Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Konvexspiegel entgegenschaut. Aus diesen verkehrten Grundlagen erwachsen
dann praktische Vorschläge, von denen mancher einzelne erwägenswert, vielleicht
auch einmal durchführbar ist, manche andrerseits freilich als monströs erscheinen,
alle zusammen aber einen solchen Rattenkönig von Neformschwanz geben, daß
auch der geistvollste, höchst gebildete, tatkräftigste Unterrichtsminister, wie es
deren kaum einen gibt, nimmermehr ein organisches Gebilde daraus zu gestalten
vermöchte, so aber, da er nun eben im Zeitalter des allgemeinen Stimmrechts
der angeblichen öffentlichen Meinung möglichst entgegenkommen möchte, vielleicht
ein echtes Stümperwerk zuwege bringt.

1. Wenn ich nun zu einigen Einzelfragen übergehe, so wende ich mich
zunächst zur Schulhygiene, wie das schöne Wort lautet, die man demnächst
als die organisierte Ausartung der auf die Pflege der Gesundheit in der
Schule gerichteten Bestrebungen wird bezeichnen können. Denn wirklich droht
sie mit ihren wachsenden Ansprüchen und dem internationalen Aplomb, mit dem
sie nunmehr auftritt, einer gediegnen Bildung von Geist und Charakter mehr
und mehr gefährlich zu werden. Das weils sema in eorvors sg.no ist gewiß
vollberechtigt; nur möge man die beiden ersten Worte dabei nicht ganz ver¬
gessen. Daß unsre Schuljugend quantitativ überlastet sei, das ist im großen
und ganzen einfach nicht wahr; es hats auch noch niemand bewiesen, denn
Ausnahmen, auch falls sie nicht ganz vereinzelt wären, beweisen nichts. Der
Augenschein aber lehrt den aufmerksamen Beobachter des Alltagslebens unsrer
Jugend nun seit bald vier Jahrzehnten in zunehmendem Maße, daß dem nicht
so ist, und daß sich die Wirkung bewußter oder unbewußter Suggestion auch
hier zu erkennen gibt. Die tragikomischen Schilderungen von dem Aussehn
unsrer Schulbuben, wie sie die hygienische Schulreformpresse ab und zu schon
gebracht hat, habe ich wiederholt meinen Schülern verschiedner Stufen vorgelesen;
schallendes, gesundes Gelächter war das Echo, das sie fanden. Rote Backen
sind etwas recht Erfreuliches, aber weder ein sicherer Gradmesser körperlichen
Gedeihens noch das hauptsächliche Ziel der Erziehung. Die Generation der
nunmehrigen alten Herren, die noch nach der frühern, anspruchsvollern, rauhern,
keineswegs in allen Dingen lobenswerten Schule gebildet worden ist, sie hat
ja doch die neue Zeit unsers Volks ganz wesentlich geschaffen. Wir sind uns
nicht bewußt, dabei als Krüppel oder Siechlinge vor der Welt und vor unserm
Volke gestanden zu sein. Und so betrachte ich die Berücksichtigung, die diese
schulhygienischen Bestrebungen bei den entscheidenden Instanzen gefunden haben,
schon jetzt als zu weitgehend. Der Schritt, durch den über das Maß des
bisherigen Schulturnens hinaus Sport und Athletentum zu einer Zwangs¬
einrichtung der Schule gemacht werden sollen und teilweise gemacht worden
sind, wobei dem rohen und fremdländischen Fußballspiele die Hauptrolle zufällt,
ist als bedenklich und verfehlt zu bezeichnen. Die Normierung der gesamten
der Schule zu widmenden Arbeitszeit auf rund dreißig bis vierzig Stunden
in der Woche je nach der Altersstufe führt schon an sich, insbesondre aber


Grenzboten IV 1907 74
Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Konvexspiegel entgegenschaut. Aus diesen verkehrten Grundlagen erwachsen
dann praktische Vorschläge, von denen mancher einzelne erwägenswert, vielleicht
auch einmal durchführbar ist, manche andrerseits freilich als monströs erscheinen,
alle zusammen aber einen solchen Rattenkönig von Neformschwanz geben, daß
auch der geistvollste, höchst gebildete, tatkräftigste Unterrichtsminister, wie es
deren kaum einen gibt, nimmermehr ein organisches Gebilde daraus zu gestalten
vermöchte, so aber, da er nun eben im Zeitalter des allgemeinen Stimmrechts
der angeblichen öffentlichen Meinung möglichst entgegenkommen möchte, vielleicht
ein echtes Stümperwerk zuwege bringt.

1. Wenn ich nun zu einigen Einzelfragen übergehe, so wende ich mich
zunächst zur Schulhygiene, wie das schöne Wort lautet, die man demnächst
als die organisierte Ausartung der auf die Pflege der Gesundheit in der
Schule gerichteten Bestrebungen wird bezeichnen können. Denn wirklich droht
sie mit ihren wachsenden Ansprüchen und dem internationalen Aplomb, mit dem
sie nunmehr auftritt, einer gediegnen Bildung von Geist und Charakter mehr
und mehr gefährlich zu werden. Das weils sema in eorvors sg.no ist gewiß
vollberechtigt; nur möge man die beiden ersten Worte dabei nicht ganz ver¬
gessen. Daß unsre Schuljugend quantitativ überlastet sei, das ist im großen
und ganzen einfach nicht wahr; es hats auch noch niemand bewiesen, denn
Ausnahmen, auch falls sie nicht ganz vereinzelt wären, beweisen nichts. Der
Augenschein aber lehrt den aufmerksamen Beobachter des Alltagslebens unsrer
Jugend nun seit bald vier Jahrzehnten in zunehmendem Maße, daß dem nicht
so ist, und daß sich die Wirkung bewußter oder unbewußter Suggestion auch
hier zu erkennen gibt. Die tragikomischen Schilderungen von dem Aussehn
unsrer Schulbuben, wie sie die hygienische Schulreformpresse ab und zu schon
gebracht hat, habe ich wiederholt meinen Schülern verschiedner Stufen vorgelesen;
schallendes, gesundes Gelächter war das Echo, das sie fanden. Rote Backen
sind etwas recht Erfreuliches, aber weder ein sicherer Gradmesser körperlichen
Gedeihens noch das hauptsächliche Ziel der Erziehung. Die Generation der
nunmehrigen alten Herren, die noch nach der frühern, anspruchsvollern, rauhern,
keineswegs in allen Dingen lobenswerten Schule gebildet worden ist, sie hat
ja doch die neue Zeit unsers Volks ganz wesentlich geschaffen. Wir sind uns
nicht bewußt, dabei als Krüppel oder Siechlinge vor der Welt und vor unserm
Volke gestanden zu sein. Und so betrachte ich die Berücksichtigung, die diese
schulhygienischen Bestrebungen bei den entscheidenden Instanzen gefunden haben,
schon jetzt als zu weitgehend. Der Schritt, durch den über das Maß des
bisherigen Schulturnens hinaus Sport und Athletentum zu einer Zwangs¬
einrichtung der Schule gemacht werden sollen und teilweise gemacht worden
sind, wobei dem rohen und fremdländischen Fußballspiele die Hauptrolle zufällt,
ist als bedenklich und verfehlt zu bezeichnen. Die Normierung der gesamten
der Schule zu widmenden Arbeitszeit auf rund dreißig bis vierzig Stunden
in der Woche je nach der Altersstufe führt schon an sich, insbesondre aber


Grenzboten IV 1907 74
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0573" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303989"/>
          <fw type="header" place="top"> Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2539" prev="#ID_2538"> Konvexspiegel entgegenschaut. Aus diesen verkehrten Grundlagen erwachsen<lb/>
dann praktische Vorschläge, von denen mancher einzelne erwägenswert, vielleicht<lb/>
auch einmal durchführbar ist, manche andrerseits freilich als monströs erscheinen,<lb/>
alle zusammen aber einen solchen Rattenkönig von Neformschwanz geben, daß<lb/>
auch der geistvollste, höchst gebildete, tatkräftigste Unterrichtsminister, wie es<lb/>
deren kaum einen gibt, nimmermehr ein organisches Gebilde daraus zu gestalten<lb/>
vermöchte, so aber, da er nun eben im Zeitalter des allgemeinen Stimmrechts<lb/>
der angeblichen öffentlichen Meinung möglichst entgegenkommen möchte, vielleicht<lb/>
ein echtes Stümperwerk zuwege bringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2540" next="#ID_2541"> 1. Wenn ich nun zu einigen Einzelfragen übergehe, so wende ich mich<lb/>
zunächst zur Schulhygiene, wie das schöne Wort lautet, die man demnächst<lb/>
als die organisierte Ausartung der auf die Pflege der Gesundheit in der<lb/>
Schule gerichteten Bestrebungen wird bezeichnen können. Denn wirklich droht<lb/>
sie mit ihren wachsenden Ansprüchen und dem internationalen Aplomb, mit dem<lb/>
sie nunmehr auftritt, einer gediegnen Bildung von Geist und Charakter mehr<lb/>
und mehr gefährlich zu werden. Das weils sema in eorvors sg.no ist gewiß<lb/>
vollberechtigt; nur möge man die beiden ersten Worte dabei nicht ganz ver¬<lb/>
gessen. Daß unsre Schuljugend quantitativ überlastet sei, das ist im großen<lb/>
und ganzen einfach nicht wahr; es hats auch noch niemand bewiesen, denn<lb/>
Ausnahmen, auch falls sie nicht ganz vereinzelt wären, beweisen nichts. Der<lb/>
Augenschein aber lehrt den aufmerksamen Beobachter des Alltagslebens unsrer<lb/>
Jugend nun seit bald vier Jahrzehnten in zunehmendem Maße, daß dem nicht<lb/>
so ist, und daß sich die Wirkung bewußter oder unbewußter Suggestion auch<lb/>
hier zu erkennen gibt. Die tragikomischen Schilderungen von dem Aussehn<lb/>
unsrer Schulbuben, wie sie die hygienische Schulreformpresse ab und zu schon<lb/>
gebracht hat, habe ich wiederholt meinen Schülern verschiedner Stufen vorgelesen;<lb/>
schallendes, gesundes Gelächter war das Echo, das sie fanden. Rote Backen<lb/>
sind etwas recht Erfreuliches, aber weder ein sicherer Gradmesser körperlichen<lb/>
Gedeihens noch das hauptsächliche Ziel der Erziehung. Die Generation der<lb/>
nunmehrigen alten Herren, die noch nach der frühern, anspruchsvollern, rauhern,<lb/>
keineswegs in allen Dingen lobenswerten Schule gebildet worden ist, sie hat<lb/>
ja doch die neue Zeit unsers Volks ganz wesentlich geschaffen. Wir sind uns<lb/>
nicht bewußt, dabei als Krüppel oder Siechlinge vor der Welt und vor unserm<lb/>
Volke gestanden zu sein. Und so betrachte ich die Berücksichtigung, die diese<lb/>
schulhygienischen Bestrebungen bei den entscheidenden Instanzen gefunden haben,<lb/>
schon jetzt als zu weitgehend. Der Schritt, durch den über das Maß des<lb/>
bisherigen Schulturnens hinaus Sport und Athletentum zu einer Zwangs¬<lb/>
einrichtung der Schule gemacht werden sollen und teilweise gemacht worden<lb/>
sind, wobei dem rohen und fremdländischen Fußballspiele die Hauptrolle zufällt,<lb/>
ist als bedenklich und verfehlt zu bezeichnen. Die Normierung der gesamten<lb/>
der Schule zu widmenden Arbeitszeit auf rund dreißig bis vierzig Stunden<lb/>
in der Woche je nach der Altersstufe führt schon an sich, insbesondre aber</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1907 74</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0573] Über die Linseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung Konvexspiegel entgegenschaut. Aus diesen verkehrten Grundlagen erwachsen dann praktische Vorschläge, von denen mancher einzelne erwägenswert, vielleicht auch einmal durchführbar ist, manche andrerseits freilich als monströs erscheinen, alle zusammen aber einen solchen Rattenkönig von Neformschwanz geben, daß auch der geistvollste, höchst gebildete, tatkräftigste Unterrichtsminister, wie es deren kaum einen gibt, nimmermehr ein organisches Gebilde daraus zu gestalten vermöchte, so aber, da er nun eben im Zeitalter des allgemeinen Stimmrechts der angeblichen öffentlichen Meinung möglichst entgegenkommen möchte, vielleicht ein echtes Stümperwerk zuwege bringt. 1. Wenn ich nun zu einigen Einzelfragen übergehe, so wende ich mich zunächst zur Schulhygiene, wie das schöne Wort lautet, die man demnächst als die organisierte Ausartung der auf die Pflege der Gesundheit in der Schule gerichteten Bestrebungen wird bezeichnen können. Denn wirklich droht sie mit ihren wachsenden Ansprüchen und dem internationalen Aplomb, mit dem sie nunmehr auftritt, einer gediegnen Bildung von Geist und Charakter mehr und mehr gefährlich zu werden. Das weils sema in eorvors sg.no ist gewiß vollberechtigt; nur möge man die beiden ersten Worte dabei nicht ganz ver¬ gessen. Daß unsre Schuljugend quantitativ überlastet sei, das ist im großen und ganzen einfach nicht wahr; es hats auch noch niemand bewiesen, denn Ausnahmen, auch falls sie nicht ganz vereinzelt wären, beweisen nichts. Der Augenschein aber lehrt den aufmerksamen Beobachter des Alltagslebens unsrer Jugend nun seit bald vier Jahrzehnten in zunehmendem Maße, daß dem nicht so ist, und daß sich die Wirkung bewußter oder unbewußter Suggestion auch hier zu erkennen gibt. Die tragikomischen Schilderungen von dem Aussehn unsrer Schulbuben, wie sie die hygienische Schulreformpresse ab und zu schon gebracht hat, habe ich wiederholt meinen Schülern verschiedner Stufen vorgelesen; schallendes, gesundes Gelächter war das Echo, das sie fanden. Rote Backen sind etwas recht Erfreuliches, aber weder ein sicherer Gradmesser körperlichen Gedeihens noch das hauptsächliche Ziel der Erziehung. Die Generation der nunmehrigen alten Herren, die noch nach der frühern, anspruchsvollern, rauhern, keineswegs in allen Dingen lobenswerten Schule gebildet worden ist, sie hat ja doch die neue Zeit unsers Volks ganz wesentlich geschaffen. Wir sind uns nicht bewußt, dabei als Krüppel oder Siechlinge vor der Welt und vor unserm Volke gestanden zu sein. Und so betrachte ich die Berücksichtigung, die diese schulhygienischen Bestrebungen bei den entscheidenden Instanzen gefunden haben, schon jetzt als zu weitgehend. Der Schritt, durch den über das Maß des bisherigen Schulturnens hinaus Sport und Athletentum zu einer Zwangs¬ einrichtung der Schule gemacht werden sollen und teilweise gemacht worden sind, wobei dem rohen und fremdländischen Fußballspiele die Hauptrolle zufällt, ist als bedenklich und verfehlt zu bezeichnen. Die Normierung der gesamten der Schule zu widmenden Arbeitszeit auf rund dreißig bis vierzig Stunden in der Woche je nach der Altersstufe führt schon an sich, insbesondre aber Grenzboten IV 1907 74

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/573
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/573>, abgerufen am 23.07.2024.