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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

neben einer Zahl von rund 140 gänzlich arbeitsfreien Tagen im Jahre und
im Zusammenhang mit der stets wachsenden Zahl der Unterrichtsfächer mit
Notwendigkeit zur Oberflächlichkeit oder zur Dressur und erschwert dem Lehrer
eine tiefer greifende Anregung und Anleitung zu selbständigem Arbeiten ins¬
besondre bei den reifern Schülern. Das Drängen auf Beseitigung des Nach¬
mittagsunterrichts mag sich insbesondre in den großen Städten als eine Forderung
zwar nicht der Gesundheit, aber einer wünschenswerten Bequemlichkeit für Lehrer
und Schüler nahe legen, wobei jedoch wieder einmal die ewige Geltung des
Satzes r^s "Her^s es^cZr" Aeot ?r^o?r"^>otLeP e'A^xap hervorzuheben ist.
Jedenfalls: kann dieser Vorteil anstatt auf dem natürlichen Wege einer Ver¬
minderung der Lehrfächer nur auf dem künstlichen Wege der sogenannten
hygienischen Stunde, die keine Stunde ist, gewonnen werden, so ist hiergegen
der allerentschiedenste Einspruch zu erheben. Daß man in vierzig oder auch
fünfzig Minuten -- man hat übrigens, nach dem man einmal die schiefe Ebne
betreten hat, auch schon von zwanzigen geredet -- soviel zuwege bringt wie
in sechzig, oder daß die Schüler, schon in der zweiten halben Stunde er¬
lahmen -- gegen diese sonderbaren Behauptungen sind wir doch so frei, unsre
eigne Erfahrung, als Schüler wie als Lehrer, ins Feld zu führen, die neben
der Meinung der Ärzte ihr gutes Recht hat. Ist denn der Wille nicht auch
ein Faktor in der Erziehung? Die Berufung auf die günstigen Erfahrungen,
die man mit der Verkürzung der Arbeitszeit bei den Industriearbeitern gemacht
habe, ist als völlig unangebracht zurückzuweisen. Die verschiednen Ermüdnngs-
mesfungsmethoden aber, mit denen man schon die Sache auf eine exakte
Grundlage zu stellen suchte, müssen sich zuvor physiologisch, psychologisch und
pädagogisch -- also allseitig wissenschaftlich -- bewähren, ehe sie als praktisch
maßgebend anerkannt werden.

2. Man klagt uns weiter an, wir seien nicht national genug. Das sagt
man nicht bloß auf dem Deutschen Erziehungstage, über den ich schweigend
hinweggehn möchte, und nötigt uns dabei in demselben Atem den organisierten
Sport nach ausländischem und internationalem Muster als förmlichen und
allgemein verbindlichen Bestandteil des Unterrichts auf. Dem hierin liegenden
Vorwurf gegenüber genügt es, auf das granitene Zeugnis hinzuweisen, das vor
Jahren aus dem Sachsenwalde erschollen ist. Bismarck hatte doch auch einiges
Verständnis für die geistigen Kräfte, die die deutsche Einheit förderten oder
hemmten. Aber freilich -- der Mechanismus einer gewissen Resormpädngogik
mißt den Patriotismus der Erziehung nach der Zahl der Wochenstunden, in
denen er eingetrichtert wird, anstatt nach dem Geiste, von dem der ganze
Unterricht erfüllt ist. Wir aber wissen, daß das tendenziöse Zurschautragen
der Gefühle, gerade der edelsten und feinsten, die Empfänglichkeit abstumpft
oder gar abschreckt und gerade die Jugend zum Widerspruche reizt; "man
merkt die Absicht, und man wird verstimmt." Und so möchten wir die Übeln
Erfahrungen, die man landauf landab auf dem Gebiete des Religionsunterrichts


Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

neben einer Zahl von rund 140 gänzlich arbeitsfreien Tagen im Jahre und
im Zusammenhang mit der stets wachsenden Zahl der Unterrichtsfächer mit
Notwendigkeit zur Oberflächlichkeit oder zur Dressur und erschwert dem Lehrer
eine tiefer greifende Anregung und Anleitung zu selbständigem Arbeiten ins¬
besondre bei den reifern Schülern. Das Drängen auf Beseitigung des Nach¬
mittagsunterrichts mag sich insbesondre in den großen Städten als eine Forderung
zwar nicht der Gesundheit, aber einer wünschenswerten Bequemlichkeit für Lehrer
und Schüler nahe legen, wobei jedoch wieder einmal die ewige Geltung des
Satzes r^s «Her^s es^cZr« Aeot ?r^o?r«^>otLeP e'A^xap hervorzuheben ist.
Jedenfalls: kann dieser Vorteil anstatt auf dem natürlichen Wege einer Ver¬
minderung der Lehrfächer nur auf dem künstlichen Wege der sogenannten
hygienischen Stunde, die keine Stunde ist, gewonnen werden, so ist hiergegen
der allerentschiedenste Einspruch zu erheben. Daß man in vierzig oder auch
fünfzig Minuten — man hat übrigens, nach dem man einmal die schiefe Ebne
betreten hat, auch schon von zwanzigen geredet — soviel zuwege bringt wie
in sechzig, oder daß die Schüler, schon in der zweiten halben Stunde er¬
lahmen — gegen diese sonderbaren Behauptungen sind wir doch so frei, unsre
eigne Erfahrung, als Schüler wie als Lehrer, ins Feld zu führen, die neben
der Meinung der Ärzte ihr gutes Recht hat. Ist denn der Wille nicht auch
ein Faktor in der Erziehung? Die Berufung auf die günstigen Erfahrungen,
die man mit der Verkürzung der Arbeitszeit bei den Industriearbeitern gemacht
habe, ist als völlig unangebracht zurückzuweisen. Die verschiednen Ermüdnngs-
mesfungsmethoden aber, mit denen man schon die Sache auf eine exakte
Grundlage zu stellen suchte, müssen sich zuvor physiologisch, psychologisch und
pädagogisch — also allseitig wissenschaftlich — bewähren, ehe sie als praktisch
maßgebend anerkannt werden.

2. Man klagt uns weiter an, wir seien nicht national genug. Das sagt
man nicht bloß auf dem Deutschen Erziehungstage, über den ich schweigend
hinweggehn möchte, und nötigt uns dabei in demselben Atem den organisierten
Sport nach ausländischem und internationalem Muster als förmlichen und
allgemein verbindlichen Bestandteil des Unterrichts auf. Dem hierin liegenden
Vorwurf gegenüber genügt es, auf das granitene Zeugnis hinzuweisen, das vor
Jahren aus dem Sachsenwalde erschollen ist. Bismarck hatte doch auch einiges
Verständnis für die geistigen Kräfte, die die deutsche Einheit förderten oder
hemmten. Aber freilich — der Mechanismus einer gewissen Resormpädngogik
mißt den Patriotismus der Erziehung nach der Zahl der Wochenstunden, in
denen er eingetrichtert wird, anstatt nach dem Geiste, von dem der ganze
Unterricht erfüllt ist. Wir aber wissen, daß das tendenziöse Zurschautragen
der Gefühle, gerade der edelsten und feinsten, die Empfänglichkeit abstumpft
oder gar abschreckt und gerade die Jugend zum Widerspruche reizt; „man
merkt die Absicht, und man wird verstimmt." Und so möchten wir die Übeln
Erfahrungen, die man landauf landab auf dem Gebiete des Religionsunterrichts


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/574>, abgerufen am 23.07.2024.