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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Ästerreich nach der ZVcchlreform

machen, die gänzlich verfahrnen parlamentarischen Verhältnisse durch das all¬
gemeine Wahlrecht zu heilen. Neu war nur, daß er sich persönlich dafür ein¬
setzte, und es dürfte von Interesse sein, ob er auch den Ungarn gegenüber
denselben Standpunkt einnehmen wird. Bei der rein theoretischen Ausbildung
mochte es dem österreichischen höhern Beamtentum ganz einleuchtend erscheinen,
die unlösbaren Schwierigkeiten des gegenwärtigen Parlamentarismus durch
einen nach der sozialistischen Doktrin vervollkommneten Parlamentarismus zu
überwinden. Man hatte ja in Österreich schon soviel experimentiert, warum
sollte man es nicht auch einmal damit versuchen? Daher die plötzliche Be¬
geisterung, auch von oben her, von der kapitalistischen Presse ganz zu schweigen,
für die Wahlreform, die nun, nachdem man sich einmal dafür entschieden
hatte, auch mit allen Mitteln durchgedrückt wurde. Offiziöse und "unabhängige"
Blätter schütteten täglich die goldensten Hoffnungen und Versprechungen über
die Segnungen des künftigen "Volkshauses" auf die zagende Leserwelt aus.
Wer vermochte dagegen Widerstand zu leisten?

Widerstand konnte eigentlich blosz von den Deutschen und dem Großgrund¬
besitz kommen. Jene hatten von der Verallgemeinerung des Wahlrechts nur
schwere Verluste zu erwarten, dieser sollte sein bevorrechtetes Wahlrecht über¬
haupt verlieren. Beide besaßen aber keine Presse. Die Deutschliberalen hatten
ihre Interessen bisher immer von der Börsenpresse im Nebengeschüft vertreten
lassen, diese setzte sich aber jetzt lebhaft für das allgemeine Wahlrecht ein,
gegen das die Liberalen sich auch nicht leicht erklären mochten, da sie überhaupt,
durch die börsenliberale Presse verleitet, sich von jeher gern in großliberalen
Phrasen berauscht hatten. Die christlichsozialen Blätter nahmen aus taktischen
Gründen, wenn auch nicht leichten Herzens, wegen des Kampfes um Wien
für das allgemeine Wahlrecht Partei, und einzelne zu Worte kommende Gro߬
grundbesitzer wurden mit ihren Befürchtungen von den liberalen und sozial-
demokratischen Zeitungen als Verfechter einseitiger Standesprivilegien abgetan.
Selbst die polnische Adelspartei konnte trotz des sicher in Aussicht stehenden
Verlustes an die Ruthenen ihre Opposition gegen die Wahlreform wegen des
Widerstands der polnischen Demokratie nicht aufrechterhalten. Die russische
demokratische Welle schien nach Österreich hinübcrschlagen zu wollen. Ernster
Widerspruch wurde kaum laut; wer einmal die Hand geboten hatte, wurde
nicht wieder losgelassen, widerstrebende Parteien wurden durch die Par¬
lamentarisierung des Ministeriums beschwichtigt. Die technische Findigkeit des
österreichischen Beamtentums feierte ihren Triumph durch die Aufstellung neuer
Mandate, um die mit Parteien und Parlamentariern ein schwunghaftes Handels¬
geschäft getrieben wurde. Dabei trat so recht deutlich zutage, wie tief der
österreichische Parlamentarismus gesunken war. Seit einem Jahrzehnt aller
wirklichen parlamentarischen Tätigkeit entwöhnt, hatten die Abgeordneten ihre
Hauptaufgabe darin gesucht, bei den Ministern personale und lokale Angelegen¬
heiten im Interesse der Partei durchzusetzen. Dazu paßte nun ganz gut der


Ästerreich nach der ZVcchlreform

machen, die gänzlich verfahrnen parlamentarischen Verhältnisse durch das all¬
gemeine Wahlrecht zu heilen. Neu war nur, daß er sich persönlich dafür ein¬
setzte, und es dürfte von Interesse sein, ob er auch den Ungarn gegenüber
denselben Standpunkt einnehmen wird. Bei der rein theoretischen Ausbildung
mochte es dem österreichischen höhern Beamtentum ganz einleuchtend erscheinen,
die unlösbaren Schwierigkeiten des gegenwärtigen Parlamentarismus durch
einen nach der sozialistischen Doktrin vervollkommneten Parlamentarismus zu
überwinden. Man hatte ja in Österreich schon soviel experimentiert, warum
sollte man es nicht auch einmal damit versuchen? Daher die plötzliche Be¬
geisterung, auch von oben her, von der kapitalistischen Presse ganz zu schweigen,
für die Wahlreform, die nun, nachdem man sich einmal dafür entschieden
hatte, auch mit allen Mitteln durchgedrückt wurde. Offiziöse und „unabhängige"
Blätter schütteten täglich die goldensten Hoffnungen und Versprechungen über
die Segnungen des künftigen „Volkshauses" auf die zagende Leserwelt aus.
Wer vermochte dagegen Widerstand zu leisten?

Widerstand konnte eigentlich blosz von den Deutschen und dem Großgrund¬
besitz kommen. Jene hatten von der Verallgemeinerung des Wahlrechts nur
schwere Verluste zu erwarten, dieser sollte sein bevorrechtetes Wahlrecht über¬
haupt verlieren. Beide besaßen aber keine Presse. Die Deutschliberalen hatten
ihre Interessen bisher immer von der Börsenpresse im Nebengeschüft vertreten
lassen, diese setzte sich aber jetzt lebhaft für das allgemeine Wahlrecht ein,
gegen das die Liberalen sich auch nicht leicht erklären mochten, da sie überhaupt,
durch die börsenliberale Presse verleitet, sich von jeher gern in großliberalen
Phrasen berauscht hatten. Die christlichsozialen Blätter nahmen aus taktischen
Gründen, wenn auch nicht leichten Herzens, wegen des Kampfes um Wien
für das allgemeine Wahlrecht Partei, und einzelne zu Worte kommende Gro߬
grundbesitzer wurden mit ihren Befürchtungen von den liberalen und sozial-
demokratischen Zeitungen als Verfechter einseitiger Standesprivilegien abgetan.
Selbst die polnische Adelspartei konnte trotz des sicher in Aussicht stehenden
Verlustes an die Ruthenen ihre Opposition gegen die Wahlreform wegen des
Widerstands der polnischen Demokratie nicht aufrechterhalten. Die russische
demokratische Welle schien nach Österreich hinübcrschlagen zu wollen. Ernster
Widerspruch wurde kaum laut; wer einmal die Hand geboten hatte, wurde
nicht wieder losgelassen, widerstrebende Parteien wurden durch die Par¬
lamentarisierung des Ministeriums beschwichtigt. Die technische Findigkeit des
österreichischen Beamtentums feierte ihren Triumph durch die Aufstellung neuer
Mandate, um die mit Parteien und Parlamentariern ein schwunghaftes Handels¬
geschäft getrieben wurde. Dabei trat so recht deutlich zutage, wie tief der
österreichische Parlamentarismus gesunken war. Seit einem Jahrzehnt aller
wirklichen parlamentarischen Tätigkeit entwöhnt, hatten die Abgeordneten ihre
Hauptaufgabe darin gesucht, bei den Ministern personale und lokale Angelegen¬
heiten im Interesse der Partei durchzusetzen. Dazu paßte nun ganz gut der


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[0180] Ästerreich nach der ZVcchlreform machen, die gänzlich verfahrnen parlamentarischen Verhältnisse durch das all¬ gemeine Wahlrecht zu heilen. Neu war nur, daß er sich persönlich dafür ein¬ setzte, und es dürfte von Interesse sein, ob er auch den Ungarn gegenüber denselben Standpunkt einnehmen wird. Bei der rein theoretischen Ausbildung mochte es dem österreichischen höhern Beamtentum ganz einleuchtend erscheinen, die unlösbaren Schwierigkeiten des gegenwärtigen Parlamentarismus durch einen nach der sozialistischen Doktrin vervollkommneten Parlamentarismus zu überwinden. Man hatte ja in Österreich schon soviel experimentiert, warum sollte man es nicht auch einmal damit versuchen? Daher die plötzliche Be¬ geisterung, auch von oben her, von der kapitalistischen Presse ganz zu schweigen, für die Wahlreform, die nun, nachdem man sich einmal dafür entschieden hatte, auch mit allen Mitteln durchgedrückt wurde. Offiziöse und „unabhängige" Blätter schütteten täglich die goldensten Hoffnungen und Versprechungen über die Segnungen des künftigen „Volkshauses" auf die zagende Leserwelt aus. Wer vermochte dagegen Widerstand zu leisten? Widerstand konnte eigentlich blosz von den Deutschen und dem Großgrund¬ besitz kommen. Jene hatten von der Verallgemeinerung des Wahlrechts nur schwere Verluste zu erwarten, dieser sollte sein bevorrechtetes Wahlrecht über¬ haupt verlieren. Beide besaßen aber keine Presse. Die Deutschliberalen hatten ihre Interessen bisher immer von der Börsenpresse im Nebengeschüft vertreten lassen, diese setzte sich aber jetzt lebhaft für das allgemeine Wahlrecht ein, gegen das die Liberalen sich auch nicht leicht erklären mochten, da sie überhaupt, durch die börsenliberale Presse verleitet, sich von jeher gern in großliberalen Phrasen berauscht hatten. Die christlichsozialen Blätter nahmen aus taktischen Gründen, wenn auch nicht leichten Herzens, wegen des Kampfes um Wien für das allgemeine Wahlrecht Partei, und einzelne zu Worte kommende Gro߬ grundbesitzer wurden mit ihren Befürchtungen von den liberalen und sozial- demokratischen Zeitungen als Verfechter einseitiger Standesprivilegien abgetan. Selbst die polnische Adelspartei konnte trotz des sicher in Aussicht stehenden Verlustes an die Ruthenen ihre Opposition gegen die Wahlreform wegen des Widerstands der polnischen Demokratie nicht aufrechterhalten. Die russische demokratische Welle schien nach Österreich hinübcrschlagen zu wollen. Ernster Widerspruch wurde kaum laut; wer einmal die Hand geboten hatte, wurde nicht wieder losgelassen, widerstrebende Parteien wurden durch die Par¬ lamentarisierung des Ministeriums beschwichtigt. Die technische Findigkeit des österreichischen Beamtentums feierte ihren Triumph durch die Aufstellung neuer Mandate, um die mit Parteien und Parlamentariern ein schwunghaftes Handels¬ geschäft getrieben wurde. Dabei trat so recht deutlich zutage, wie tief der österreichische Parlamentarismus gesunken war. Seit einem Jahrzehnt aller wirklichen parlamentarischen Tätigkeit entwöhnt, hatten die Abgeordneten ihre Hauptaufgabe darin gesucht, bei den Ministern personale und lokale Angelegen¬ heiten im Interesse der Partei durchzusetzen. Dazu paßte nun ganz gut der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/180>, abgerufen am 23.07.2024.