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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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windthorst

Tätigkeit beweist, durchaus befähigt war, wäre ihm lieber gewesen. Schon
1873 mahnte er, lieber Sozial- und Wirtschaftspolitik zu treiben, als sich
täglich um Schul- und Kirchenfragen zu zanken, und als Bismarck 1879 die
große Schwenkung vollzog, waren Windthorst und das Zentrum sofort dabei.
Sie nahmen für sich die Priorität in Anspruch, und Bamberger bezeugte
ihnen: "Ich sehe nicht ein, daß Sie zum Reichskanzler übergegangen sein
sollen; im Gegenteil, ich habe die Empfindung, daß der Herr Reichskanzler
zu Ihnen übergegangen ist." Ganz in Windthorsts Sinne war der sozial-
und gewerbcpolitische Antrag seines Fraktionsgenossen Grafen Galen vom
Jahre 1877, dessen Forderungen im Laufe der letzten zwei Dezennien erfüllt
worden sind. Damals freilich konnte Laster dem Reichstage noch mit den
Worten imponieren: "Wer von Ihnen, außer den Antragstellern, wagt es,
im Hause heut anzuregen, daß wir diese Narrheiten wieder einführen?", und
dem Abgeordneten Wchrenpfennig erschien der Antrag wie "ein Stück aus
einer mittelalterlichen Chronik". Den Staatssozialismus Bismarcks, speziell
die Zwangsversicherung mit Beitrügen des Staates, die Eisenbahnverstaat¬
lichung und das Tabakmonopol hat Windthorst. darin wieder kurzsichtiger als
sein großer Gegner, energisch bekämpft.

In der Provinz hat sich mancher über die große Teilnahme gewundert,
die sich bei der Erkrankung und dem Tode Windthorsts in Berlin ünßerte.
Die ihn in jahrelangen: persönlichem Verkehr kennen gelernt hatten, und dazu
gehörten die meisten Abgeordneten und viele Staatsbeamte, hatten eben ein
andres Bild von seiner Persönlichkeit gewonnen als das große Publikum;
Windthorsts Charakter hatte ihnen Achtung abgerungen, und seine angenehmen
Umgangsformen hatten auch seine politischen Gegner mit ihm befreundet.
Das Bild, das in der Phantasie der Masse der Protestanten bis heute fort¬
lebt, entstammt den Witzblättern, und Hüsgen führt es seinen Lesern in
sechzig Karikaturen vor. An dem Charakter Windthorsts wird den, der die
katholische Psyche, die Lage der Katholiken im Jahre 1870 und überhaupt
das gewöhnliche Verhalten der Menschen in Glaubenssachen kennt, die Mit¬
teilung des Ritters von Schulte nicht irre machen, Windthorst habe vor der
Unfehlbarkcitserkläruug geäußert, er könne an die Unfehlbarkeit des Papstes
nicht glauben; werde sie zum Dogma erhoben, so werde er exkommuniziert.
(Windthorst hat behauptet, Schulte habe den Wortlaut seiner Äußerung un¬
genau wiedergegeben; das ist dem sehr exakten Schulte nicht zuzutrauen, be¬
sonders da er erst kürzlich noch einmal, in der Deutschen Revue, die Anekdote
wiederholt hat.) Nach dem von Hüsgen mitgeteilten Material kann man
nicht daran zweifeln, daß Windthorst ein aufrichtig gläubiger und frommer
Katholik gewesen ist, freilich nicht im Betschwesternstil.

Die Biographie rollt natürlich eine Menge politischer Fragen jener Zeit
auf, zum Beispiel die, ob Bismarcks Feindschaft vor allem dem Zentrum als
einer widerstandsfähigen Oppositionspartei oder der katholischen Kirche ge¬
golten habe. Hüsgen behauptet das zweite, Martin spähn in seiner Schrift


windthorst

Tätigkeit beweist, durchaus befähigt war, wäre ihm lieber gewesen. Schon
1873 mahnte er, lieber Sozial- und Wirtschaftspolitik zu treiben, als sich
täglich um Schul- und Kirchenfragen zu zanken, und als Bismarck 1879 die
große Schwenkung vollzog, waren Windthorst und das Zentrum sofort dabei.
Sie nahmen für sich die Priorität in Anspruch, und Bamberger bezeugte
ihnen: „Ich sehe nicht ein, daß Sie zum Reichskanzler übergegangen sein
sollen; im Gegenteil, ich habe die Empfindung, daß der Herr Reichskanzler
zu Ihnen übergegangen ist." Ganz in Windthorsts Sinne war der sozial-
und gewerbcpolitische Antrag seines Fraktionsgenossen Grafen Galen vom
Jahre 1877, dessen Forderungen im Laufe der letzten zwei Dezennien erfüllt
worden sind. Damals freilich konnte Laster dem Reichstage noch mit den
Worten imponieren: „Wer von Ihnen, außer den Antragstellern, wagt es,
im Hause heut anzuregen, daß wir diese Narrheiten wieder einführen?", und
dem Abgeordneten Wchrenpfennig erschien der Antrag wie „ein Stück aus
einer mittelalterlichen Chronik". Den Staatssozialismus Bismarcks, speziell
die Zwangsversicherung mit Beitrügen des Staates, die Eisenbahnverstaat¬
lichung und das Tabakmonopol hat Windthorst. darin wieder kurzsichtiger als
sein großer Gegner, energisch bekämpft.

In der Provinz hat sich mancher über die große Teilnahme gewundert,
die sich bei der Erkrankung und dem Tode Windthorsts in Berlin ünßerte.
Die ihn in jahrelangen: persönlichem Verkehr kennen gelernt hatten, und dazu
gehörten die meisten Abgeordneten und viele Staatsbeamte, hatten eben ein
andres Bild von seiner Persönlichkeit gewonnen als das große Publikum;
Windthorsts Charakter hatte ihnen Achtung abgerungen, und seine angenehmen
Umgangsformen hatten auch seine politischen Gegner mit ihm befreundet.
Das Bild, das in der Phantasie der Masse der Protestanten bis heute fort¬
lebt, entstammt den Witzblättern, und Hüsgen führt es seinen Lesern in
sechzig Karikaturen vor. An dem Charakter Windthorsts wird den, der die
katholische Psyche, die Lage der Katholiken im Jahre 1870 und überhaupt
das gewöhnliche Verhalten der Menschen in Glaubenssachen kennt, die Mit¬
teilung des Ritters von Schulte nicht irre machen, Windthorst habe vor der
Unfehlbarkcitserkläruug geäußert, er könne an die Unfehlbarkeit des Papstes
nicht glauben; werde sie zum Dogma erhoben, so werde er exkommuniziert.
(Windthorst hat behauptet, Schulte habe den Wortlaut seiner Äußerung un¬
genau wiedergegeben; das ist dem sehr exakten Schulte nicht zuzutrauen, be¬
sonders da er erst kürzlich noch einmal, in der Deutschen Revue, die Anekdote
wiederholt hat.) Nach dem von Hüsgen mitgeteilten Material kann man
nicht daran zweifeln, daß Windthorst ein aufrichtig gläubiger und frommer
Katholik gewesen ist, freilich nicht im Betschwesternstil.

Die Biographie rollt natürlich eine Menge politischer Fragen jener Zeit
auf, zum Beispiel die, ob Bismarcks Feindschaft vor allem dem Zentrum als
einer widerstandsfähigen Oppositionspartei oder der katholischen Kirche ge¬
golten habe. Hüsgen behauptet das zweite, Martin spähn in seiner Schrift


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/358>, abgerufen am 23.07.2024.