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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

er hat doch auch, und zumal in hohen Jahren, selten ein Werk geschaffen, das
man so gern liest, das so rein durchklungen ist von dem ethischen Unterton seiner
ganzen Persönlichkeit, das in allen Stücken so liebenswert und, trotz manchen
Seltsamkeiten, so wenig konstruiert ist. Wenn das Wort "Meister" in der
Poesie einen guten Sinn haben soll, wird man es am ehesten für eine solche
Persönlichkeit zurückstellen müssen, die nach einem schier unübersehbar reichen
Lebensmerk immer wieder zeigt, daß Goethes Wort vom "Kommandierer der
Poesie" gerade für den echten Dichter eine Wahrheit ist.

Zwei reizvolle Bücher eigner Art hat die Freie Lehrervereinigung für
Kunstpflege zu Berlin uns und unsrer Jugend auf den Tisch gelegt (beide bei
Fr. Wilh. Grunow in Leipzig). Das eine enthält unter dem Titel "Aus Ge¬
schichte und Leben" sechs Erzählungen von dem zu früh verstorbnen Adolf
Schmitthenner. Es sind fast alles schlechthin Perlen, reife Gaben konzentrierter
Kunst. Die schönste ist für mich "Friede auf Erden", vielleicht das größte,
was Schmitthenner je gedichtet hat. Der Gehalt an Stimmung und zugleich
an Charakteristik in dem knappen Stück ist bewundernswcrt. Und die Sprache
ist so sparsam, so karge gefügt, wie sie jenein Geschlecht am Ende des Dreißig¬
jährigen Krieges zu Gebote gestanden haben muß.

Etwas ganz Neues bringt der andre, ebenfalls sehr hübsch ausgestattete
Band: eine neue Geschichte von Wilhelm Speck, dessen "Menschen, die den
Weg verloren" zugleich in einer im ganzen unveränderten zweiten Auflage
(ebenfalls bei Grunow) erscheinen. Faßt man die drei Erzählungen: "Ursula",
"Die Flüchtlinge" und die neue, "Der Joggeli" geheißen, zusammen, so tut
sich ein weiter Prospekt eines dichterischen Vermögens auf, wie es heute ganz
wenige besitzen. In der "Ursula" die unvergleichlich zarte und eigenartige
Naturschilderung, geschaffen als Nahmen um ein aus der halben Zerstörung
langsam ins Leben zurückgleitendes Mädchenbild, neben dem zwei feste und
starke Menschen aus diesem normalen Leben stehn und arbeiten. In den
"Flüchtlingen" zwei verirrte Seelen in einem Mikrokosmus von Schmutz und
Verbrechen, von Leichtsinn und Schuld, bedrückt und beladen, und die eine,
feinfühliger geborne, so ganz niedergezogen, daß des jungen Lebens jähes Ende
nur zu natürlich als Abschluß der frühen Tragödie eintritt. Im "Joggeli"
endlich alles bezogen auf den Charakter dieses einen Menschen, in dem das
wirkt, was nottut, was Specks Menschen so oft haben: das innere Licht, das
wirklich leuchtet, und dessen Schein und Wärme wir spüren, das wirklich lebt,
und von dem wir nicht bloß reden hören. Wenn dieser Joggeli aus seinem
furchtbaren Schmerz um die Frau langsam emporgezogen wird, dadurch, daß
seine alte Uhr versagt und er den Drang empfindet, sie wieder herzustellen --
dann geht mit uns die ganze menschliche, ganz untriviale Wahrheit dieses
trivialen Vorgangs so mit, wie Speck selbst es sagt: "Joggeli selber empfand
diesen Schimmer und bedachte bei sich, während er sein Werk vorführte, an
einem wie dünnen Faden der Mensch doch aus dem Finstern ans Licht gezogen


Literarische Rundschau

er hat doch auch, und zumal in hohen Jahren, selten ein Werk geschaffen, das
man so gern liest, das so rein durchklungen ist von dem ethischen Unterton seiner
ganzen Persönlichkeit, das in allen Stücken so liebenswert und, trotz manchen
Seltsamkeiten, so wenig konstruiert ist. Wenn das Wort „Meister" in der
Poesie einen guten Sinn haben soll, wird man es am ehesten für eine solche
Persönlichkeit zurückstellen müssen, die nach einem schier unübersehbar reichen
Lebensmerk immer wieder zeigt, daß Goethes Wort vom „Kommandierer der
Poesie" gerade für den echten Dichter eine Wahrheit ist.

Zwei reizvolle Bücher eigner Art hat die Freie Lehrervereinigung für
Kunstpflege zu Berlin uns und unsrer Jugend auf den Tisch gelegt (beide bei
Fr. Wilh. Grunow in Leipzig). Das eine enthält unter dem Titel „Aus Ge¬
schichte und Leben" sechs Erzählungen von dem zu früh verstorbnen Adolf
Schmitthenner. Es sind fast alles schlechthin Perlen, reife Gaben konzentrierter
Kunst. Die schönste ist für mich „Friede auf Erden", vielleicht das größte,
was Schmitthenner je gedichtet hat. Der Gehalt an Stimmung und zugleich
an Charakteristik in dem knappen Stück ist bewundernswcrt. Und die Sprache
ist so sparsam, so karge gefügt, wie sie jenein Geschlecht am Ende des Dreißig¬
jährigen Krieges zu Gebote gestanden haben muß.

Etwas ganz Neues bringt der andre, ebenfalls sehr hübsch ausgestattete
Band: eine neue Geschichte von Wilhelm Speck, dessen „Menschen, die den
Weg verloren" zugleich in einer im ganzen unveränderten zweiten Auflage
(ebenfalls bei Grunow) erscheinen. Faßt man die drei Erzählungen: „Ursula",
„Die Flüchtlinge" und die neue, „Der Joggeli" geheißen, zusammen, so tut
sich ein weiter Prospekt eines dichterischen Vermögens auf, wie es heute ganz
wenige besitzen. In der „Ursula" die unvergleichlich zarte und eigenartige
Naturschilderung, geschaffen als Nahmen um ein aus der halben Zerstörung
langsam ins Leben zurückgleitendes Mädchenbild, neben dem zwei feste und
starke Menschen aus diesem normalen Leben stehn und arbeiten. In den
„Flüchtlingen" zwei verirrte Seelen in einem Mikrokosmus von Schmutz und
Verbrechen, von Leichtsinn und Schuld, bedrückt und beladen, und die eine,
feinfühliger geborne, so ganz niedergezogen, daß des jungen Lebens jähes Ende
nur zu natürlich als Abschluß der frühen Tragödie eintritt. Im „Joggeli"
endlich alles bezogen auf den Charakter dieses einen Menschen, in dem das
wirkt, was nottut, was Specks Menschen so oft haben: das innere Licht, das
wirklich leuchtet, und dessen Schein und Wärme wir spüren, das wirklich lebt,
und von dem wir nicht bloß reden hören. Wenn dieser Joggeli aus seinem
furchtbaren Schmerz um die Frau langsam emporgezogen wird, dadurch, daß
seine alte Uhr versagt und er den Drang empfindet, sie wieder herzustellen —
dann geht mit uns die ganze menschliche, ganz untriviale Wahrheit dieses
trivialen Vorgangs so mit, wie Speck selbst es sagt: „Joggeli selber empfand
diesen Schimmer und bedachte bei sich, während er sein Werk vorführte, an
einem wie dünnen Faden der Mensch doch aus dem Finstern ans Licht gezogen


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[0304] Literarische Rundschau er hat doch auch, und zumal in hohen Jahren, selten ein Werk geschaffen, das man so gern liest, das so rein durchklungen ist von dem ethischen Unterton seiner ganzen Persönlichkeit, das in allen Stücken so liebenswert und, trotz manchen Seltsamkeiten, so wenig konstruiert ist. Wenn das Wort „Meister" in der Poesie einen guten Sinn haben soll, wird man es am ehesten für eine solche Persönlichkeit zurückstellen müssen, die nach einem schier unübersehbar reichen Lebensmerk immer wieder zeigt, daß Goethes Wort vom „Kommandierer der Poesie" gerade für den echten Dichter eine Wahrheit ist. Zwei reizvolle Bücher eigner Art hat die Freie Lehrervereinigung für Kunstpflege zu Berlin uns und unsrer Jugend auf den Tisch gelegt (beide bei Fr. Wilh. Grunow in Leipzig). Das eine enthält unter dem Titel „Aus Ge¬ schichte und Leben" sechs Erzählungen von dem zu früh verstorbnen Adolf Schmitthenner. Es sind fast alles schlechthin Perlen, reife Gaben konzentrierter Kunst. Die schönste ist für mich „Friede auf Erden", vielleicht das größte, was Schmitthenner je gedichtet hat. Der Gehalt an Stimmung und zugleich an Charakteristik in dem knappen Stück ist bewundernswcrt. Und die Sprache ist so sparsam, so karge gefügt, wie sie jenein Geschlecht am Ende des Dreißig¬ jährigen Krieges zu Gebote gestanden haben muß. Etwas ganz Neues bringt der andre, ebenfalls sehr hübsch ausgestattete Band: eine neue Geschichte von Wilhelm Speck, dessen „Menschen, die den Weg verloren" zugleich in einer im ganzen unveränderten zweiten Auflage (ebenfalls bei Grunow) erscheinen. Faßt man die drei Erzählungen: „Ursula", „Die Flüchtlinge" und die neue, „Der Joggeli" geheißen, zusammen, so tut sich ein weiter Prospekt eines dichterischen Vermögens auf, wie es heute ganz wenige besitzen. In der „Ursula" die unvergleichlich zarte und eigenartige Naturschilderung, geschaffen als Nahmen um ein aus der halben Zerstörung langsam ins Leben zurückgleitendes Mädchenbild, neben dem zwei feste und starke Menschen aus diesem normalen Leben stehn und arbeiten. In den „Flüchtlingen" zwei verirrte Seelen in einem Mikrokosmus von Schmutz und Verbrechen, von Leichtsinn und Schuld, bedrückt und beladen, und die eine, feinfühliger geborne, so ganz niedergezogen, daß des jungen Lebens jähes Ende nur zu natürlich als Abschluß der frühen Tragödie eintritt. Im „Joggeli" endlich alles bezogen auf den Charakter dieses einen Menschen, in dem das wirkt, was nottut, was Specks Menschen so oft haben: das innere Licht, das wirklich leuchtet, und dessen Schein und Wärme wir spüren, das wirklich lebt, und von dem wir nicht bloß reden hören. Wenn dieser Joggeli aus seinem furchtbaren Schmerz um die Frau langsam emporgezogen wird, dadurch, daß seine alte Uhr versagt und er den Drang empfindet, sie wieder herzustellen — dann geht mit uns die ganze menschliche, ganz untriviale Wahrheit dieses trivialen Vorgangs so mit, wie Speck selbst es sagt: „Joggeli selber empfand diesen Schimmer und bedachte bei sich, während er sein Werk vorführte, an einem wie dünnen Faden der Mensch doch aus dem Finstern ans Licht gezogen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/304>, abgerufen am 22.07.2024.