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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

Vom Standpunkte des Agitators aus betrachtet ist dieses Rüstzeug für
den Wahlrechtskampf freilich ganz geschickt ausgewählt. Zur Anpreisung einer
neuen Mode pflegt ja auch der Schneider als erstes mit ernster Miene zu ver¬
sichern, daß "man es jetzt allgemein so trage". Diese Spekulation auf den
Herdentrieb zeugt offenbar von einer tiefen Erkenntnis der menschlichen Natur.
Nicht unangenehm aufzufallen, wie der militärische terminus teonnivus lautet,
ist ja im gesellschaftlichen Leben für die Vielzuvielen das Ziel des Strebens,
und auch für den politischen Bildungsphilister ist es ein erhebendes Gefühl,
wenn er sich mit denselben politischen Errungenschaften ausstaffiert präsentieren
kann wie andre Leute. Wenn also im Reich und in andern deutschen Ländern
das allgemeine, gleiche, geheime, direkte Stimmrecht errungen, Preußen aber
bei dem Klassenwahlrecht stehn geblieben ist, so ist man eben leider unmodern.
Und nichts ist scheußlicher, als hören zu müssen: In Pasewalk, in Pasewalk
ist man noch nicht so weit. Darum auf in den Kampf, Torero!

In Wahrheit beweist es eine völlige Verkennung des Wesens des Bundes¬
staates, wenn man wegen der bloßen Tatsache, daß für die Abgeordneten¬
kammern andrer Staaten des Deutschen Reiches ein von dem preußischen ab¬
weichendes Wahlrecht gilt, Preußen die Ungleichung seiner Verfassung an die
der andern Gliedstaaten im Punkte des Wahlrechts glaubt ansinnen zu müssen.
Es ist schlechterdings unbestreitbar, was Professor Wilh. Hasbach kürzlich in
der "Zukunft" ausführte, daß "ebensowenig wie Massachussets Kalifornien vor¬
schreiben darf, wie es seine Japaner zu behandeln hat, und Zürich Uri, wie
es seine Verfassung einrichten soll, ebensowenig ein deutscher Staat verlangen
kann, daß ein andrer seine Verfassung annehme. Das wäre die Verneinung
der Idee des Bundesstaates."

Daß in andern deutschen Staaten ein andres Wahlrecht gilt, hat für die
Frage der Änderungsbedürftigkeit des preußischen nur insofern Bedeutung, als
das Nebeneinanderbestehn der nach verschiednen Wahlsystemen gebildeten Parla¬
mente die Beurteilung der praktischen Brauchbarkeit der verschiednen Wahlrechts¬
theorien durch vergleichendes Studium erleichtert. Ein überall und allezeit
einzig richtiges Wahlrecht existiert, wie eine allgemein giltige Jdealstaatsform,
nur in den Köpfen unhistorischer Schwärmer. Der politisch denkende Mensch
wuß sich mit der Relativität aller politischen Einrichtungen abfinden und ver¬
langt eine in andern Staaten oder zu andrer Zeit gut bewährte Institution
für sein Vaterland nur dann, wenn er sich überzeugt hat, daß die Voraus¬
setzungen, die dort die fragliche Einrichtung zu einem Segen haben aus¬
schlagen lassen, auch hier gegeben sind. Angenommen also, die süddeutschen
Staaten hätten mit dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl¬
recht gute Erfahrungen gemacht, so wäre daraus keineswegs mit Sicherheit
Zu folgern, daß sich der preußische Staat mit der Aufgabe seines bisherigen
ablehnenden Standpunkts gegenüber diesem Wahlrecht wirklich einen Dienst er¬
weisen würde.


Wahlrecht und Idealismus

Vom Standpunkte des Agitators aus betrachtet ist dieses Rüstzeug für
den Wahlrechtskampf freilich ganz geschickt ausgewählt. Zur Anpreisung einer
neuen Mode pflegt ja auch der Schneider als erstes mit ernster Miene zu ver¬
sichern, daß „man es jetzt allgemein so trage". Diese Spekulation auf den
Herdentrieb zeugt offenbar von einer tiefen Erkenntnis der menschlichen Natur.
Nicht unangenehm aufzufallen, wie der militärische terminus teonnivus lautet,
ist ja im gesellschaftlichen Leben für die Vielzuvielen das Ziel des Strebens,
und auch für den politischen Bildungsphilister ist es ein erhebendes Gefühl,
wenn er sich mit denselben politischen Errungenschaften ausstaffiert präsentieren
kann wie andre Leute. Wenn also im Reich und in andern deutschen Ländern
das allgemeine, gleiche, geheime, direkte Stimmrecht errungen, Preußen aber
bei dem Klassenwahlrecht stehn geblieben ist, so ist man eben leider unmodern.
Und nichts ist scheußlicher, als hören zu müssen: In Pasewalk, in Pasewalk
ist man noch nicht so weit. Darum auf in den Kampf, Torero!

In Wahrheit beweist es eine völlige Verkennung des Wesens des Bundes¬
staates, wenn man wegen der bloßen Tatsache, daß für die Abgeordneten¬
kammern andrer Staaten des Deutschen Reiches ein von dem preußischen ab¬
weichendes Wahlrecht gilt, Preußen die Ungleichung seiner Verfassung an die
der andern Gliedstaaten im Punkte des Wahlrechts glaubt ansinnen zu müssen.
Es ist schlechterdings unbestreitbar, was Professor Wilh. Hasbach kürzlich in
der „Zukunft" ausführte, daß „ebensowenig wie Massachussets Kalifornien vor¬
schreiben darf, wie es seine Japaner zu behandeln hat, und Zürich Uri, wie
es seine Verfassung einrichten soll, ebensowenig ein deutscher Staat verlangen
kann, daß ein andrer seine Verfassung annehme. Das wäre die Verneinung
der Idee des Bundesstaates."

Daß in andern deutschen Staaten ein andres Wahlrecht gilt, hat für die
Frage der Änderungsbedürftigkeit des preußischen nur insofern Bedeutung, als
das Nebeneinanderbestehn der nach verschiednen Wahlsystemen gebildeten Parla¬
mente die Beurteilung der praktischen Brauchbarkeit der verschiednen Wahlrechts¬
theorien durch vergleichendes Studium erleichtert. Ein überall und allezeit
einzig richtiges Wahlrecht existiert, wie eine allgemein giltige Jdealstaatsform,
nur in den Köpfen unhistorischer Schwärmer. Der politisch denkende Mensch
wuß sich mit der Relativität aller politischen Einrichtungen abfinden und ver¬
langt eine in andern Staaten oder zu andrer Zeit gut bewährte Institution
für sein Vaterland nur dann, wenn er sich überzeugt hat, daß die Voraus¬
setzungen, die dort die fragliche Einrichtung zu einem Segen haben aus¬
schlagen lassen, auch hier gegeben sind. Angenommen also, die süddeutschen
Staaten hätten mit dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl¬
recht gute Erfahrungen gemacht, so wäre daraus keineswegs mit Sicherheit
Zu folgern, daß sich der preußische Staat mit der Aufgabe seines bisherigen
ablehnenden Standpunkts gegenüber diesem Wahlrecht wirklich einen Dienst er¬
weisen würde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/499>, abgerufen am 03.07.2024.