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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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erst kurz vor seinem Ende zu der Klarheit, die ihn früher vor mancher Ver-
irrung Hütte bewahren können. Mit bewunderungswürdiger Sorgfalt und
Feinheit ist alles in diesem Roman erdacht und durchgeführt. Der Held ent¬
stammt einer erblich belasteten Familie, schon der Vater hatte die unheilvolle
Gabe des zweiten Gesichtes empfangen. Bei dem Sohne machte sie sich zwar
am ausdruckvollsten in der Kindheit bemerkbar, aber auch später hatte er
Visionen, die ihn körperlich angriffen und seine Willenskraft schwachem. Der
in Westfalen und in ganz Niedersachsen für solche Unglückliche, die wie Kassandra
eignes und fremdes Mißgeschick vorherschauen, ohne bei den Ihrigen Glauben
zu finden, übliche Name ist Spökenkiker, der sie zu allem Überfluß uoch
lächerlich macht und verspottet. Von der Mutter hat er ein Kleinlentegefühl,
das ihn in seinem spätern Leben auf Schritt und Tritt hemmt und vor den
geringsten Schwierigkeiten zurückbeben läßt. Seine Weichmütigkeit ist geradezu
krankhaft, wie er auch jeden Wechsel der Witterung körperlich vorausempsindet.
Seine erfolgreichen Studien, seine tiefen Kenntnisse der alten Klassiker heben
ihn hoch über seine gelehrten Bekannten, vereinzeln ihn aber so, daß er nicht
einmal daran denkt, seiner geistig hochstehenden Frau von seinen Geistesschätzcn
mitzuteilen und seine Kinder zu sich empor zu ziehen. Dazu kommt, daß er
durch seine Religionslehrer, einen berufnen und einen unberufner, nämlich einen
seines eignen evangelischen Bekenntnisses und einen katholischen zu einer kind¬
lichen Religiosität geführt worden ist, die ihm so sehr zur zweiten Natur wird,
daß er nie aufhört, wie ein Kind zu Gott aufzublicken und mit wahrhaft kind¬
lichem Glauben ihm zu vertrauen. Auch diesen Glaubensschatz verbirgt er wie ein
Geiziger sein Geld, und weder seiner Frau uoch seinen Kindern teilt er das
Geringste davon mit. Als mehrere Kinder, und gerade die, die den Eltern
am liebsten gewesen sind, ihnen durch eine epidemische Krankheit dahingerafft
worden, will er seine Frau zu spät auf Gottes Vatergüte hinweisen und sie
durch Gedichte, die die Klagen seines Herzens zum Ausdruck bringen, trösten.
Da er sich bis dahin gar nicht um das Innenleben seiner Frau bekümmert
hat, versteht sie ihn auch jetzt nicht; sie fühlt sich durch seine Gedichte nur ab¬
gestoßen und entfremdet sich so ihm und ihre übrigen Kinder. Der Ärmste,
den weder seine Wissenschaft, sein Beruf noch seine Familie stützen, zeigt sich
nun in seiner ganzen Haltlosigkeit; um sein Elend zu vergessen, gibt er sich
dem Trunke hin. Der Verkehr mit einem geistreichen Freunde, der ihm bald
durch dieselbe Epidemie entrissen wird, hat ihn früher schon die Kraft des Weines
schätzen gelehrt. Folgerichtig wird uns das allmähliche Sinken vorgeführt.
Wette fußt auch hier auf Beobachtungen des wirklichen Lebens. Er läßt seinen
weichmütigen, haltlosen Helden durch neue, schwere Schicksalsschläge ganz zu
Boden werfen. Kein zweites Gesicht warnt den Spökenkiker. Er kommt wegen
eines fahrlässigen Meineids ins Gefängnis, obgleich er bei seinem durch den
Trunk geschwächten Erinnerungsvermögen eigentlich ohne Schuld ist. Verlasse"
und gemieden von seinen nächsten Angehörigen würde er auf der Landstraße


erst kurz vor seinem Ende zu der Klarheit, die ihn früher vor mancher Ver-
irrung Hütte bewahren können. Mit bewunderungswürdiger Sorgfalt und
Feinheit ist alles in diesem Roman erdacht und durchgeführt. Der Held ent¬
stammt einer erblich belasteten Familie, schon der Vater hatte die unheilvolle
Gabe des zweiten Gesichtes empfangen. Bei dem Sohne machte sie sich zwar
am ausdruckvollsten in der Kindheit bemerkbar, aber auch später hatte er
Visionen, die ihn körperlich angriffen und seine Willenskraft schwachem. Der
in Westfalen und in ganz Niedersachsen für solche Unglückliche, die wie Kassandra
eignes und fremdes Mißgeschick vorherschauen, ohne bei den Ihrigen Glauben
zu finden, übliche Name ist Spökenkiker, der sie zu allem Überfluß uoch
lächerlich macht und verspottet. Von der Mutter hat er ein Kleinlentegefühl,
das ihn in seinem spätern Leben auf Schritt und Tritt hemmt und vor den
geringsten Schwierigkeiten zurückbeben läßt. Seine Weichmütigkeit ist geradezu
krankhaft, wie er auch jeden Wechsel der Witterung körperlich vorausempsindet.
Seine erfolgreichen Studien, seine tiefen Kenntnisse der alten Klassiker heben
ihn hoch über seine gelehrten Bekannten, vereinzeln ihn aber so, daß er nicht
einmal daran denkt, seiner geistig hochstehenden Frau von seinen Geistesschätzcn
mitzuteilen und seine Kinder zu sich empor zu ziehen. Dazu kommt, daß er
durch seine Religionslehrer, einen berufnen und einen unberufner, nämlich einen
seines eignen evangelischen Bekenntnisses und einen katholischen zu einer kind¬
lichen Religiosität geführt worden ist, die ihm so sehr zur zweiten Natur wird,
daß er nie aufhört, wie ein Kind zu Gott aufzublicken und mit wahrhaft kind¬
lichem Glauben ihm zu vertrauen. Auch diesen Glaubensschatz verbirgt er wie ein
Geiziger sein Geld, und weder seiner Frau uoch seinen Kindern teilt er das
Geringste davon mit. Als mehrere Kinder, und gerade die, die den Eltern
am liebsten gewesen sind, ihnen durch eine epidemische Krankheit dahingerafft
worden, will er seine Frau zu spät auf Gottes Vatergüte hinweisen und sie
durch Gedichte, die die Klagen seines Herzens zum Ausdruck bringen, trösten.
Da er sich bis dahin gar nicht um das Innenleben seiner Frau bekümmert
hat, versteht sie ihn auch jetzt nicht; sie fühlt sich durch seine Gedichte nur ab¬
gestoßen und entfremdet sich so ihm und ihre übrigen Kinder. Der Ärmste,
den weder seine Wissenschaft, sein Beruf noch seine Familie stützen, zeigt sich
nun in seiner ganzen Haltlosigkeit; um sein Elend zu vergessen, gibt er sich
dem Trunke hin. Der Verkehr mit einem geistreichen Freunde, der ihm bald
durch dieselbe Epidemie entrissen wird, hat ihn früher schon die Kraft des Weines
schätzen gelehrt. Folgerichtig wird uns das allmähliche Sinken vorgeführt.
Wette fußt auch hier auf Beobachtungen des wirklichen Lebens. Er läßt seinen
weichmütigen, haltlosen Helden durch neue, schwere Schicksalsschläge ganz zu
Boden werfen. Kein zweites Gesicht warnt den Spökenkiker. Er kommt wegen
eines fahrlässigen Meineids ins Gefängnis, obgleich er bei seinem durch den
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und gemieden von seinen nächsten Angehörigen würde er auf der Landstraße


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[0368] erst kurz vor seinem Ende zu der Klarheit, die ihn früher vor mancher Ver- irrung Hütte bewahren können. Mit bewunderungswürdiger Sorgfalt und Feinheit ist alles in diesem Roman erdacht und durchgeführt. Der Held ent¬ stammt einer erblich belasteten Familie, schon der Vater hatte die unheilvolle Gabe des zweiten Gesichtes empfangen. Bei dem Sohne machte sie sich zwar am ausdruckvollsten in der Kindheit bemerkbar, aber auch später hatte er Visionen, die ihn körperlich angriffen und seine Willenskraft schwachem. Der in Westfalen und in ganz Niedersachsen für solche Unglückliche, die wie Kassandra eignes und fremdes Mißgeschick vorherschauen, ohne bei den Ihrigen Glauben zu finden, übliche Name ist Spökenkiker, der sie zu allem Überfluß uoch lächerlich macht und verspottet. Von der Mutter hat er ein Kleinlentegefühl, das ihn in seinem spätern Leben auf Schritt und Tritt hemmt und vor den geringsten Schwierigkeiten zurückbeben läßt. Seine Weichmütigkeit ist geradezu krankhaft, wie er auch jeden Wechsel der Witterung körperlich vorausempsindet. Seine erfolgreichen Studien, seine tiefen Kenntnisse der alten Klassiker heben ihn hoch über seine gelehrten Bekannten, vereinzeln ihn aber so, daß er nicht einmal daran denkt, seiner geistig hochstehenden Frau von seinen Geistesschätzcn mitzuteilen und seine Kinder zu sich empor zu ziehen. Dazu kommt, daß er durch seine Religionslehrer, einen berufnen und einen unberufner, nämlich einen seines eignen evangelischen Bekenntnisses und einen katholischen zu einer kind¬ lichen Religiosität geführt worden ist, die ihm so sehr zur zweiten Natur wird, daß er nie aufhört, wie ein Kind zu Gott aufzublicken und mit wahrhaft kind¬ lichem Glauben ihm zu vertrauen. Auch diesen Glaubensschatz verbirgt er wie ein Geiziger sein Geld, und weder seiner Frau uoch seinen Kindern teilt er das Geringste davon mit. Als mehrere Kinder, und gerade die, die den Eltern am liebsten gewesen sind, ihnen durch eine epidemische Krankheit dahingerafft worden, will er seine Frau zu spät auf Gottes Vatergüte hinweisen und sie durch Gedichte, die die Klagen seines Herzens zum Ausdruck bringen, trösten. Da er sich bis dahin gar nicht um das Innenleben seiner Frau bekümmert hat, versteht sie ihn auch jetzt nicht; sie fühlt sich durch seine Gedichte nur ab¬ gestoßen und entfremdet sich so ihm und ihre übrigen Kinder. Der Ärmste, den weder seine Wissenschaft, sein Beruf noch seine Familie stützen, zeigt sich nun in seiner ganzen Haltlosigkeit; um sein Elend zu vergessen, gibt er sich dem Trunke hin. Der Verkehr mit einem geistreichen Freunde, der ihm bald durch dieselbe Epidemie entrissen wird, hat ihn früher schon die Kraft des Weines schätzen gelehrt. Folgerichtig wird uns das allmähliche Sinken vorgeführt. Wette fußt auch hier auf Beobachtungen des wirklichen Lebens. Er läßt seinen weichmütigen, haltlosen Helden durch neue, schwere Schicksalsschläge ganz zu Boden werfen. Kein zweites Gesicht warnt den Spökenkiker. Er kommt wegen eines fahrlässigen Meineids ins Gefängnis, obgleich er bei seinem durch den Trunk geschwächten Erinnerungsvermögen eigentlich ohne Schuld ist. Verlasse» und gemieden von seinen nächsten Angehörigen würde er auf der Landstraße

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/368>, abgerufen am 26.06.2024.