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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreich nach der Wahlreform

Von der Regierung eingeleitete Mandatenschacher, um den der Wettlauf zu¬
gunsten der Nation oder Partei eifrig gepflegt wurde. Die grundsätzliche
Frage: ob allgemeines Wahlrecht oder nicht, schien daneben gar nicht mehr
vorhanden zu sein. Das einzige politisch zulässige Motiv bei dieser eigen¬
artigen Strömung war höchstens die Absicht, dem Ministerium Beck, das sich
für die Wahlreform eingesetzt hatte, und dessen Entschiedenheit man im Kampfe
mit Ungarn brauchte, keine Schwierigkeiten zu bereiten.

Die Beratungen der Wahlreform im Abgeordnetenhause spiegelten dieses
Milieu wider. Die Redner der deutschen liberalen Parteien brachten eine
ganze Reihe von Einwänden vor, von denen jeder einzelne genügt Hütte, die
Vorlage abzulehnen, aber alle schlössen mit der Versicherung, sie würden ihr
möglichstes tun, um die Wahlreform durchzubringen. Mit lapidarer Klarheit
trat aus den umfangreichen Debatten der Satz des liberalen Großgrund¬
besitzers Dr. von Grabmayr heraus, daß das Wahlrecht kein angebornes
"Naturrecht" sei, sondern eine öffentliche Konzession, für deren Gewährung
nur die Rücksicht auf das Gemeinwohl maßgebend sei. Die liberale Presse
verspottete ihn deshalb, aber die Zukunft wird Gelegenheit genug bieten, die
Nichtigkeit dieses Gedankens einzusehen. Bei der entscheidenden Abstimmung
am 1. Dezember wurde die Wahlreform mit 194 gegen 63 Stimmen an¬
genommen, aber bezeichnenderweise fehlten nicht weniger als 168 Abgeordnete.
Der Jubel der liberalen und der sozialdemokratischen Presse darüber war ebenso
stürmisch wie ehrlich. Der Großgrundbesitz war aus dem Abgeordnetenhause
ausgeschaltet, man hat dem Adel wieder ein tüchtiges Stück Terrain ab¬
gewonnen, die Aussichten auf die Wiedergewinnung der Herrschaft in Wien
wachsen mit denen der Sozialdemokratie. Dafür hat man ein Abgeordneten¬
haus, in dem die Anzahl der Sitze in zehn Jahren von 353 auf 516 gewachsen
ist. Mit dem ziffermüßigen Anwachsen der Vertretungskörper hat bisher
überall die Verflachung des parlamentarischen Lebens zugenommen, und in
Osterreich wird und kann eS nicht anders sein. Jedenfalls ist die Hoffnung
aussichtslos, daß ein Parlament, worin die radikale Phrase noch mehr als
bisher die vernünftige Arbeit ersticken wird, Österreich von der Unterdrückung
durch Ungarn befreien wird.

Im Auslande, namentlich auch in Deutschland, hat die Teilnahme an
den unausgesetzten Streitigkeiten und Klagen in Österreich merkbar abgenommen,
auch die neue Wahlreform erregt wenig Interesse. Mau sieht, daß trotz des
vielfachen Geschreis Handel und Wandel dort doch gedeihlichen Fortgang
nehmen, daß trotz der anderswo ungebräuchlichen nationalen und parteilichen
Temperamentsausbrüche im allgemeinen die innere Ruhe keinen besondern
Schaden erleidet. Daß die in der Hauptsache nationalen Wirren, die
scheinbar einen bedrohlichen Charakter angenommen haben, meist nicht die
ihnen vielfach beigelegte Bedeutung haben, geht schon aus der unleugbaren
Tatsache hervor, daß die Stellung der Habsburgischen Gesmntmouarchie als


Grenzboten IV 1907 23
Österreich nach der Wahlreform

Von der Regierung eingeleitete Mandatenschacher, um den der Wettlauf zu¬
gunsten der Nation oder Partei eifrig gepflegt wurde. Die grundsätzliche
Frage: ob allgemeines Wahlrecht oder nicht, schien daneben gar nicht mehr
vorhanden zu sein. Das einzige politisch zulässige Motiv bei dieser eigen¬
artigen Strömung war höchstens die Absicht, dem Ministerium Beck, das sich
für die Wahlreform eingesetzt hatte, und dessen Entschiedenheit man im Kampfe
mit Ungarn brauchte, keine Schwierigkeiten zu bereiten.

Die Beratungen der Wahlreform im Abgeordnetenhause spiegelten dieses
Milieu wider. Die Redner der deutschen liberalen Parteien brachten eine
ganze Reihe von Einwänden vor, von denen jeder einzelne genügt Hütte, die
Vorlage abzulehnen, aber alle schlössen mit der Versicherung, sie würden ihr
möglichstes tun, um die Wahlreform durchzubringen. Mit lapidarer Klarheit
trat aus den umfangreichen Debatten der Satz des liberalen Großgrund¬
besitzers Dr. von Grabmayr heraus, daß das Wahlrecht kein angebornes
„Naturrecht" sei, sondern eine öffentliche Konzession, für deren Gewährung
nur die Rücksicht auf das Gemeinwohl maßgebend sei. Die liberale Presse
verspottete ihn deshalb, aber die Zukunft wird Gelegenheit genug bieten, die
Nichtigkeit dieses Gedankens einzusehen. Bei der entscheidenden Abstimmung
am 1. Dezember wurde die Wahlreform mit 194 gegen 63 Stimmen an¬
genommen, aber bezeichnenderweise fehlten nicht weniger als 168 Abgeordnete.
Der Jubel der liberalen und der sozialdemokratischen Presse darüber war ebenso
stürmisch wie ehrlich. Der Großgrundbesitz war aus dem Abgeordnetenhause
ausgeschaltet, man hat dem Adel wieder ein tüchtiges Stück Terrain ab¬
gewonnen, die Aussichten auf die Wiedergewinnung der Herrschaft in Wien
wachsen mit denen der Sozialdemokratie. Dafür hat man ein Abgeordneten¬
haus, in dem die Anzahl der Sitze in zehn Jahren von 353 auf 516 gewachsen
ist. Mit dem ziffermüßigen Anwachsen der Vertretungskörper hat bisher
überall die Verflachung des parlamentarischen Lebens zugenommen, und in
Osterreich wird und kann eS nicht anders sein. Jedenfalls ist die Hoffnung
aussichtslos, daß ein Parlament, worin die radikale Phrase noch mehr als
bisher die vernünftige Arbeit ersticken wird, Österreich von der Unterdrückung
durch Ungarn befreien wird.

Im Auslande, namentlich auch in Deutschland, hat die Teilnahme an
den unausgesetzten Streitigkeiten und Klagen in Österreich merkbar abgenommen,
auch die neue Wahlreform erregt wenig Interesse. Mau sieht, daß trotz des
vielfachen Geschreis Handel und Wandel dort doch gedeihlichen Fortgang
nehmen, daß trotz der anderswo ungebräuchlichen nationalen und parteilichen
Temperamentsausbrüche im allgemeinen die innere Ruhe keinen besondern
Schaden erleidet. Daß die in der Hauptsache nationalen Wirren, die
scheinbar einen bedrohlichen Charakter angenommen haben, meist nicht die
ihnen vielfach beigelegte Bedeutung haben, geht schon aus der unleugbaren
Tatsache hervor, daß die Stellung der Habsburgischen Gesmntmouarchie als


Grenzboten IV 1907 23
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[0181] Österreich nach der Wahlreform Von der Regierung eingeleitete Mandatenschacher, um den der Wettlauf zu¬ gunsten der Nation oder Partei eifrig gepflegt wurde. Die grundsätzliche Frage: ob allgemeines Wahlrecht oder nicht, schien daneben gar nicht mehr vorhanden zu sein. Das einzige politisch zulässige Motiv bei dieser eigen¬ artigen Strömung war höchstens die Absicht, dem Ministerium Beck, das sich für die Wahlreform eingesetzt hatte, und dessen Entschiedenheit man im Kampfe mit Ungarn brauchte, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die Beratungen der Wahlreform im Abgeordnetenhause spiegelten dieses Milieu wider. Die Redner der deutschen liberalen Parteien brachten eine ganze Reihe von Einwänden vor, von denen jeder einzelne genügt Hütte, die Vorlage abzulehnen, aber alle schlössen mit der Versicherung, sie würden ihr möglichstes tun, um die Wahlreform durchzubringen. Mit lapidarer Klarheit trat aus den umfangreichen Debatten der Satz des liberalen Großgrund¬ besitzers Dr. von Grabmayr heraus, daß das Wahlrecht kein angebornes „Naturrecht" sei, sondern eine öffentliche Konzession, für deren Gewährung nur die Rücksicht auf das Gemeinwohl maßgebend sei. Die liberale Presse verspottete ihn deshalb, aber die Zukunft wird Gelegenheit genug bieten, die Nichtigkeit dieses Gedankens einzusehen. Bei der entscheidenden Abstimmung am 1. Dezember wurde die Wahlreform mit 194 gegen 63 Stimmen an¬ genommen, aber bezeichnenderweise fehlten nicht weniger als 168 Abgeordnete. Der Jubel der liberalen und der sozialdemokratischen Presse darüber war ebenso stürmisch wie ehrlich. Der Großgrundbesitz war aus dem Abgeordnetenhause ausgeschaltet, man hat dem Adel wieder ein tüchtiges Stück Terrain ab¬ gewonnen, die Aussichten auf die Wiedergewinnung der Herrschaft in Wien wachsen mit denen der Sozialdemokratie. Dafür hat man ein Abgeordneten¬ haus, in dem die Anzahl der Sitze in zehn Jahren von 353 auf 516 gewachsen ist. Mit dem ziffermüßigen Anwachsen der Vertretungskörper hat bisher überall die Verflachung des parlamentarischen Lebens zugenommen, und in Osterreich wird und kann eS nicht anders sein. Jedenfalls ist die Hoffnung aussichtslos, daß ein Parlament, worin die radikale Phrase noch mehr als bisher die vernünftige Arbeit ersticken wird, Österreich von der Unterdrückung durch Ungarn befreien wird. Im Auslande, namentlich auch in Deutschland, hat die Teilnahme an den unausgesetzten Streitigkeiten und Klagen in Österreich merkbar abgenommen, auch die neue Wahlreform erregt wenig Interesse. Mau sieht, daß trotz des vielfachen Geschreis Handel und Wandel dort doch gedeihlichen Fortgang nehmen, daß trotz der anderswo ungebräuchlichen nationalen und parteilichen Temperamentsausbrüche im allgemeinen die innere Ruhe keinen besondern Schaden erleidet. Daß die in der Hauptsache nationalen Wirren, die scheinbar einen bedrohlichen Charakter angenommen haben, meist nicht die ihnen vielfach beigelegte Bedeutung haben, geht schon aus der unleugbaren Tatsache hervor, daß die Stellung der Habsburgischen Gesmntmouarchie als Grenzboten IV 1907 23

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/181>, abgerufen am 22.07.2024.