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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Englands Vordringen in persien

Der Staatsbankrott ist also offen zugegeben. Soweit die finanziellen Schwierig¬
keiten, mit denen wir hier bis zur Gegenwart vorgegriffen haben.

Am 1. Januar wurde vom Großwesir dem Parlament feierlich ein Ver¬
fassungsentwurf überreicht. Danach besteht die Kammer aus 162 Mitgliedern,
deren Wahl nach sechs Stünden vorgenommen wird, der Senat aus 60 Mit¬
gliedern, von denen die Hälfte durch den Schah ernannt wird, während die
andre Hälfte aus den Wahlen hervorgeht. Alle Konzessionen für Handelsgesell¬
schaften, Straßen, Eisenbahnen und Staatsanleihen bedürfen der Zustimmung
des Parlaments. Das Verfassungsdekret war noch von dem Vater des jetzigen
Schäds auf dem Totenbett unterzeichnet worden.

Als Anfang Januar sein Sohn Ali Mirza den Thron bestieg, stand er
den widerstrebendsten Gewalten gegenüber, dem nach Freiheit dürstenden Parlament
auf der einen Seite, der mächtigen Hofpartei, den Gouverneuren, höhern Beamten
und einem Teil der Geistlichkeit, soweit er sich in guten Stellungen befand, auf
der andern. Das Parlament hatte seit den wenigen Monaten seines Bestehens
allmählich an Ansehn im Volke und moralischem Gewicht immer mehr gewonnen.
Sein Verhalten war trotz vieler Fehler ein unerwartet sachgemäßes. Die Ver¬
handlungen sollen einen würdevollen Verlauf nehmen, frei von Überschwenglich¬
keit und Phantastereien, und sich im großen und ganzen nur auf praktisch
Erreichbares erstrecken.

Einem solchen Gegner war ohne Geld und bedeutende Machtmittel nicht
beizukommen, und so begann der neue Herrscher seine Regierung damit, zwischen
den beiden Gewalten zu kavieren. Er machte dem Parlament nach langen
Kämpfen immer weitere Zugeständnisse wie Ministerverantwortlichkeit, Verpflichtung
der Minister, den Sitzungen beizuwohnen, Abstellung des Brotwuchers, aber er
führte sie uicht aus, und vor allem weigerte er sich, die Verfassung zu beschwören;
auf diese Weise wurden die Zugeständnisse wieder illusorisch und das Parlament
ebenfalls gelähmt. Inzwischen erhob überall im Lande die Revolution ihr
Haupt, aber ohne Einigkeit und festes Ziel. An den meisten Orten war es die
Parteinahme des Volks für das Parlament, an andern war es nur ein Auf¬
bäumen gegen verhaßte Beamte. So wurde im Februar in Täbris der Gouverneur
gefangen genommen. In Jesd richtete sich die Bewegung gegen Christen und
die Sekte der Parsis, in Jsfahcm wieder gegen den Gouverneur, der in der
Folge entlassen worden ist.

Im März wurde vou den Verhandlungen zwischen England und Nußland
mehr und mehr bekannt, und der Unwille des Volks wurde dadurch noch weiter
gesteigert. Die Verhältnisse forderten gebieterisch einen außergewöhnlichen Mann;
ein solcher war auch vorhanden, er lebte aber in der Verbannung, es war der
frühere Großwesir Atabey Azam. Er hatte diesen Posten schon unter dem
Großvater und dem Vater des Schäds bekleidet und war als sehr energisch und
befähigt bekannt, aber im Volke durch seine Teilnahme an der Korruption und
seine Mitwirkung an den russischen Anleihen auf das tiefste verhaßt, sodciß er


Englands Vordringen in persien

Der Staatsbankrott ist also offen zugegeben. Soweit die finanziellen Schwierig¬
keiten, mit denen wir hier bis zur Gegenwart vorgegriffen haben.

Am 1. Januar wurde vom Großwesir dem Parlament feierlich ein Ver¬
fassungsentwurf überreicht. Danach besteht die Kammer aus 162 Mitgliedern,
deren Wahl nach sechs Stünden vorgenommen wird, der Senat aus 60 Mit¬
gliedern, von denen die Hälfte durch den Schah ernannt wird, während die
andre Hälfte aus den Wahlen hervorgeht. Alle Konzessionen für Handelsgesell¬
schaften, Straßen, Eisenbahnen und Staatsanleihen bedürfen der Zustimmung
des Parlaments. Das Verfassungsdekret war noch von dem Vater des jetzigen
Schäds auf dem Totenbett unterzeichnet worden.

Als Anfang Januar sein Sohn Ali Mirza den Thron bestieg, stand er
den widerstrebendsten Gewalten gegenüber, dem nach Freiheit dürstenden Parlament
auf der einen Seite, der mächtigen Hofpartei, den Gouverneuren, höhern Beamten
und einem Teil der Geistlichkeit, soweit er sich in guten Stellungen befand, auf
der andern. Das Parlament hatte seit den wenigen Monaten seines Bestehens
allmählich an Ansehn im Volke und moralischem Gewicht immer mehr gewonnen.
Sein Verhalten war trotz vieler Fehler ein unerwartet sachgemäßes. Die Ver¬
handlungen sollen einen würdevollen Verlauf nehmen, frei von Überschwenglich¬
keit und Phantastereien, und sich im großen und ganzen nur auf praktisch
Erreichbares erstrecken.

Einem solchen Gegner war ohne Geld und bedeutende Machtmittel nicht
beizukommen, und so begann der neue Herrscher seine Regierung damit, zwischen
den beiden Gewalten zu kavieren. Er machte dem Parlament nach langen
Kämpfen immer weitere Zugeständnisse wie Ministerverantwortlichkeit, Verpflichtung
der Minister, den Sitzungen beizuwohnen, Abstellung des Brotwuchers, aber er
führte sie uicht aus, und vor allem weigerte er sich, die Verfassung zu beschwören;
auf diese Weise wurden die Zugeständnisse wieder illusorisch und das Parlament
ebenfalls gelähmt. Inzwischen erhob überall im Lande die Revolution ihr
Haupt, aber ohne Einigkeit und festes Ziel. An den meisten Orten war es die
Parteinahme des Volks für das Parlament, an andern war es nur ein Auf¬
bäumen gegen verhaßte Beamte. So wurde im Februar in Täbris der Gouverneur
gefangen genommen. In Jesd richtete sich die Bewegung gegen Christen und
die Sekte der Parsis, in Jsfahcm wieder gegen den Gouverneur, der in der
Folge entlassen worden ist.

Im März wurde vou den Verhandlungen zwischen England und Nußland
mehr und mehr bekannt, und der Unwille des Volks wurde dadurch noch weiter
gesteigert. Die Verhältnisse forderten gebieterisch einen außergewöhnlichen Mann;
ein solcher war auch vorhanden, er lebte aber in der Verbannung, es war der
frühere Großwesir Atabey Azam. Er hatte diesen Posten schon unter dem
Großvater und dem Vater des Schäds bekleidet und war als sehr energisch und
befähigt bekannt, aber im Volke durch seine Teilnahme an der Korruption und
seine Mitwirkung an den russischen Anleihen auf das tiefste verhaßt, sodciß er


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[0407] Englands Vordringen in persien Der Staatsbankrott ist also offen zugegeben. Soweit die finanziellen Schwierig¬ keiten, mit denen wir hier bis zur Gegenwart vorgegriffen haben. Am 1. Januar wurde vom Großwesir dem Parlament feierlich ein Ver¬ fassungsentwurf überreicht. Danach besteht die Kammer aus 162 Mitgliedern, deren Wahl nach sechs Stünden vorgenommen wird, der Senat aus 60 Mit¬ gliedern, von denen die Hälfte durch den Schah ernannt wird, während die andre Hälfte aus den Wahlen hervorgeht. Alle Konzessionen für Handelsgesell¬ schaften, Straßen, Eisenbahnen und Staatsanleihen bedürfen der Zustimmung des Parlaments. Das Verfassungsdekret war noch von dem Vater des jetzigen Schäds auf dem Totenbett unterzeichnet worden. Als Anfang Januar sein Sohn Ali Mirza den Thron bestieg, stand er den widerstrebendsten Gewalten gegenüber, dem nach Freiheit dürstenden Parlament auf der einen Seite, der mächtigen Hofpartei, den Gouverneuren, höhern Beamten und einem Teil der Geistlichkeit, soweit er sich in guten Stellungen befand, auf der andern. Das Parlament hatte seit den wenigen Monaten seines Bestehens allmählich an Ansehn im Volke und moralischem Gewicht immer mehr gewonnen. Sein Verhalten war trotz vieler Fehler ein unerwartet sachgemäßes. Die Ver¬ handlungen sollen einen würdevollen Verlauf nehmen, frei von Überschwenglich¬ keit und Phantastereien, und sich im großen und ganzen nur auf praktisch Erreichbares erstrecken. Einem solchen Gegner war ohne Geld und bedeutende Machtmittel nicht beizukommen, und so begann der neue Herrscher seine Regierung damit, zwischen den beiden Gewalten zu kavieren. Er machte dem Parlament nach langen Kämpfen immer weitere Zugeständnisse wie Ministerverantwortlichkeit, Verpflichtung der Minister, den Sitzungen beizuwohnen, Abstellung des Brotwuchers, aber er führte sie uicht aus, und vor allem weigerte er sich, die Verfassung zu beschwören; auf diese Weise wurden die Zugeständnisse wieder illusorisch und das Parlament ebenfalls gelähmt. Inzwischen erhob überall im Lande die Revolution ihr Haupt, aber ohne Einigkeit und festes Ziel. An den meisten Orten war es die Parteinahme des Volks für das Parlament, an andern war es nur ein Auf¬ bäumen gegen verhaßte Beamte. So wurde im Februar in Täbris der Gouverneur gefangen genommen. In Jesd richtete sich die Bewegung gegen Christen und die Sekte der Parsis, in Jsfahcm wieder gegen den Gouverneur, der in der Folge entlassen worden ist. Im März wurde vou den Verhandlungen zwischen England und Nußland mehr und mehr bekannt, und der Unwille des Volks wurde dadurch noch weiter gesteigert. Die Verhältnisse forderten gebieterisch einen außergewöhnlichen Mann; ein solcher war auch vorhanden, er lebte aber in der Verbannung, es war der frühere Großwesir Atabey Azam. Er hatte diesen Posten schon unter dem Großvater und dem Vater des Schäds bekleidet und war als sehr energisch und befähigt bekannt, aber im Volke durch seine Teilnahme an der Korruption und seine Mitwirkung an den russischen Anleihen auf das tiefste verhaßt, sodciß er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/407>, abgerufen am 23.07.2024.