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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Wahlrecht und Idealismus

ßerman läsaliZin wohl verstehn kann. Oder ist es etwa eine Wesenseigen¬
tümlichkeit des Idealismus, große Worte darum, weil sie ungezählte male allem
Volke verkündet worden sind, ungeprüft als bare Münze weiterzugehen? Im
Gegenteil, der wahre Idealismus verbietet uns, andre für uns denken und
Schlagworte prägen zu lassen, die wir dann gedankenlos in Umlauf bringen
helfen, fordert vielmehr von uns, ehe wir für etwas eintreten, selbst zu prüfen,
ob es das Wahre, Gute und Schöne ist. Wie sagt Kai Jans: "Man muß
alle Behauptungen, die an einen herantreten, und wenn sie in der Bibel stehn,
ja wenn sie ein Wort des Heilands sind, mit Entdeckeraugen ansehen. . . .
Neulich warf der Lehrer wieder so einen schweren Satz aufs Pult. Er sagte,
es würde immer Kriege geben. Wie kann man sagen: immer, immer? Was
wissen wir von immer? Das Wort hat der alte Moltke ihm gegeben, und
er hat es unbesehen angenommen, und wir bekommen es von ihm, und wir
geben es später unbesehen weiter. Was geht mich Moltke und seine Meinung
an? Was geht mich an, was der Kaiser oder Papst oder die Zeitung über
dies und das meinen und glauben? Wer auf andre Menschen hört, der hat
die Kokarde verloren und ist ein Mensch zweiten Grades. Das Leben ist eine
zu gefährliche, verantwortungsvolle und ernste Sache, um es zu erledigen, indem
man hinter andern Menschen herläuft."

Ich habe nicht die Überzeugung, daß die Wahlrechtsjournalisten, die in
den Hundstagen dieses Jahres sich so ungemein um die Druckerschwärze¬
fabrikation verdient gemacht haben, und die Parteitagsredner, die jetzt über das
preußische Dreiklassenwahlrecht als "die schlimmste politische Krankheit Deutsch¬
lands überhaupt" zu Gericht sitzen, vor den Augen Kai Jans' Gnade finden
würden. Daß die Zusammensetzung der Volksvertretung für die Gestaltung
der Geschicke des Staates nicht ganz bedeutungslos ist, das haben die letzten
Jahrzehnte wohl auch unpolitischen Gemütern gezeigt. Haben wir es doch
schaudernd selbst erlebt, in wie folgenschwerer Weise die im Reichstag herrschenden
Parteigruppierungen ihre parlamentarische Machtstellung ausgenutzt haben, wie,
um nur einiges zu erwähnen, die finanzielle Entwicklung des Reiches und die
deutsche Kolonialpolitik durch die Haltung des Reichstags beeinflußt worden
ist. Hiernach sollte man annehmen, daß das Verlangen nach einer Änderung
des preußischen Wahlrechts auf gewichtige Gründe gestützt, also die Unfähigkeit
der aus ihm hervorgehenden Volksvertretung zur Erfüllung ihrer Aufgaben
nachzuweisen und darzutun versucht würde, daß die Einführung des Reichstags¬
wahlrechts Preußen zu einer brauchbarem Volksvertretung verhelfen werde.
Was bekommt man aber außer den mit Lungenkraft hinausgeschmetterten Ver¬
dammungsurteilen über das preußische Wahlrecht zu hören? Im wesentlichen
nur zweierlei: daß Preußen nicht länger ein Wahlrecht beibehalten dürfe, das
mit dem im Reich und bei den süddeutschen Bundesbrüdern giltigen nicht über¬
einstimme, und daß das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht be¬
kanntlich das einzig richtige sei.


Wahlrecht und Idealismus

ßerman läsaliZin wohl verstehn kann. Oder ist es etwa eine Wesenseigen¬
tümlichkeit des Idealismus, große Worte darum, weil sie ungezählte male allem
Volke verkündet worden sind, ungeprüft als bare Münze weiterzugehen? Im
Gegenteil, der wahre Idealismus verbietet uns, andre für uns denken und
Schlagworte prägen zu lassen, die wir dann gedankenlos in Umlauf bringen
helfen, fordert vielmehr von uns, ehe wir für etwas eintreten, selbst zu prüfen,
ob es das Wahre, Gute und Schöne ist. Wie sagt Kai Jans: „Man muß
alle Behauptungen, die an einen herantreten, und wenn sie in der Bibel stehn,
ja wenn sie ein Wort des Heilands sind, mit Entdeckeraugen ansehen. . . .
Neulich warf der Lehrer wieder so einen schweren Satz aufs Pult. Er sagte,
es würde immer Kriege geben. Wie kann man sagen: immer, immer? Was
wissen wir von immer? Das Wort hat der alte Moltke ihm gegeben, und
er hat es unbesehen angenommen, und wir bekommen es von ihm, und wir
geben es später unbesehen weiter. Was geht mich Moltke und seine Meinung
an? Was geht mich an, was der Kaiser oder Papst oder die Zeitung über
dies und das meinen und glauben? Wer auf andre Menschen hört, der hat
die Kokarde verloren und ist ein Mensch zweiten Grades. Das Leben ist eine
zu gefährliche, verantwortungsvolle und ernste Sache, um es zu erledigen, indem
man hinter andern Menschen herläuft."

Ich habe nicht die Überzeugung, daß die Wahlrechtsjournalisten, die in
den Hundstagen dieses Jahres sich so ungemein um die Druckerschwärze¬
fabrikation verdient gemacht haben, und die Parteitagsredner, die jetzt über das
preußische Dreiklassenwahlrecht als „die schlimmste politische Krankheit Deutsch¬
lands überhaupt" zu Gericht sitzen, vor den Augen Kai Jans' Gnade finden
würden. Daß die Zusammensetzung der Volksvertretung für die Gestaltung
der Geschicke des Staates nicht ganz bedeutungslos ist, das haben die letzten
Jahrzehnte wohl auch unpolitischen Gemütern gezeigt. Haben wir es doch
schaudernd selbst erlebt, in wie folgenschwerer Weise die im Reichstag herrschenden
Parteigruppierungen ihre parlamentarische Machtstellung ausgenutzt haben, wie,
um nur einiges zu erwähnen, die finanzielle Entwicklung des Reiches und die
deutsche Kolonialpolitik durch die Haltung des Reichstags beeinflußt worden
ist. Hiernach sollte man annehmen, daß das Verlangen nach einer Änderung
des preußischen Wahlrechts auf gewichtige Gründe gestützt, also die Unfähigkeit
der aus ihm hervorgehenden Volksvertretung zur Erfüllung ihrer Aufgaben
nachzuweisen und darzutun versucht würde, daß die Einführung des Reichstags¬
wahlrechts Preußen zu einer brauchbarem Volksvertretung verhelfen werde.
Was bekommt man aber außer den mit Lungenkraft hinausgeschmetterten Ver¬
dammungsurteilen über das preußische Wahlrecht zu hören? Im wesentlichen
nur zweierlei: daß Preußen nicht länger ein Wahlrecht beibehalten dürfe, das
mit dem im Reich und bei den süddeutschen Bundesbrüdern giltigen nicht über¬
einstimme, und daß das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht be¬
kanntlich das einzig richtige sei.


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[0498] Wahlrecht und Idealismus ßerman läsaliZin wohl verstehn kann. Oder ist es etwa eine Wesenseigen¬ tümlichkeit des Idealismus, große Worte darum, weil sie ungezählte male allem Volke verkündet worden sind, ungeprüft als bare Münze weiterzugehen? Im Gegenteil, der wahre Idealismus verbietet uns, andre für uns denken und Schlagworte prägen zu lassen, die wir dann gedankenlos in Umlauf bringen helfen, fordert vielmehr von uns, ehe wir für etwas eintreten, selbst zu prüfen, ob es das Wahre, Gute und Schöne ist. Wie sagt Kai Jans: „Man muß alle Behauptungen, die an einen herantreten, und wenn sie in der Bibel stehn, ja wenn sie ein Wort des Heilands sind, mit Entdeckeraugen ansehen. . . . Neulich warf der Lehrer wieder so einen schweren Satz aufs Pult. Er sagte, es würde immer Kriege geben. Wie kann man sagen: immer, immer? Was wissen wir von immer? Das Wort hat der alte Moltke ihm gegeben, und er hat es unbesehen angenommen, und wir bekommen es von ihm, und wir geben es später unbesehen weiter. Was geht mich Moltke und seine Meinung an? Was geht mich an, was der Kaiser oder Papst oder die Zeitung über dies und das meinen und glauben? Wer auf andre Menschen hört, der hat die Kokarde verloren und ist ein Mensch zweiten Grades. Das Leben ist eine zu gefährliche, verantwortungsvolle und ernste Sache, um es zu erledigen, indem man hinter andern Menschen herläuft." Ich habe nicht die Überzeugung, daß die Wahlrechtsjournalisten, die in den Hundstagen dieses Jahres sich so ungemein um die Druckerschwärze¬ fabrikation verdient gemacht haben, und die Parteitagsredner, die jetzt über das preußische Dreiklassenwahlrecht als „die schlimmste politische Krankheit Deutsch¬ lands überhaupt" zu Gericht sitzen, vor den Augen Kai Jans' Gnade finden würden. Daß die Zusammensetzung der Volksvertretung für die Gestaltung der Geschicke des Staates nicht ganz bedeutungslos ist, das haben die letzten Jahrzehnte wohl auch unpolitischen Gemütern gezeigt. Haben wir es doch schaudernd selbst erlebt, in wie folgenschwerer Weise die im Reichstag herrschenden Parteigruppierungen ihre parlamentarische Machtstellung ausgenutzt haben, wie, um nur einiges zu erwähnen, die finanzielle Entwicklung des Reiches und die deutsche Kolonialpolitik durch die Haltung des Reichstags beeinflußt worden ist. Hiernach sollte man annehmen, daß das Verlangen nach einer Änderung des preußischen Wahlrechts auf gewichtige Gründe gestützt, also die Unfähigkeit der aus ihm hervorgehenden Volksvertretung zur Erfüllung ihrer Aufgaben nachzuweisen und darzutun versucht würde, daß die Einführung des Reichstags¬ wahlrechts Preußen zu einer brauchbarem Volksvertretung verhelfen werde. Was bekommt man aber außer den mit Lungenkraft hinausgeschmetterten Ver¬ dammungsurteilen über das preußische Wahlrecht zu hören? Im wesentlichen nur zweierlei: daß Preußen nicht länger ein Wahlrecht beibehalten dürfe, das mit dem im Reich und bei den süddeutschen Bundesbrüdern giltigen nicht über¬ einstimme, und daß das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht be¬ kanntlich das einzig richtige sei.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/498>, abgerufen am 01.07.2024.