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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreich nach der Mahlreform

fühigkeit im Abgeordnetenhause zur Folge. Wir brauchen kaum noch hinzu¬
zufügen, daß die erst ein Jahrzehnt zurückliegende Einführung der fünften
(allgemeinen) Kurie, die 72 Abgeordnete durch allgemeine Wahlen in das
Parlament schickte, die Obstruktion zur dauernden Einrichtung gemacht und
die Tätigkeit des Hauses vollständig gelähmt hat. Konnte nach diesen Er¬
fahrungen, für die die Analogien im Auslande mit Händen zu greifen sind,
für Österreich wirklich auf dem Wege der Erweiterung des Wahlrechts das
Heilmittel zur Gesundung des Parlamentarismus gefunden werden?

Neben diesen Gedanken allgemeiner politischer Natur war nun auch ohne
weiteres klar, daß durch das allgemeine Wahlrecht der parlamentarische Einfluß
des Deutschtums wieder und noch mehr zurückgedrängt werden mußte. als es
schon unter dem Kurienparlament geschehen war. Unter Berücksichtigung aller
dieser Dinge ist die Frage nach den Einflüssen berechtigt, die einer so wenig
versprechenden Maßregel in so übersetzten Tempo zur Einführung verhalfen.
Es ist schon einmal in den Grenzboten (Heft 6, 1905) darauf hingewiesen
worden, daß in Österreich wie im gesamten westlichen Europa ein mehr oder
weniger offen betriebner Kampf des mobilen Großkapitals gegen den ererbten
Großgrundbesitz um den politischen Einfluß im Staate besteht. Dieser Kampf
wird meist unter der Flagge des Liberalismus und der Freiheit gegen die so¬
genannten Agrarier und die "Reaktionäre" im allgemeinen geführt, in Frank¬
reich ist er vorläufig zugunsten der Börse entschieden. In Österreich hat als
Deckmantel der Nationalitütenstreit herhalten müssen, der darum nie zur Ruhe
kommen konnte, auch wenn der Ausgleich zeitweilig nur noch durch eine
"papierne Wand" gehindert wurde. Die Rufer im Streite merkten nicht, daß
sie nur als Marionetten dienten in dem geheimen Spiel, das eine gewandte
Bearbeitung der öffentlichen Meinung leitete zu dem ausschließlichen Zwecke,
den Großgrundbesitz zu spalten und dadurch seine Macht zu brechen. Dieses
Spiel ist seit vier Jahrzehnten betrieben worden, hat nach und nach das
Deutschtum um seinen Einfluß gebracht, den Parlamentarismus zerrüttet und
jede Initiative der Regierung gebrochen. Jede Entscheidung der Krone, die
dieser Richtung mißfiel, wurde auf Einwirkung einer "Kamarilla", das heißt
des Großgrundbesitzes, geschoben, während in Wien jedes Kind weiß, daß die
Vorzimmer aller Ministerien von Sendungen der Börse belagert werden, die
Einflüsse aller Art zur Geltung bringen möchten und nicht selten Erfolg haben.
Dieser Richtung konnte nichts willkommner sein als der Gedanke einer Wahl¬
reform, die mit den 85 Mandaten der Großgruudbesitzerkurie einfach tabula
rasa machte. Sie stellte darum ihre einflußreiche Presse in den Dienst der
Wahlrechtsbewegung.

Hierzu kam noch ein andres: der Kampf um Wien. Es ist in den Grenz-
boten auch schon darauf hingewiesen worden, daß der Kampf um Wien bei
allen politischen Fragen in Österreich in erster Reihe beeinflussend wirkte seit
dem Siege, den Dr. Lueger mit seinen Christlichsozialen in Wien über den


Österreich nach der Mahlreform

fühigkeit im Abgeordnetenhause zur Folge. Wir brauchen kaum noch hinzu¬
zufügen, daß die erst ein Jahrzehnt zurückliegende Einführung der fünften
(allgemeinen) Kurie, die 72 Abgeordnete durch allgemeine Wahlen in das
Parlament schickte, die Obstruktion zur dauernden Einrichtung gemacht und
die Tätigkeit des Hauses vollständig gelähmt hat. Konnte nach diesen Er¬
fahrungen, für die die Analogien im Auslande mit Händen zu greifen sind,
für Österreich wirklich auf dem Wege der Erweiterung des Wahlrechts das
Heilmittel zur Gesundung des Parlamentarismus gefunden werden?

Neben diesen Gedanken allgemeiner politischer Natur war nun auch ohne
weiteres klar, daß durch das allgemeine Wahlrecht der parlamentarische Einfluß
des Deutschtums wieder und noch mehr zurückgedrängt werden mußte. als es
schon unter dem Kurienparlament geschehen war. Unter Berücksichtigung aller
dieser Dinge ist die Frage nach den Einflüssen berechtigt, die einer so wenig
versprechenden Maßregel in so übersetzten Tempo zur Einführung verhalfen.
Es ist schon einmal in den Grenzboten (Heft 6, 1905) darauf hingewiesen
worden, daß in Österreich wie im gesamten westlichen Europa ein mehr oder
weniger offen betriebner Kampf des mobilen Großkapitals gegen den ererbten
Großgrundbesitz um den politischen Einfluß im Staate besteht. Dieser Kampf
wird meist unter der Flagge des Liberalismus und der Freiheit gegen die so¬
genannten Agrarier und die „Reaktionäre" im allgemeinen geführt, in Frank¬
reich ist er vorläufig zugunsten der Börse entschieden. In Österreich hat als
Deckmantel der Nationalitütenstreit herhalten müssen, der darum nie zur Ruhe
kommen konnte, auch wenn der Ausgleich zeitweilig nur noch durch eine
„papierne Wand" gehindert wurde. Die Rufer im Streite merkten nicht, daß
sie nur als Marionetten dienten in dem geheimen Spiel, das eine gewandte
Bearbeitung der öffentlichen Meinung leitete zu dem ausschließlichen Zwecke,
den Großgrundbesitz zu spalten und dadurch seine Macht zu brechen. Dieses
Spiel ist seit vier Jahrzehnten betrieben worden, hat nach und nach das
Deutschtum um seinen Einfluß gebracht, den Parlamentarismus zerrüttet und
jede Initiative der Regierung gebrochen. Jede Entscheidung der Krone, die
dieser Richtung mißfiel, wurde auf Einwirkung einer „Kamarilla", das heißt
des Großgrundbesitzes, geschoben, während in Wien jedes Kind weiß, daß die
Vorzimmer aller Ministerien von Sendungen der Börse belagert werden, die
Einflüsse aller Art zur Geltung bringen möchten und nicht selten Erfolg haben.
Dieser Richtung konnte nichts willkommner sein als der Gedanke einer Wahl¬
reform, die mit den 85 Mandaten der Großgruudbesitzerkurie einfach tabula
rasa machte. Sie stellte darum ihre einflußreiche Presse in den Dienst der
Wahlrechtsbewegung.

Hierzu kam noch ein andres: der Kampf um Wien. Es ist in den Grenz-
boten auch schon darauf hingewiesen worden, daß der Kampf um Wien bei
allen politischen Fragen in Österreich in erster Reihe beeinflussend wirkte seit
dem Siege, den Dr. Lueger mit seinen Christlichsozialen in Wien über den


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[0177] Österreich nach der Mahlreform fühigkeit im Abgeordnetenhause zur Folge. Wir brauchen kaum noch hinzu¬ zufügen, daß die erst ein Jahrzehnt zurückliegende Einführung der fünften (allgemeinen) Kurie, die 72 Abgeordnete durch allgemeine Wahlen in das Parlament schickte, die Obstruktion zur dauernden Einrichtung gemacht und die Tätigkeit des Hauses vollständig gelähmt hat. Konnte nach diesen Er¬ fahrungen, für die die Analogien im Auslande mit Händen zu greifen sind, für Österreich wirklich auf dem Wege der Erweiterung des Wahlrechts das Heilmittel zur Gesundung des Parlamentarismus gefunden werden? Neben diesen Gedanken allgemeiner politischer Natur war nun auch ohne weiteres klar, daß durch das allgemeine Wahlrecht der parlamentarische Einfluß des Deutschtums wieder und noch mehr zurückgedrängt werden mußte. als es schon unter dem Kurienparlament geschehen war. Unter Berücksichtigung aller dieser Dinge ist die Frage nach den Einflüssen berechtigt, die einer so wenig versprechenden Maßregel in so übersetzten Tempo zur Einführung verhalfen. Es ist schon einmal in den Grenzboten (Heft 6, 1905) darauf hingewiesen worden, daß in Österreich wie im gesamten westlichen Europa ein mehr oder weniger offen betriebner Kampf des mobilen Großkapitals gegen den ererbten Großgrundbesitz um den politischen Einfluß im Staate besteht. Dieser Kampf wird meist unter der Flagge des Liberalismus und der Freiheit gegen die so¬ genannten Agrarier und die „Reaktionäre" im allgemeinen geführt, in Frank¬ reich ist er vorläufig zugunsten der Börse entschieden. In Österreich hat als Deckmantel der Nationalitütenstreit herhalten müssen, der darum nie zur Ruhe kommen konnte, auch wenn der Ausgleich zeitweilig nur noch durch eine „papierne Wand" gehindert wurde. Die Rufer im Streite merkten nicht, daß sie nur als Marionetten dienten in dem geheimen Spiel, das eine gewandte Bearbeitung der öffentlichen Meinung leitete zu dem ausschließlichen Zwecke, den Großgrundbesitz zu spalten und dadurch seine Macht zu brechen. Dieses Spiel ist seit vier Jahrzehnten betrieben worden, hat nach und nach das Deutschtum um seinen Einfluß gebracht, den Parlamentarismus zerrüttet und jede Initiative der Regierung gebrochen. Jede Entscheidung der Krone, die dieser Richtung mißfiel, wurde auf Einwirkung einer „Kamarilla", das heißt des Großgrundbesitzes, geschoben, während in Wien jedes Kind weiß, daß die Vorzimmer aller Ministerien von Sendungen der Börse belagert werden, die Einflüsse aller Art zur Geltung bringen möchten und nicht selten Erfolg haben. Dieser Richtung konnte nichts willkommner sein als der Gedanke einer Wahl¬ reform, die mit den 85 Mandaten der Großgruudbesitzerkurie einfach tabula rasa machte. Sie stellte darum ihre einflußreiche Presse in den Dienst der Wahlrechtsbewegung. Hierzu kam noch ein andres: der Kampf um Wien. Es ist in den Grenz- boten auch schon darauf hingewiesen worden, daß der Kampf um Wien bei allen politischen Fragen in Österreich in erster Reihe beeinflussend wirkte seit dem Siege, den Dr. Lueger mit seinen Christlichsozialen in Wien über den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/177>, abgerufen am 23.07.2024.