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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

Durchweg mit dem Hut in der Hand hat jung und alt Adolf Wilbrcmdt
an seinem siebzigsten Geburtstage begrüßt. Über die Erwartung vieler Ver¬
ehrer und sicherlich auch die seine hinaus ist der 24. August dem Dichter
zum Festtage gemacht worden. Seine Freunde und Verleger haben ihm eine
feine und reiche Gabe dargebracht mit dem auch äußerlich prächtigen Baude
"Adolf Wilbrandt" (Cotta). Wie immer bei solchem Anlasse steht auch hier und
da etwas Seichtes in dem Buche -- im ganzen kann es sich aber vor einem
solchen Jubilar sehen lassen. Nach den liebenswürdigen und doch nicht über¬
schwenglichen Grüßen des Reichskanzlers und der Fürstin Bülow und Paul
Heyses warmem Zuruf ist vor allem der Beitrag "Jugend und Elternhaus"
hervorzuheben, den der ältere Bruder Conrad Wilbrandt hergegeben hat, und
der einen herzerfreuenden Blick in ein deutsches Familienleben von tiefer Innigkeit
und geistigem Gehalt gewährt. Paul Lindaus leicht plaudernde Erinnerungen
an die vieljährige Freundschaft mit Wilbrandt bieten sehr viele hübsche, auch
biographisch wertvolle Details. Unter den kürzern Glückwünschen aber ist keiner,
der es mit Wilhelm Raabes Herzensworten aufnähme: "Nur mutig über die
Schwelle! Die Tür ins Einundsiebzigste kann immer noch in eine Weihnachts¬
stube führen." Drei Bildnisse nach Lenbach und eine neue Photographie ver¬
vollständigen den schönen Band.

Wenn nach solchem überreich verdientem Ehrenpreis Adolf Wilbrcmdts
neuer Roman "Sommerfäden" (Cotta) etwas zu sehr an die Ungleichartigkeit
gemahnt, die auch dieses Dichters zahlreiche Schöpfungen aufweisen, und die
eine künftige Auslese erst ganz vergessen machen wird, so darf mit um so herz¬
licherer Freude das jüngste Werk des "brüderlichen Freundes" Paul Heyse
bewillkommt werden. Der seltsame Titel "Gegen den Strom. Eine weltliche
Klostergeschichte" (Cotta) leitet in eine seltsame Welt hinein. Fünf Männer, deren
empfindlichen Seelen das Leben weh getan hat, ein Offizier, ein Professor, ein
Arzt, ein Priester und ein Politiker haben sich in die freiwillige Einsamkeit
eines ehemaligen Klosters zurückgezogen und führen hier ein durch die Kunst
und Heiterkeit des als sechster zu ihnen verschlagnen jungen Malers etwas
farbiger gewordnes Dasein. Aber sie können sich auf die Dauer doch nicht
gegen den Strom des tätigen Lebens stemmen, der die stille Stätte ihrer Re¬
signation näher und näher umflutet. Und als zu schon begonnenen, neuen
Seelenkämpfen der leibhafte Kampf treten muß gegen das fessellos gewordne
Element, den Wasserstrom -- da werden die Hände nicht mehr losgelassen, die
jene Einsamen wieder hineinziehen in den Kreis der Mitmenschen. Nun
schaffen sie wieder mit dem Strom, und wenn sie ihn schon, wie Fürst Bülow
einmal sagte, nicht lenken können, so versuchen sie es doch mit dem Schiff darauf,
dessen Führung vertrauensvolle Herzen ihnen übergeben haben. Paul Hesse
hat sicherlich Werke geschrieben, aus denen eine tiefere Seelenergründung spricht,
in denen nicht, wie hier, mancher Konflikt sanft beiseite geschoben und für
gelöst erklärt wird, ehe er ganz durchstritten war. Aber all das zugegeben --


Literarische Rundschau

Durchweg mit dem Hut in der Hand hat jung und alt Adolf Wilbrcmdt
an seinem siebzigsten Geburtstage begrüßt. Über die Erwartung vieler Ver¬
ehrer und sicherlich auch die seine hinaus ist der 24. August dem Dichter
zum Festtage gemacht worden. Seine Freunde und Verleger haben ihm eine
feine und reiche Gabe dargebracht mit dem auch äußerlich prächtigen Baude
„Adolf Wilbrandt" (Cotta). Wie immer bei solchem Anlasse steht auch hier und
da etwas Seichtes in dem Buche — im ganzen kann es sich aber vor einem
solchen Jubilar sehen lassen. Nach den liebenswürdigen und doch nicht über¬
schwenglichen Grüßen des Reichskanzlers und der Fürstin Bülow und Paul
Heyses warmem Zuruf ist vor allem der Beitrag „Jugend und Elternhaus"
hervorzuheben, den der ältere Bruder Conrad Wilbrandt hergegeben hat, und
der einen herzerfreuenden Blick in ein deutsches Familienleben von tiefer Innigkeit
und geistigem Gehalt gewährt. Paul Lindaus leicht plaudernde Erinnerungen
an die vieljährige Freundschaft mit Wilbrandt bieten sehr viele hübsche, auch
biographisch wertvolle Details. Unter den kürzern Glückwünschen aber ist keiner,
der es mit Wilhelm Raabes Herzensworten aufnähme: „Nur mutig über die
Schwelle! Die Tür ins Einundsiebzigste kann immer noch in eine Weihnachts¬
stube führen." Drei Bildnisse nach Lenbach und eine neue Photographie ver¬
vollständigen den schönen Band.

Wenn nach solchem überreich verdientem Ehrenpreis Adolf Wilbrcmdts
neuer Roman „Sommerfäden" (Cotta) etwas zu sehr an die Ungleichartigkeit
gemahnt, die auch dieses Dichters zahlreiche Schöpfungen aufweisen, und die
eine künftige Auslese erst ganz vergessen machen wird, so darf mit um so herz¬
licherer Freude das jüngste Werk des „brüderlichen Freundes" Paul Heyse
bewillkommt werden. Der seltsame Titel „Gegen den Strom. Eine weltliche
Klostergeschichte" (Cotta) leitet in eine seltsame Welt hinein. Fünf Männer, deren
empfindlichen Seelen das Leben weh getan hat, ein Offizier, ein Professor, ein
Arzt, ein Priester und ein Politiker haben sich in die freiwillige Einsamkeit
eines ehemaligen Klosters zurückgezogen und führen hier ein durch die Kunst
und Heiterkeit des als sechster zu ihnen verschlagnen jungen Malers etwas
farbiger gewordnes Dasein. Aber sie können sich auf die Dauer doch nicht
gegen den Strom des tätigen Lebens stemmen, der die stille Stätte ihrer Re¬
signation näher und näher umflutet. Und als zu schon begonnenen, neuen
Seelenkämpfen der leibhafte Kampf treten muß gegen das fessellos gewordne
Element, den Wasserstrom — da werden die Hände nicht mehr losgelassen, die
jene Einsamen wieder hineinziehen in den Kreis der Mitmenschen. Nun
schaffen sie wieder mit dem Strom, und wenn sie ihn schon, wie Fürst Bülow
einmal sagte, nicht lenken können, so versuchen sie es doch mit dem Schiff darauf,
dessen Führung vertrauensvolle Herzen ihnen übergeben haben. Paul Hesse
hat sicherlich Werke geschrieben, aus denen eine tiefere Seelenergründung spricht,
in denen nicht, wie hier, mancher Konflikt sanft beiseite geschoben und für
gelöst erklärt wird, ehe er ganz durchstritten war. Aber all das zugegeben —


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[0303] Literarische Rundschau Durchweg mit dem Hut in der Hand hat jung und alt Adolf Wilbrcmdt an seinem siebzigsten Geburtstage begrüßt. Über die Erwartung vieler Ver¬ ehrer und sicherlich auch die seine hinaus ist der 24. August dem Dichter zum Festtage gemacht worden. Seine Freunde und Verleger haben ihm eine feine und reiche Gabe dargebracht mit dem auch äußerlich prächtigen Baude „Adolf Wilbrandt" (Cotta). Wie immer bei solchem Anlasse steht auch hier und da etwas Seichtes in dem Buche — im ganzen kann es sich aber vor einem solchen Jubilar sehen lassen. Nach den liebenswürdigen und doch nicht über¬ schwenglichen Grüßen des Reichskanzlers und der Fürstin Bülow und Paul Heyses warmem Zuruf ist vor allem der Beitrag „Jugend und Elternhaus" hervorzuheben, den der ältere Bruder Conrad Wilbrandt hergegeben hat, und der einen herzerfreuenden Blick in ein deutsches Familienleben von tiefer Innigkeit und geistigem Gehalt gewährt. Paul Lindaus leicht plaudernde Erinnerungen an die vieljährige Freundschaft mit Wilbrandt bieten sehr viele hübsche, auch biographisch wertvolle Details. Unter den kürzern Glückwünschen aber ist keiner, der es mit Wilhelm Raabes Herzensworten aufnähme: „Nur mutig über die Schwelle! Die Tür ins Einundsiebzigste kann immer noch in eine Weihnachts¬ stube führen." Drei Bildnisse nach Lenbach und eine neue Photographie ver¬ vollständigen den schönen Band. Wenn nach solchem überreich verdientem Ehrenpreis Adolf Wilbrcmdts neuer Roman „Sommerfäden" (Cotta) etwas zu sehr an die Ungleichartigkeit gemahnt, die auch dieses Dichters zahlreiche Schöpfungen aufweisen, und die eine künftige Auslese erst ganz vergessen machen wird, so darf mit um so herz¬ licherer Freude das jüngste Werk des „brüderlichen Freundes" Paul Heyse bewillkommt werden. Der seltsame Titel „Gegen den Strom. Eine weltliche Klostergeschichte" (Cotta) leitet in eine seltsame Welt hinein. Fünf Männer, deren empfindlichen Seelen das Leben weh getan hat, ein Offizier, ein Professor, ein Arzt, ein Priester und ein Politiker haben sich in die freiwillige Einsamkeit eines ehemaligen Klosters zurückgezogen und führen hier ein durch die Kunst und Heiterkeit des als sechster zu ihnen verschlagnen jungen Malers etwas farbiger gewordnes Dasein. Aber sie können sich auf die Dauer doch nicht gegen den Strom des tätigen Lebens stemmen, der die stille Stätte ihrer Re¬ signation näher und näher umflutet. Und als zu schon begonnenen, neuen Seelenkämpfen der leibhafte Kampf treten muß gegen das fessellos gewordne Element, den Wasserstrom — da werden die Hände nicht mehr losgelassen, die jene Einsamen wieder hineinziehen in den Kreis der Mitmenschen. Nun schaffen sie wieder mit dem Strom, und wenn sie ihn schon, wie Fürst Bülow einmal sagte, nicht lenken können, so versuchen sie es doch mit dem Schiff darauf, dessen Führung vertrauensvolle Herzen ihnen übergeben haben. Paul Hesse hat sicherlich Werke geschrieben, aus denen eine tiefere Seelenergründung spricht, in denen nicht, wie hier, mancher Konflikt sanft beiseite geschoben und für gelöst erklärt wird, ehe er ganz durchstritten war. Aber all das zugegeben —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/303>, abgerufen am 22.07.2024.