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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

Schülern der beiden obersten Gymnasialklassen das Rauchen an öffentlichen
Orten (falls die Eltern damit einverstanden sind) sowie der Besuch einwand¬
freier Lokale gestattet, eine Freiheit, die ihre preußischen Kameraden z. B. nicht
genießen, die sie sich aber natürlich in um so größerm Umfange heimlich zu
verschaffen wissen. Die wahre Pädagogik scheint mir hier auf feiten der säch¬
sischen Schulverwaltung zu liegen.*)

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich bureaukratisches Regiment und Rück¬
sicht auf den Einzelnen ausschließen, dagegen echt soziale Gemeindeverwaltung
auch den innern Bedürfnissen des Einzelnen Genüge tut, liefert das Fried¬
hofswesen. In Leipzig, München und andern Großstädten sind die Friedhöfe
im Besitz der Stadtgemeinde, in Berlin dagegen in dem der einzelnen Kirchen¬
gemeinden. Die Vorzüge jenes Zustandes sind ebenso offenbar wie die Nach¬
teile des letztern: nicht nur, daß es dort einige wenige große, für jedermann
leicht zugängliche, hier eine Menge kleinerer, weit zerstreuter Friedhöfe gibt,
auch die Unterhaltungskosten der Gräber stellen sich bei der städtischen Ver¬
waltung billiger als bei der kirchlichen (die Kirche leidet ja immer noch an
einem großen Magen). Was aber für uns hier die Hauptsache ist, ist die Wahr¬
nehmung, daß der Verlauf einer Beerdigung in Berlin, also unter kirchlicher
Verwaltung, bei weitem nicht so würdevoll ist wie z. B. in Leipzig, also unter
städtischer; ein anscheinender Widerspruch zunächst, der sich aber sofort erklärt,
wenn man weiß, daß die kirchlichen Subalternbeamten -- höchst unpassend --
aus dem Unteroffiziersmaterial genommen werden, während die städtischen Fried¬
hofsbeamten Gemeinde-, also Zivilbeamte sind. Nun vergleiche man den Ton
der Beamten auf Berliner und auf Leipziger Friedhöfen, und vor allem ver¬
gleiche man bei Beerdigungen die wahrhaft unwürdige, skandalöse Art, wie die
Friedhofsdiener in Berlin einen Sarg gleich einem Koffer zur Gruft schleppen,
und die vornehm-pietätvolle in Leipzig, wo auch der Sarg des Ärmsten stets
von sechs Mann in langsam-feierlichem Gange auf der Schulter getragen
wird, ohne daß auf dem Wege auch nur einmal abgesetzt werden darf. Gewiß
eine bewundernswerte Leistung, die man aber wohl einem Toten schuldig ist,
der zum letztenmale ein Opfer von seinen Mitmenschen fordert. Darf diese letzte
Dienstleistung einem Möbeltransport gleichen?

Wie hier eine büreaukratische Bequemlichkeit die Pietät, so verletzt eine
falsche polizeiliche Nachsichtigkeit auf einem andern Gebiete das Sittlichkeits¬
gefühl: wer je nachts in Berlin durch die Friedrichstraße gegangen ist, weiß, was
ich meine. In Leipzig kann es zu solchen Ärgernissen nicht kommen; hier ist
durch Erlaß des Rates den zweifelhaften Elementen bei Strafe der Verhaftung
und Entziehung der "Konzession" streng verboten, sich nach neun Uhr abends



*) Da gerade von den Schulen die Rede ist, sei noch bemerkt, daß die Leipziger Volks¬
schule mit ihrer Gliederung in Bezirks- und Bürgerschulen etwa die Mitte halt zwischen der
rein proletarischen Volksschule Berlins und der allgemeinen und einheitlichen Volksschule
Münchens.
sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

Schülern der beiden obersten Gymnasialklassen das Rauchen an öffentlichen
Orten (falls die Eltern damit einverstanden sind) sowie der Besuch einwand¬
freier Lokale gestattet, eine Freiheit, die ihre preußischen Kameraden z. B. nicht
genießen, die sie sich aber natürlich in um so größerm Umfange heimlich zu
verschaffen wissen. Die wahre Pädagogik scheint mir hier auf feiten der säch¬
sischen Schulverwaltung zu liegen.*)

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich bureaukratisches Regiment und Rück¬
sicht auf den Einzelnen ausschließen, dagegen echt soziale Gemeindeverwaltung
auch den innern Bedürfnissen des Einzelnen Genüge tut, liefert das Fried¬
hofswesen. In Leipzig, München und andern Großstädten sind die Friedhöfe
im Besitz der Stadtgemeinde, in Berlin dagegen in dem der einzelnen Kirchen¬
gemeinden. Die Vorzüge jenes Zustandes sind ebenso offenbar wie die Nach¬
teile des letztern: nicht nur, daß es dort einige wenige große, für jedermann
leicht zugängliche, hier eine Menge kleinerer, weit zerstreuter Friedhöfe gibt,
auch die Unterhaltungskosten der Gräber stellen sich bei der städtischen Ver¬
waltung billiger als bei der kirchlichen (die Kirche leidet ja immer noch an
einem großen Magen). Was aber für uns hier die Hauptsache ist, ist die Wahr¬
nehmung, daß der Verlauf einer Beerdigung in Berlin, also unter kirchlicher
Verwaltung, bei weitem nicht so würdevoll ist wie z. B. in Leipzig, also unter
städtischer; ein anscheinender Widerspruch zunächst, der sich aber sofort erklärt,
wenn man weiß, daß die kirchlichen Subalternbeamten — höchst unpassend —
aus dem Unteroffiziersmaterial genommen werden, während die städtischen Fried¬
hofsbeamten Gemeinde-, also Zivilbeamte sind. Nun vergleiche man den Ton
der Beamten auf Berliner und auf Leipziger Friedhöfen, und vor allem ver¬
gleiche man bei Beerdigungen die wahrhaft unwürdige, skandalöse Art, wie die
Friedhofsdiener in Berlin einen Sarg gleich einem Koffer zur Gruft schleppen,
und die vornehm-pietätvolle in Leipzig, wo auch der Sarg des Ärmsten stets
von sechs Mann in langsam-feierlichem Gange auf der Schulter getragen
wird, ohne daß auf dem Wege auch nur einmal abgesetzt werden darf. Gewiß
eine bewundernswerte Leistung, die man aber wohl einem Toten schuldig ist,
der zum letztenmale ein Opfer von seinen Mitmenschen fordert. Darf diese letzte
Dienstleistung einem Möbeltransport gleichen?

Wie hier eine büreaukratische Bequemlichkeit die Pietät, so verletzt eine
falsche polizeiliche Nachsichtigkeit auf einem andern Gebiete das Sittlichkeits¬
gefühl: wer je nachts in Berlin durch die Friedrichstraße gegangen ist, weiß, was
ich meine. In Leipzig kann es zu solchen Ärgernissen nicht kommen; hier ist
durch Erlaß des Rates den zweifelhaften Elementen bei Strafe der Verhaftung
und Entziehung der „Konzession" streng verboten, sich nach neun Uhr abends



*) Da gerade von den Schulen die Rede ist, sei noch bemerkt, daß die Leipziger Volks¬
schule mit ihrer Gliederung in Bezirks- und Bürgerschulen etwa die Mitte halt zwischen der
rein proletarischen Volksschule Berlins und der allgemeinen und einheitlichen Volksschule
Münchens.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/258>, abgerufen am 26.06.2024.