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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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"Österreich nach der ZVahlreform

Börsenliberalismus erfochten hat. Natürlich spricht die Presse nicht von den
Herrschaftsgelüsten auf Wien, sondern sie kämpft unentwegt für Freiheit und
Fortschritt gegen Klerikalismus und Reaktion, aber die Wiedergewinnung von
Wien ist seit einem Jahrzehnt das Hauptziel. Badeni ist ja seinerzeit nicht
wegen der Sprachenverordnungen gestürzt worden, sondern weil er Dr. Lueger
als Bürgermeister von Wien bestätigt hatte. Vorher war er der Wiener Presse
ganz recht, und die Unzufriedenheit der Deutschen mit den Sprachen¬
verordnungen wäre ohne die spätere Hetzarbeit der Zeitungen keinesfalls zu
bedeutenden Ausbrüchen gekommen. Das Parlament ist seitdem verwüstet
worden, aber Lueger ist in Wien fest sitzen geblieben und kann mit seinen
Christlichsozialen nur mit Hilfe der Sozialdemokraten wieder beseitigt werden.
Darum malt ihn die Wiener Presse als einen Erzklerikalen und ist schon seit
einem Jahrzehnt bei allen Wahlen für die Unterstützung der Sozialdemokratie
eingetreten. Diesen Kreisen war die Parole für das allgemeine Wahlrecht sehr
willkommen, denn nur dadurch konnte jene Stärkung der Sozialdemokratie er¬
reicht werden, die man für die Wiedereroberung von Wien brauchte. Lueger
erkannte deutlich die Gefahr, die ein Sturm für das allgemeine Wahlrecht der
Stellung der Christlichsozialen in Wien und Niederösterreich gebracht hätte,
und erklärte sich selbst schleunigst dafür. Durch dieses Zusammenwirken ganz
verschiedner Interessen ergab sich die seltsame Erscheinung, daß die Wahlreform
fast gar keine Gegnerschaft in der Presse fand; selbst in Wien, wo doch an
oppositionellen Zeitungsstimmen sonst kein Mangel ist, waren nur zwei Blätter
dagegen, christlichsoziale, sozialdemokratische und börsenliberale Zeitungen er¬
eiferten sich um die Wette für das allgemeine Wahlrecht. Während kurz
vorher außer den Sozialdemokraten kein Mensch ernstlich daran gedacht hatte,
entstand jetzt mit einemmal eine Strömung dafür. Für die Besorgnisse der
deutschen Bevölkerung, die der Neuerung mit tiefem Mißtrauen entgegensah,
fand sich kein Organ, denn die hauptstädtische Vörsenpresse und ihre Ableger
in der Provinz, die sich bisher als Wahrer des Deutschtums ausgegeben
hatten, verfolgten wie immer ihre Interessen und suchten den Deutschen ihre
wohlbegründeten Befürchtungen auszureden. Wieder einmal hatte das Deutschtum
keinen Vertreter in der Presse, und die deutschen Abgeordneten taten gewohnter¬
maßen genau das, was ihnen die Börsenpresse einredete.

Aber das alles zusammen hätte das allgemeine Wahlrecht für Österreich
noch immer nicht zustande gebracht, wenn nicht, in den hohen Beamtenkreisen
eine starke Stimmung dafür geherrscht Hütte, die schließlich zum Leitmotiv
wurde. Julius Patzelt hat schon in den Grenzboten (Heft 20, 1906) aus¬
geführt, wie der größte Teil der österreichischen Beamtenschaft auf der Wiener
Universität durch die Kathedersozialistik der Gebrüder Mcnger sozialdemo¬
kratischen Ideen zugänglich und zu Gläubigen an das allgemeine Stimmrecht
gemacht worden ist. Seit dem Ende der Ära Taaffe ist dieser Gedanke nicht
wieder aus den Wiener Ministerstuben verschwunden, und das Auftauchen des


«Österreich nach der ZVahlreform

Börsenliberalismus erfochten hat. Natürlich spricht die Presse nicht von den
Herrschaftsgelüsten auf Wien, sondern sie kämpft unentwegt für Freiheit und
Fortschritt gegen Klerikalismus und Reaktion, aber die Wiedergewinnung von
Wien ist seit einem Jahrzehnt das Hauptziel. Badeni ist ja seinerzeit nicht
wegen der Sprachenverordnungen gestürzt worden, sondern weil er Dr. Lueger
als Bürgermeister von Wien bestätigt hatte. Vorher war er der Wiener Presse
ganz recht, und die Unzufriedenheit der Deutschen mit den Sprachen¬
verordnungen wäre ohne die spätere Hetzarbeit der Zeitungen keinesfalls zu
bedeutenden Ausbrüchen gekommen. Das Parlament ist seitdem verwüstet
worden, aber Lueger ist in Wien fest sitzen geblieben und kann mit seinen
Christlichsozialen nur mit Hilfe der Sozialdemokraten wieder beseitigt werden.
Darum malt ihn die Wiener Presse als einen Erzklerikalen und ist schon seit
einem Jahrzehnt bei allen Wahlen für die Unterstützung der Sozialdemokratie
eingetreten. Diesen Kreisen war die Parole für das allgemeine Wahlrecht sehr
willkommen, denn nur dadurch konnte jene Stärkung der Sozialdemokratie er¬
reicht werden, die man für die Wiedereroberung von Wien brauchte. Lueger
erkannte deutlich die Gefahr, die ein Sturm für das allgemeine Wahlrecht der
Stellung der Christlichsozialen in Wien und Niederösterreich gebracht hätte,
und erklärte sich selbst schleunigst dafür. Durch dieses Zusammenwirken ganz
verschiedner Interessen ergab sich die seltsame Erscheinung, daß die Wahlreform
fast gar keine Gegnerschaft in der Presse fand; selbst in Wien, wo doch an
oppositionellen Zeitungsstimmen sonst kein Mangel ist, waren nur zwei Blätter
dagegen, christlichsoziale, sozialdemokratische und börsenliberale Zeitungen er¬
eiferten sich um die Wette für das allgemeine Wahlrecht. Während kurz
vorher außer den Sozialdemokraten kein Mensch ernstlich daran gedacht hatte,
entstand jetzt mit einemmal eine Strömung dafür. Für die Besorgnisse der
deutschen Bevölkerung, die der Neuerung mit tiefem Mißtrauen entgegensah,
fand sich kein Organ, denn die hauptstädtische Vörsenpresse und ihre Ableger
in der Provinz, die sich bisher als Wahrer des Deutschtums ausgegeben
hatten, verfolgten wie immer ihre Interessen und suchten den Deutschen ihre
wohlbegründeten Befürchtungen auszureden. Wieder einmal hatte das Deutschtum
keinen Vertreter in der Presse, und die deutschen Abgeordneten taten gewohnter¬
maßen genau das, was ihnen die Börsenpresse einredete.

Aber das alles zusammen hätte das allgemeine Wahlrecht für Österreich
noch immer nicht zustande gebracht, wenn nicht, in den hohen Beamtenkreisen
eine starke Stimmung dafür geherrscht Hütte, die schließlich zum Leitmotiv
wurde. Julius Patzelt hat schon in den Grenzboten (Heft 20, 1906) aus¬
geführt, wie der größte Teil der österreichischen Beamtenschaft auf der Wiener
Universität durch die Kathedersozialistik der Gebrüder Mcnger sozialdemo¬
kratischen Ideen zugänglich und zu Gläubigen an das allgemeine Stimmrecht
gemacht worden ist. Seit dem Ende der Ära Taaffe ist dieser Gedanke nicht
wieder aus den Wiener Ministerstuben verschwunden, und das Auftauchen des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/178>, abgerufen am 23.07.2024.