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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform

Vernachlässigt sich ein Kind, und gelingt es den Eltern oder Pflegebe¬
fohlenen nicht, es auf den rechten Weg zu bringen, ist ein Kind den Übeln
Einflüssen einer schlechten Umgebung ausgesetzt, führt es einen liederlichen Lebens¬
wandel, oder begeht es Arkaden und sogar Vergehen oder Verbrechen, so darf
keine ungeübte Person einschreiten und der Kindesseele, auch der scheinbar ver-
dorbensten, das Bewußtsein bringen: Du bist nun ein Verbrecher, und so ver¬
fährt man mit Spitzbuben und Mördern. Wie man einen Kranken seiner Um¬
gebung entzieht und ihn in das Haus bringt, das seine Genesung fördern soll,
so verfahre man mit vernachlässigten und auch verbrecherischen Kindern. Auf
eine Anzeige hin mögen sich die Fürsorgeorgane des Kindes annehmen und es
in berufnen Anstalten unterbringen, und der Richter mag dann urteilen, was
weiter geschehen soll, aber kein Gefängnis! Kommt ein solches Kind in ein
Gefängnis und sieht sich dort ernst genommen und immerhin als voll¬
wichtige Person behandelt, wie es in einem, allgemeinen Zwecken dienenden
Gefängnis nicht anders sein kann, während es draußen ganz und gar nur
Nebensache war, so schmeichelt das unwillkürlich dem kindlichen Empfinden, und
man erlebt es nur allzu oft, daß die Furcht dahinschwindet; das Wort Ge¬
fängnis hat dann ein für allemal seine Macht verloren; und verläßt das Kind
die Anstalt, so sagt es sich oft genug: Es war eigentlich gar nicht so schlimm!
Alle Übeltäter unter achtzehn Jahren sollten den Gefängnissen fern gehalten
werden.

Haben wir das Möglichste getan, die Kinder zu bewahren, so können wir Hand
anlegen, auch denen noch zu helfen, die die Klippen des Lebens nicht glücklich
zu umschiffen vermocht haben, die durch widrige Einflüsse oder durch eignes
Verschulden gescheitert sind und im vorgeschrittnen Lebensalter unsre Gefäng¬
nisse bevölkern. Hier darf der Besserungsgedanke keine Theorie bleiben, sondern
er muß Tat werden, und er kann Tat werden mehr als bisher, wenn die
Personen herangezogen werden, die allein eine Besserung zu gewährleisten im¬
stande sind.

Fort mit der bestimmten Verurteilung! Welcher Mensch wollte sich ver¬
messen, nur annähernd zu bestimmen: diese oder jene Tat ist solcher Strafe
wert? Wie viel Erregung verursachen ungleiche Erkenntnisse, und wie viel
Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter werden geschürt und genährt!- Nicht
das Verbrechen bestrafe man, sondern den Verbrecher; sein Charakter und nicht
der seiner Straftat sei für die Dauer seiner Strafe maßgebend, in seine Hände
lege man sein Schicksal. Man schaffe Minimal- und Maximalstrafmaße für
Vergehen und Verbrechen und überlasse es einer Strafvollzngsbehörde, zu der
freie Bürger, Gefüngnisbeamte und Richter gehören könnten, darüber zu be¬
finden, wann der Sträfling nach Maßgabe seines Verhaltens in der Strafhaft
der Freiheit wieder zugeführt werden kann, zunächst in bedingter Weise unter
Aufsicht und Kontrolle der Gefüngnisverwaltung, die nichts unterlassen würde,
mit Rat und Tat ihm zur Seite zu stehen, und dann zu völliger Freiheit,


Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform

Vernachlässigt sich ein Kind, und gelingt es den Eltern oder Pflegebe¬
fohlenen nicht, es auf den rechten Weg zu bringen, ist ein Kind den Übeln
Einflüssen einer schlechten Umgebung ausgesetzt, führt es einen liederlichen Lebens¬
wandel, oder begeht es Arkaden und sogar Vergehen oder Verbrechen, so darf
keine ungeübte Person einschreiten und der Kindesseele, auch der scheinbar ver-
dorbensten, das Bewußtsein bringen: Du bist nun ein Verbrecher, und so ver¬
fährt man mit Spitzbuben und Mördern. Wie man einen Kranken seiner Um¬
gebung entzieht und ihn in das Haus bringt, das seine Genesung fördern soll,
so verfahre man mit vernachlässigten und auch verbrecherischen Kindern. Auf
eine Anzeige hin mögen sich die Fürsorgeorgane des Kindes annehmen und es
in berufnen Anstalten unterbringen, und der Richter mag dann urteilen, was
weiter geschehen soll, aber kein Gefängnis! Kommt ein solches Kind in ein
Gefängnis und sieht sich dort ernst genommen und immerhin als voll¬
wichtige Person behandelt, wie es in einem, allgemeinen Zwecken dienenden
Gefängnis nicht anders sein kann, während es draußen ganz und gar nur
Nebensache war, so schmeichelt das unwillkürlich dem kindlichen Empfinden, und
man erlebt es nur allzu oft, daß die Furcht dahinschwindet; das Wort Ge¬
fängnis hat dann ein für allemal seine Macht verloren; und verläßt das Kind
die Anstalt, so sagt es sich oft genug: Es war eigentlich gar nicht so schlimm!
Alle Übeltäter unter achtzehn Jahren sollten den Gefängnissen fern gehalten
werden.

Haben wir das Möglichste getan, die Kinder zu bewahren, so können wir Hand
anlegen, auch denen noch zu helfen, die die Klippen des Lebens nicht glücklich
zu umschiffen vermocht haben, die durch widrige Einflüsse oder durch eignes
Verschulden gescheitert sind und im vorgeschrittnen Lebensalter unsre Gefäng¬
nisse bevölkern. Hier darf der Besserungsgedanke keine Theorie bleiben, sondern
er muß Tat werden, und er kann Tat werden mehr als bisher, wenn die
Personen herangezogen werden, die allein eine Besserung zu gewährleisten im¬
stande sind.

Fort mit der bestimmten Verurteilung! Welcher Mensch wollte sich ver¬
messen, nur annähernd zu bestimmen: diese oder jene Tat ist solcher Strafe
wert? Wie viel Erregung verursachen ungleiche Erkenntnisse, und wie viel
Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter werden geschürt und genährt!- Nicht
das Verbrechen bestrafe man, sondern den Verbrecher; sein Charakter und nicht
der seiner Straftat sei für die Dauer seiner Strafe maßgebend, in seine Hände
lege man sein Schicksal. Man schaffe Minimal- und Maximalstrafmaße für
Vergehen und Verbrechen und überlasse es einer Strafvollzngsbehörde, zu der
freie Bürger, Gefüngnisbeamte und Richter gehören könnten, darüber zu be¬
finden, wann der Sträfling nach Maßgabe seines Verhaltens in der Strafhaft
der Freiheit wieder zugeführt werden kann, zunächst in bedingter Weise unter
Aufsicht und Kontrolle der Gefüngnisverwaltung, die nichts unterlassen würde,
mit Rat und Tat ihm zur Seite zu stehen, und dann zu völliger Freiheit,


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[0242] Zur Strafgesetz- und Gefängnisreform Vernachlässigt sich ein Kind, und gelingt es den Eltern oder Pflegebe¬ fohlenen nicht, es auf den rechten Weg zu bringen, ist ein Kind den Übeln Einflüssen einer schlechten Umgebung ausgesetzt, führt es einen liederlichen Lebens¬ wandel, oder begeht es Arkaden und sogar Vergehen oder Verbrechen, so darf keine ungeübte Person einschreiten und der Kindesseele, auch der scheinbar ver- dorbensten, das Bewußtsein bringen: Du bist nun ein Verbrecher, und so ver¬ fährt man mit Spitzbuben und Mördern. Wie man einen Kranken seiner Um¬ gebung entzieht und ihn in das Haus bringt, das seine Genesung fördern soll, so verfahre man mit vernachlässigten und auch verbrecherischen Kindern. Auf eine Anzeige hin mögen sich die Fürsorgeorgane des Kindes annehmen und es in berufnen Anstalten unterbringen, und der Richter mag dann urteilen, was weiter geschehen soll, aber kein Gefängnis! Kommt ein solches Kind in ein Gefängnis und sieht sich dort ernst genommen und immerhin als voll¬ wichtige Person behandelt, wie es in einem, allgemeinen Zwecken dienenden Gefängnis nicht anders sein kann, während es draußen ganz und gar nur Nebensache war, so schmeichelt das unwillkürlich dem kindlichen Empfinden, und man erlebt es nur allzu oft, daß die Furcht dahinschwindet; das Wort Ge¬ fängnis hat dann ein für allemal seine Macht verloren; und verläßt das Kind die Anstalt, so sagt es sich oft genug: Es war eigentlich gar nicht so schlimm! Alle Übeltäter unter achtzehn Jahren sollten den Gefängnissen fern gehalten werden. Haben wir das Möglichste getan, die Kinder zu bewahren, so können wir Hand anlegen, auch denen noch zu helfen, die die Klippen des Lebens nicht glücklich zu umschiffen vermocht haben, die durch widrige Einflüsse oder durch eignes Verschulden gescheitert sind und im vorgeschrittnen Lebensalter unsre Gefäng¬ nisse bevölkern. Hier darf der Besserungsgedanke keine Theorie bleiben, sondern er muß Tat werden, und er kann Tat werden mehr als bisher, wenn die Personen herangezogen werden, die allein eine Besserung zu gewährleisten im¬ stande sind. Fort mit der bestimmten Verurteilung! Welcher Mensch wollte sich ver¬ messen, nur annähernd zu bestimmen: diese oder jene Tat ist solcher Strafe wert? Wie viel Erregung verursachen ungleiche Erkenntnisse, und wie viel Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter werden geschürt und genährt!- Nicht das Verbrechen bestrafe man, sondern den Verbrecher; sein Charakter und nicht der seiner Straftat sei für die Dauer seiner Strafe maßgebend, in seine Hände lege man sein Schicksal. Man schaffe Minimal- und Maximalstrafmaße für Vergehen und Verbrechen und überlasse es einer Strafvollzngsbehörde, zu der freie Bürger, Gefüngnisbeamte und Richter gehören könnten, darüber zu be¬ finden, wann der Sträfling nach Maßgabe seines Verhaltens in der Strafhaft der Freiheit wieder zugeführt werden kann, zunächst in bedingter Weise unter Aufsicht und Kontrolle der Gefüngnisverwaltung, die nichts unterlassen würde, mit Rat und Tat ihm zur Seite zu stehen, und dann zu völliger Freiheit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/242>, abgerufen am 26.06.2024.