werden. Die Anschauung ist zu pflegen, gewiß! Viel mehr als noch vor zehn Jahren geschieht es jetzt schon. Ja es fragt sich bereits, ob die Grenze nicht erreicht oder gar überschritten ist. Die buchhändlerische, schrift¬ stellerische, künstlerische Betriebsamkeit überschüttet uns mit einer Fülle von teilweise recht gutem, nur nicht gehörig gesichtetem Material, das wir nicht mehr verarbeiten, kaum mehr übersehn können, und nicht alles ist Luckenbach, der übrigens die Grenze dessen, was wir verarbeiten können, auch schon zu überschreiten beginnt. Unsre Wände hängen meist voll; der Unterricht aber soll sich doch nicht auflösen in Bilderanschauen, das leicht zur Oberflächlichkeit führt, noch auch in Bildererklären, das recht viel Zeit kostet und nicht jeder¬ manns Geschmack und Geschick entspricht. Und endlich, was mir die Hauptsache ist: die Anschauung in allen Ehren, aber das höchste Ziel unsers Unterrichts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/576>, abgerufen am 01.10.2024.