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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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West- und Ostdeutsch

unter verhältnismäßig schwachem Widerstande der Slawen okkupiert und besiedelt;
dagegen gelang es weder Ungarn noch Böhmen dem Deutschtum zu unterwerfen,
da sich dort einheimische fremde Staatsgewalten behaupteten; in Ungarn be¬
schränkte sich die deutsche Besiedlung auf vereinzelte Gruppen/in Böhmen (und
Mähren) auf den rings das Land umschließenden Markwald. Jedenfalls ist in
diesen wenigen Jahrhunderten die gute Hälfte des heute zusammenhängend von
Deutschen bewohnten Bodens erworben, der alte Besitz der ostgermanischen
Wanderstümme zurückgewonnen und erst damit dem deutschen Volkstum ein
Raum geschaffen worden, der den Gebieten der übrigen großen Nationen
Europas einigermaßen entsprach, denn dieses Kolonialland verwuchs untrennbar
mit dem Mutterlande, wie niemals sonst eine Kolonie.

Einen kolonialen Charakter trug also selbstverständlich auch diese ostdeutsche
Kultur. Aber koloniale Arbeit leisten nicht die schwächsten, sondern die stärksten
und tüchtigsten Elemente eines Volks, und eine koloniale Kultur nimmt doch
eben die Errungenschaften des Mutterlandes in sich auf. Ist die koloniale
Kultur jünger, so ist sie deshalb nicht ohne weiteres unreifer und niedriger,
sie ist in einzelnen Stücken sogar höher. Die Technik Nordamerikas, der
größten europäischen Kolonie, hat die europäische überflügelt; die europäische
Kultur ist viel jünger als die indische oder chinesische, aber sie steht deshalb
nicht tiefer, sondern ist in vielen Stücken weit überlegen. Gewiß, Westdeutschland
hat viel früher und unmittelbarer die römisch-keltische Mischkultur, die von
Frankreich und Italien hereindrang, aufgenommen, und hier ragen noch wohl¬
erhaltene, umgestaltete oder wenigstens in Resten noch sichtbare Denkmäler der
karolingischen und sogar der römischen Zeit in die Gegenwart herein, und die
Klöster, die wichtigsten Kulturstätten des frühen Mittelalters, gehn bis ins
achte Jahrhundert zurück. Von alledem ist im Osten nicht die Rede. Karl der
Große hat hier, wo er nur eine lockere Oberhoheit ausübte, die unter seinen
Nachfolgern wieder erlosch, keine Spuren seiner Wirksamkeit hinterlassen, die
Klosterstiftungen beginnen jenseits der Elbe und der Saale erst im zwölften Jahr¬
hundert, aus der romanischen Periode, der Blütezeit des mittelalterlichen Kaiser¬
tums und der ritterlichen Kultur, sind nur spärliche Denkmäler vorhanden; der
älteste Baustil, der diese weiten Gebiete beherrschte, ist der gotische, die Bauweise
der Blütezeit des deutschen Bürgertums und der aufsteigenden landesfürstlichen
Gewalt. Auch die mittelhochdeutsche Dichtung, die um das Jahr 1200 im Süd-
osten am Wiener Hofe einen glänzenden Mittelpunkt fand, drang nach dem
Nordosten nur in schwachen Ausläufer". Auch der wanderlustigste der deutschen
Sänger, Walther von der Vogelweide, ist nicht weiter als bis in die Mark
Meißen gekommen, und das eben (1212) gegründete Zisterzieuserkloster Dobrilugk
erschien ihm als ein trauriger Verbannungsort. Auch war das wortkarge, ver¬
schlossene niederdeutsche Wesen dem dichterischen Aussprechen von Empfindungen
und Gedanken nicht günstig; nicht umsonst heißt es: I^isig, non "antat. Noch
im sechzehnten Jahrhundert lag der Schwerpunkt der deutschen Kultur durchaus


West- und Ostdeutsch

unter verhältnismäßig schwachem Widerstande der Slawen okkupiert und besiedelt;
dagegen gelang es weder Ungarn noch Böhmen dem Deutschtum zu unterwerfen,
da sich dort einheimische fremde Staatsgewalten behaupteten; in Ungarn be¬
schränkte sich die deutsche Besiedlung auf vereinzelte Gruppen/in Böhmen (und
Mähren) auf den rings das Land umschließenden Markwald. Jedenfalls ist in
diesen wenigen Jahrhunderten die gute Hälfte des heute zusammenhängend von
Deutschen bewohnten Bodens erworben, der alte Besitz der ostgermanischen
Wanderstümme zurückgewonnen und erst damit dem deutschen Volkstum ein
Raum geschaffen worden, der den Gebieten der übrigen großen Nationen
Europas einigermaßen entsprach, denn dieses Kolonialland verwuchs untrennbar
mit dem Mutterlande, wie niemals sonst eine Kolonie.

Einen kolonialen Charakter trug also selbstverständlich auch diese ostdeutsche
Kultur. Aber koloniale Arbeit leisten nicht die schwächsten, sondern die stärksten
und tüchtigsten Elemente eines Volks, und eine koloniale Kultur nimmt doch
eben die Errungenschaften des Mutterlandes in sich auf. Ist die koloniale
Kultur jünger, so ist sie deshalb nicht ohne weiteres unreifer und niedriger,
sie ist in einzelnen Stücken sogar höher. Die Technik Nordamerikas, der
größten europäischen Kolonie, hat die europäische überflügelt; die europäische
Kultur ist viel jünger als die indische oder chinesische, aber sie steht deshalb
nicht tiefer, sondern ist in vielen Stücken weit überlegen. Gewiß, Westdeutschland
hat viel früher und unmittelbarer die römisch-keltische Mischkultur, die von
Frankreich und Italien hereindrang, aufgenommen, und hier ragen noch wohl¬
erhaltene, umgestaltete oder wenigstens in Resten noch sichtbare Denkmäler der
karolingischen und sogar der römischen Zeit in die Gegenwart herein, und die
Klöster, die wichtigsten Kulturstätten des frühen Mittelalters, gehn bis ins
achte Jahrhundert zurück. Von alledem ist im Osten nicht die Rede. Karl der
Große hat hier, wo er nur eine lockere Oberhoheit ausübte, die unter seinen
Nachfolgern wieder erlosch, keine Spuren seiner Wirksamkeit hinterlassen, die
Klosterstiftungen beginnen jenseits der Elbe und der Saale erst im zwölften Jahr¬
hundert, aus der romanischen Periode, der Blütezeit des mittelalterlichen Kaiser¬
tums und der ritterlichen Kultur, sind nur spärliche Denkmäler vorhanden; der
älteste Baustil, der diese weiten Gebiete beherrschte, ist der gotische, die Bauweise
der Blütezeit des deutschen Bürgertums und der aufsteigenden landesfürstlichen
Gewalt. Auch die mittelhochdeutsche Dichtung, die um das Jahr 1200 im Süd-
osten am Wiener Hofe einen glänzenden Mittelpunkt fand, drang nach dem
Nordosten nur in schwachen Ausläufer«. Auch der wanderlustigste der deutschen
Sänger, Walther von der Vogelweide, ist nicht weiter als bis in die Mark
Meißen gekommen, und das eben (1212) gegründete Zisterzieuserkloster Dobrilugk
erschien ihm als ein trauriger Verbannungsort. Auch war das wortkarge, ver¬
schlossene niederdeutsche Wesen dem dichterischen Aussprechen von Empfindungen
und Gedanken nicht günstig; nicht umsonst heißt es: I^isig, non «antat. Noch
im sechzehnten Jahrhundert lag der Schwerpunkt der deutschen Kultur durchaus


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[0191] West- und Ostdeutsch unter verhältnismäßig schwachem Widerstande der Slawen okkupiert und besiedelt; dagegen gelang es weder Ungarn noch Böhmen dem Deutschtum zu unterwerfen, da sich dort einheimische fremde Staatsgewalten behaupteten; in Ungarn be¬ schränkte sich die deutsche Besiedlung auf vereinzelte Gruppen/in Böhmen (und Mähren) auf den rings das Land umschließenden Markwald. Jedenfalls ist in diesen wenigen Jahrhunderten die gute Hälfte des heute zusammenhängend von Deutschen bewohnten Bodens erworben, der alte Besitz der ostgermanischen Wanderstümme zurückgewonnen und erst damit dem deutschen Volkstum ein Raum geschaffen worden, der den Gebieten der übrigen großen Nationen Europas einigermaßen entsprach, denn dieses Kolonialland verwuchs untrennbar mit dem Mutterlande, wie niemals sonst eine Kolonie. Einen kolonialen Charakter trug also selbstverständlich auch diese ostdeutsche Kultur. Aber koloniale Arbeit leisten nicht die schwächsten, sondern die stärksten und tüchtigsten Elemente eines Volks, und eine koloniale Kultur nimmt doch eben die Errungenschaften des Mutterlandes in sich auf. Ist die koloniale Kultur jünger, so ist sie deshalb nicht ohne weiteres unreifer und niedriger, sie ist in einzelnen Stücken sogar höher. Die Technik Nordamerikas, der größten europäischen Kolonie, hat die europäische überflügelt; die europäische Kultur ist viel jünger als die indische oder chinesische, aber sie steht deshalb nicht tiefer, sondern ist in vielen Stücken weit überlegen. Gewiß, Westdeutschland hat viel früher und unmittelbarer die römisch-keltische Mischkultur, die von Frankreich und Italien hereindrang, aufgenommen, und hier ragen noch wohl¬ erhaltene, umgestaltete oder wenigstens in Resten noch sichtbare Denkmäler der karolingischen und sogar der römischen Zeit in die Gegenwart herein, und die Klöster, die wichtigsten Kulturstätten des frühen Mittelalters, gehn bis ins achte Jahrhundert zurück. Von alledem ist im Osten nicht die Rede. Karl der Große hat hier, wo er nur eine lockere Oberhoheit ausübte, die unter seinen Nachfolgern wieder erlosch, keine Spuren seiner Wirksamkeit hinterlassen, die Klosterstiftungen beginnen jenseits der Elbe und der Saale erst im zwölften Jahr¬ hundert, aus der romanischen Periode, der Blütezeit des mittelalterlichen Kaiser¬ tums und der ritterlichen Kultur, sind nur spärliche Denkmäler vorhanden; der älteste Baustil, der diese weiten Gebiete beherrschte, ist der gotische, die Bauweise der Blütezeit des deutschen Bürgertums und der aufsteigenden landesfürstlichen Gewalt. Auch die mittelhochdeutsche Dichtung, die um das Jahr 1200 im Süd- osten am Wiener Hofe einen glänzenden Mittelpunkt fand, drang nach dem Nordosten nur in schwachen Ausläufer«. Auch der wanderlustigste der deutschen Sänger, Walther von der Vogelweide, ist nicht weiter als bis in die Mark Meißen gekommen, und das eben (1212) gegründete Zisterzieuserkloster Dobrilugk erschien ihm als ein trauriger Verbannungsort. Auch war das wortkarge, ver¬ schlossene niederdeutsche Wesen dem dichterischen Aussprechen von Empfindungen und Gedanken nicht günstig; nicht umsonst heißt es: I^isig, non «antat. Noch im sechzehnten Jahrhundert lag der Schwerpunkt der deutschen Kultur durchaus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/191>, abgerufen am 25.08.2024.