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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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England und Indien

"Die Gesamtstärke der russischen Truppen in Zentralasien beträgt 57 787 Mann
im Frieden und 99247 auf Kriegsfuß und besteht aus 40 Bataillonen Infanterie,
48 Schwadronen oder Ssotnien Kavallerie, 2 reitenden, 11 fahrenden und
4 Gebirgsbatterien sowie 1 Haubitzbatterie und 8 Festungsartilleriekompagnien.
Hierzu kommen Eisenbahntruppen, irreguläre turkmenische Reiterei, Grenztruppen,
Ponton- und Telegraphenkompagnien sowie verschiedne Lokaltruppen, die aber
alle in der vorerwähnten Zahl mit enthalten sind.

"Von der allergrößten Bedeutung für russische Unternehmungen gegen Indien
sind natürlich die Eisenbahnlinien. Die Bahn nach Kuschk wurde 1897 bis 98
gebaut, und zwei Jahre später genehmigte der Zar die Orenbnrg-Taschkent-
Linie, die 1905 eröffnet wurde. Sobald diese Bahn in vollem Betriebe sein
wird, ist die Leichtigkeit, mit der Nußland Truppen nach Zentralasien senden
kann, mehr als verdoppelt. Zwar leidet die Bahn an manchen Mängeln, besonders
wegen ihrer leichten Bauart und dem Wassermangel, aber niemand vermag die
Leistungsfähigkeit der zentralasiatischen Eisenbahnen im Kriegsfall zu taxieren.
Die beabsichtigte Weiterführung der Bahn von Samarkand nach Termez (gemeint
ist wohl Tarmys am Oxus) wird als ein Prüfstein für die russischen Pläne
einzusehn sein. Die Truppen sind in Garnisonen längs der Bahnstrecke verteilt,
und in Kuschk garuisonieren 2 Jnfnnteriebataillone und 3 Festungsartillerie¬
kompagnien in der Stärke von 2400 Mann auf Friedensfnß. Zu Kerki am
Oxus (Karli) befindet sich eine größere Besatzung, und weiter stromauf in Tormez,
bis wohin die Bahn projektiert ist, zählen die Truppen 3700 Mann in Friedens¬
stärke. Wir sind weit davon entfernt, den Russen gegenwärtig irgendeine feind¬
selige Absicht zuschreiben zu wollen, aber die Situation muß wachsam im Auge
behalten werden, und das wichtigste Anzeichen wird die Anhäufung russischer
Truppen in Turkestan sein sowie der Ausbau neuer Bahnlinien nach der Grenze
von Afghanistan hin."

Unsrer Ansicht nach kann man die Bedeutung der verschiednen vorstehenden
Äußerungen des Londoner führenden Militürorgcms gar nicht hoch genug be¬
werten: hier kommen ohne Zweifel die wahren Anschauungen und die durch keine
äußere Rücksicht verhüllten Befürchtungen weiterer, speziell militärischer Kreise
Englands zum Ausdruck. Man erkennt aus ihnen dentlich, wie Großbritannien
für seinen indischen Besitz, weit mehr als es sonst äußerlich zu erkennen gibt,
zittert, und sieht zugleich, für wie bedenklich nahe der Ausbruch einer neuen
großen Empörung erachtet wird. Kommt es aber wirklich dazu, dann wird eine
solche, dank dem jetzigen Stande der Kultur und allgemeinen Bildung der
Bevölkerung Indiens, viel machtvoller einsetzen als vor fünfzig Jahren und in
ihrer Kraft und Ausdehnung sich als weit erfolgreicher beweisen als damals.
Dann wird sich Rußland schwerlich ganz tatenlos verhalten können, und eben¬
sowenig wird der Emir von Afghanistan geneigt sein, zugunsten der fremden
Gicinrs Partei zu nehmen gegen die Glaubensgenossen seiner mohammedanischen
Untertanen.


England und Indien

„Die Gesamtstärke der russischen Truppen in Zentralasien beträgt 57 787 Mann
im Frieden und 99247 auf Kriegsfuß und besteht aus 40 Bataillonen Infanterie,
48 Schwadronen oder Ssotnien Kavallerie, 2 reitenden, 11 fahrenden und
4 Gebirgsbatterien sowie 1 Haubitzbatterie und 8 Festungsartilleriekompagnien.
Hierzu kommen Eisenbahntruppen, irreguläre turkmenische Reiterei, Grenztruppen,
Ponton- und Telegraphenkompagnien sowie verschiedne Lokaltruppen, die aber
alle in der vorerwähnten Zahl mit enthalten sind.

„Von der allergrößten Bedeutung für russische Unternehmungen gegen Indien
sind natürlich die Eisenbahnlinien. Die Bahn nach Kuschk wurde 1897 bis 98
gebaut, und zwei Jahre später genehmigte der Zar die Orenbnrg-Taschkent-
Linie, die 1905 eröffnet wurde. Sobald diese Bahn in vollem Betriebe sein
wird, ist die Leichtigkeit, mit der Nußland Truppen nach Zentralasien senden
kann, mehr als verdoppelt. Zwar leidet die Bahn an manchen Mängeln, besonders
wegen ihrer leichten Bauart und dem Wassermangel, aber niemand vermag die
Leistungsfähigkeit der zentralasiatischen Eisenbahnen im Kriegsfall zu taxieren.
Die beabsichtigte Weiterführung der Bahn von Samarkand nach Termez (gemeint
ist wohl Tarmys am Oxus) wird als ein Prüfstein für die russischen Pläne
einzusehn sein. Die Truppen sind in Garnisonen längs der Bahnstrecke verteilt,
und in Kuschk garuisonieren 2 Jnfnnteriebataillone und 3 Festungsartillerie¬
kompagnien in der Stärke von 2400 Mann auf Friedensfnß. Zu Kerki am
Oxus (Karli) befindet sich eine größere Besatzung, und weiter stromauf in Tormez,
bis wohin die Bahn projektiert ist, zählen die Truppen 3700 Mann in Friedens¬
stärke. Wir sind weit davon entfernt, den Russen gegenwärtig irgendeine feind¬
selige Absicht zuschreiben zu wollen, aber die Situation muß wachsam im Auge
behalten werden, und das wichtigste Anzeichen wird die Anhäufung russischer
Truppen in Turkestan sein sowie der Ausbau neuer Bahnlinien nach der Grenze
von Afghanistan hin."

Unsrer Ansicht nach kann man die Bedeutung der verschiednen vorstehenden
Äußerungen des Londoner führenden Militürorgcms gar nicht hoch genug be¬
werten: hier kommen ohne Zweifel die wahren Anschauungen und die durch keine
äußere Rücksicht verhüllten Befürchtungen weiterer, speziell militärischer Kreise
Englands zum Ausdruck. Man erkennt aus ihnen dentlich, wie Großbritannien
für seinen indischen Besitz, weit mehr als es sonst äußerlich zu erkennen gibt,
zittert, und sieht zugleich, für wie bedenklich nahe der Ausbruch einer neuen
großen Empörung erachtet wird. Kommt es aber wirklich dazu, dann wird eine
solche, dank dem jetzigen Stande der Kultur und allgemeinen Bildung der
Bevölkerung Indiens, viel machtvoller einsetzen als vor fünfzig Jahren und in
ihrer Kraft und Ausdehnung sich als weit erfolgreicher beweisen als damals.
Dann wird sich Rußland schwerlich ganz tatenlos verhalten können, und eben¬
sowenig wird der Emir von Afghanistan geneigt sein, zugunsten der fremden
Gicinrs Partei zu nehmen gegen die Glaubensgenossen seiner mohammedanischen
Untertanen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/20>, abgerufen am 22.07.2024.