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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

unsers Volkes so gestalten wollen, daß wir den Gefahren, die die Zukunft birgt,
gewachsen sind. Und in der Tat fehlt uns etwas, das keinem Zweifel unter¬
liegt. Daß bei uns die Sozialdemokratie zu einer Partei von mehr als drei
Millionen anwachsen konnte, das liegt im wesentlichen an der politischen Gleich-
giltigkeit der Deutschen, und diese wieder ist eine Folge des mangelnden poli¬
tischen Verständnisses, der mangelnden politischen Bildung. Das also, was uns
fehlt, ist nationale, politische Erziehung.

Gerade jetzt, gerade nach diesen Wahlen ist der richtige Zeitpunkt, diese
Forderung aufzustellen. Das deutsche Volk hat gezeigt, daß es sogar drei-
undeinerviertel Million sozialdemokratischer Stimmen gegenüber eine zuverlässige,
nationale Mehrheit im Reichstage zu bilden imstande ist, daß es also die
Schuld der bürgerlichen Parteien war, wenn diese Mehrheit bis dahin fehlte,
daß nur ihre Uneinigkeit, ihr mangelndes politisches Verständnis die Lage ge¬
schaffen haben, die schließlich zu der letzten Reichstagsauflösung führte. Es
darf nicht dahin kommen, daß die Zeiten wiederkehren, wo die Mehrheit des
Reichstags in großen nationalen Fragen versagte, und das kann nur vermieden
werden, wenn im deutschen Volke politisches Interesse und politische Bildung
geweckt und gefördert werden, wenn das Volk aufgeklärt wird über unsre
nationalen Bedürfnisse, Aufgaben und Ziele, wenn die Einsicht gefördert wird,
daß politischen Rechten politische Pflichten gegenüberstehen, wenn also darauf
hingearbeitet wird, den Deutschen zu einem 5we>v Tro^rtxov zu machen. Bei
der Neigung des Deutschen zum Doktrinarismus, bei seiner Gleich giltigkeit gegen
die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten, bei seinem gering entwickelten
politischen Instinkt kann das nur erreicht werden durch planmüßige Einwirkung,
durch nationale Erziehung. Diese Forderung wird Widerspruch finden, und
doch muß sie einmal gestellt werden, und gerade zu dieser Zeit. Es darf
nicht so weiter gehn in Deutschland, wenn es dahin kommen soll, daß das
deutsche Volk Verständnis gewinnt für seine Stellung in der Welt und für seine
Aufgaben. In der Stunde der Gefahr genügt es nicht, daß Führer vorhanden
sind, es müssen auch die Massen dasein, die die Fähigkeit erworben haben, sich
führen zu lassen. Wenn man unser öffentliches Leben aufmerksam betrachtet
und zusieht, welches geringe Interesse große, weltbewegende Fragen bei uns
finden, so ist in der Tat die Frage berechtigt, ob wir überhaupt ein politisches
Volk sind. Wo und wie spielt sich denn unser politisches Leben ab? Bei den
Parteien, und auch dort ist es nur schwach entwickelt. Vor den Wahlen werden
krampfhafte Anstrengungen gemacht, die Wühler an die Urne zu bringen, nach
der Wahl erfolgt die Feststellung, wie viele diesem Rufe nicht gefolgt sind, und
dann tritt wieder die Ruhe ein, die der Deutsche so liebt. Er geht seinen Ge¬
schäften nach und überläßt die Erörterung und Erledigung öffentlicher An¬
gelegenheiten denen, die dazu berufen sind. Bei der letzten Wahl zum preußischen
Landtage hatte ich ein Erlebnis, das charakteristisch ist. Während die Zeitungen,
in diesem Falle waren es liberale, jeden Tag auf die Bedeutung der Wahl
hinwiesen und zur Erfüllung der Wahlpflicht ernährten, wurde ich von einem


Nationale politische Erziehung

unsers Volkes so gestalten wollen, daß wir den Gefahren, die die Zukunft birgt,
gewachsen sind. Und in der Tat fehlt uns etwas, das keinem Zweifel unter¬
liegt. Daß bei uns die Sozialdemokratie zu einer Partei von mehr als drei
Millionen anwachsen konnte, das liegt im wesentlichen an der politischen Gleich-
giltigkeit der Deutschen, und diese wieder ist eine Folge des mangelnden poli¬
tischen Verständnisses, der mangelnden politischen Bildung. Das also, was uns
fehlt, ist nationale, politische Erziehung.

Gerade jetzt, gerade nach diesen Wahlen ist der richtige Zeitpunkt, diese
Forderung aufzustellen. Das deutsche Volk hat gezeigt, daß es sogar drei-
undeinerviertel Million sozialdemokratischer Stimmen gegenüber eine zuverlässige,
nationale Mehrheit im Reichstage zu bilden imstande ist, daß es also die
Schuld der bürgerlichen Parteien war, wenn diese Mehrheit bis dahin fehlte,
daß nur ihre Uneinigkeit, ihr mangelndes politisches Verständnis die Lage ge¬
schaffen haben, die schließlich zu der letzten Reichstagsauflösung führte. Es
darf nicht dahin kommen, daß die Zeiten wiederkehren, wo die Mehrheit des
Reichstags in großen nationalen Fragen versagte, und das kann nur vermieden
werden, wenn im deutschen Volke politisches Interesse und politische Bildung
geweckt und gefördert werden, wenn das Volk aufgeklärt wird über unsre
nationalen Bedürfnisse, Aufgaben und Ziele, wenn die Einsicht gefördert wird,
daß politischen Rechten politische Pflichten gegenüberstehen, wenn also darauf
hingearbeitet wird, den Deutschen zu einem 5we>v Tro^rtxov zu machen. Bei
der Neigung des Deutschen zum Doktrinarismus, bei seiner Gleich giltigkeit gegen
die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten, bei seinem gering entwickelten
politischen Instinkt kann das nur erreicht werden durch planmüßige Einwirkung,
durch nationale Erziehung. Diese Forderung wird Widerspruch finden, und
doch muß sie einmal gestellt werden, und gerade zu dieser Zeit. Es darf
nicht so weiter gehn in Deutschland, wenn es dahin kommen soll, daß das
deutsche Volk Verständnis gewinnt für seine Stellung in der Welt und für seine
Aufgaben. In der Stunde der Gefahr genügt es nicht, daß Führer vorhanden
sind, es müssen auch die Massen dasein, die die Fähigkeit erworben haben, sich
führen zu lassen. Wenn man unser öffentliches Leben aufmerksam betrachtet
und zusieht, welches geringe Interesse große, weltbewegende Fragen bei uns
finden, so ist in der Tat die Frage berechtigt, ob wir überhaupt ein politisches
Volk sind. Wo und wie spielt sich denn unser politisches Leben ab? Bei den
Parteien, und auch dort ist es nur schwach entwickelt. Vor den Wahlen werden
krampfhafte Anstrengungen gemacht, die Wühler an die Urne zu bringen, nach
der Wahl erfolgt die Feststellung, wie viele diesem Rufe nicht gefolgt sind, und
dann tritt wieder die Ruhe ein, die der Deutsche so liebt. Er geht seinen Ge¬
schäften nach und überläßt die Erörterung und Erledigung öffentlicher An¬
gelegenheiten denen, die dazu berufen sind. Bei der letzten Wahl zum preußischen
Landtage hatte ich ein Erlebnis, das charakteristisch ist. Während die Zeitungen,
in diesem Falle waren es liberale, jeden Tag auf die Bedeutung der Wahl
hinwiesen und zur Erfüllung der Wahlpflicht ernährten, wurde ich von einem


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[0023] Nationale politische Erziehung unsers Volkes so gestalten wollen, daß wir den Gefahren, die die Zukunft birgt, gewachsen sind. Und in der Tat fehlt uns etwas, das keinem Zweifel unter¬ liegt. Daß bei uns die Sozialdemokratie zu einer Partei von mehr als drei Millionen anwachsen konnte, das liegt im wesentlichen an der politischen Gleich- giltigkeit der Deutschen, und diese wieder ist eine Folge des mangelnden poli¬ tischen Verständnisses, der mangelnden politischen Bildung. Das also, was uns fehlt, ist nationale, politische Erziehung. Gerade jetzt, gerade nach diesen Wahlen ist der richtige Zeitpunkt, diese Forderung aufzustellen. Das deutsche Volk hat gezeigt, daß es sogar drei- undeinerviertel Million sozialdemokratischer Stimmen gegenüber eine zuverlässige, nationale Mehrheit im Reichstage zu bilden imstande ist, daß es also die Schuld der bürgerlichen Parteien war, wenn diese Mehrheit bis dahin fehlte, daß nur ihre Uneinigkeit, ihr mangelndes politisches Verständnis die Lage ge¬ schaffen haben, die schließlich zu der letzten Reichstagsauflösung führte. Es darf nicht dahin kommen, daß die Zeiten wiederkehren, wo die Mehrheit des Reichstags in großen nationalen Fragen versagte, und das kann nur vermieden werden, wenn im deutschen Volke politisches Interesse und politische Bildung geweckt und gefördert werden, wenn das Volk aufgeklärt wird über unsre nationalen Bedürfnisse, Aufgaben und Ziele, wenn die Einsicht gefördert wird, daß politischen Rechten politische Pflichten gegenüberstehen, wenn also darauf hingearbeitet wird, den Deutschen zu einem 5we>v Tro^rtxov zu machen. Bei der Neigung des Deutschen zum Doktrinarismus, bei seiner Gleich giltigkeit gegen die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten, bei seinem gering entwickelten politischen Instinkt kann das nur erreicht werden durch planmüßige Einwirkung, durch nationale Erziehung. Diese Forderung wird Widerspruch finden, und doch muß sie einmal gestellt werden, und gerade zu dieser Zeit. Es darf nicht so weiter gehn in Deutschland, wenn es dahin kommen soll, daß das deutsche Volk Verständnis gewinnt für seine Stellung in der Welt und für seine Aufgaben. In der Stunde der Gefahr genügt es nicht, daß Führer vorhanden sind, es müssen auch die Massen dasein, die die Fähigkeit erworben haben, sich führen zu lassen. Wenn man unser öffentliches Leben aufmerksam betrachtet und zusieht, welches geringe Interesse große, weltbewegende Fragen bei uns finden, so ist in der Tat die Frage berechtigt, ob wir überhaupt ein politisches Volk sind. Wo und wie spielt sich denn unser politisches Leben ab? Bei den Parteien, und auch dort ist es nur schwach entwickelt. Vor den Wahlen werden krampfhafte Anstrengungen gemacht, die Wühler an die Urne zu bringen, nach der Wahl erfolgt die Feststellung, wie viele diesem Rufe nicht gefolgt sind, und dann tritt wieder die Ruhe ein, die der Deutsche so liebt. Er geht seinen Ge¬ schäften nach und überläßt die Erörterung und Erledigung öffentlicher An¬ gelegenheiten denen, die dazu berufen sind. Bei der letzten Wahl zum preußischen Landtage hatte ich ein Erlebnis, das charakteristisch ist. Während die Zeitungen, in diesem Falle waren es liberale, jeden Tag auf die Bedeutung der Wahl hinwiesen und zur Erfüllung der Wahlpflicht ernährten, wurde ich von einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/23>, abgerufen am 22.07.2024.