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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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"Österreich nach der Wahlreform

einer großen Zeit vorüber war, und die Kunst der Wahltechniker das Feld
behauptete, ging das "hohe Haus" an Ansehen der Personen wie der Be¬
ratungen bedeutend zurück und konnte nur, wie eben jetzt wieder, ab und zu
durch einen Weckruf der Regierung an den schlummernden Volksgeist zu einer
zeitweiligen Auffrischung gebracht werden. Der Einführung des allgemeinen
Wahlrechts in Österreich fehlte der große historische Hintergrund, und weder
der Standpunkt des Ministerpräsidenten von Beck, "man müsse die weitesten
Kreise der Bevölkerung an die staatlichen Interessen fesseln und den Staatssinn
in möglichst tiefe Schichten tragen", noch die künstlich erhitzte Agitation ge¬
wisser Blätter, die ganz andre Zwecke dabei im Auge hatten, konnten einen
Ersatz dafür bieten. Das Resultat der ersten Wahl mußte darum auch hinter
den bescheidensten Erwartungen zurückbleiben. Einen Trost wollte man darin
finden, daß wenigstens die Hanptschreier der nationalen Radikalen nicht wieder¬
gewählt worden waren. Im übrigen herrschte die ausgesprochenste Mittel¬
mäßigkeit vor, und einen Erfolg über alles Erwarten hatten die Sozial-
demokraten erreicht, die aber merkwürdigerweise in Österreich weder die Re¬
gierung noch die führende Presse zu den Radikalen zu rechnen scheint. Sie
haben nicht weniger als 49 Mandate erobert und sitzen im ganzen 85 Mann
hoch im Parlament. Das ist für die Zukunft des "neuen Österreich" gerade
nicht glückverheißend, um so mehr, da die Hoffnungen der Staatssozialisten,
das allgemeine Wahlrecht werde den nationalen Hader beseitigen, auch nicht
im geringsten erfüllt worden sind. Im Gegenteil, zu den alten Gegensätzen
sind noch neue hinzugetreten."

Wie im frühern Hause, dem "Kurienparlament, steht der Deutsche gegen
den Tschechen, der Ruthene gegen den Polen, der Föderalismus gegen den
Zentralismus, das böhmische Staatsrecht gegen den Einheitsstaat. Die Sprachen¬
frage, deren Beseitigung bei den Beratungen über die Wahlreform in sichere
Aussicht gestellt wurde, ist aufdringlicher als je in den Vordergund getreten,
hat doch sogar schon ein Ruthene eine russische Rede gehalten. Und wenn er
dies auch bloß tat, um die Polen zu ärgern, so zeigt doch gerade der Vorfall,
was in diesem "Volkshaufe" möglich ist, und wie wenig seine Zusammensetzung
geeignet erscheint, die Grundlage für eine ersprießliche parlamentarische Tätigkeit
abzugeben. Nirgends hat sich ein Anlauf gezeigt, der neuen Zeit gerecht zu
werden, die die Schöpfer des Wahlverfahrens zu seiner Empfehlung so hoff¬
nungsvoll angepriesen hatten. Wenn irgendwo, durfte man doch schon vorher
in Österreich-Ungarn fragen, ob denn in diesem Staate mit seinen zahlreichen
Nationen von so ungleicher Bildung und Kultur der Parlamentarismus
wirklich die richtige, durch die Verhältnisse gebotne Regierungsform sei. Wenn
man darauf gewissenhaft antworten wollte, mußte man die Überzeugung aus¬
sprechen, daß er ursprünglich kaum geboten und vielleicht entbehrlich war, daß
er aber, nachdem er einmal eingeführt worden war, die einzig mögliche Grund¬
lage des Staatslebens ist. Der Absolutismus, wie er früher gehandhabt


«Österreich nach der Wahlreform

einer großen Zeit vorüber war, und die Kunst der Wahltechniker das Feld
behauptete, ging das „hohe Haus" an Ansehen der Personen wie der Be¬
ratungen bedeutend zurück und konnte nur, wie eben jetzt wieder, ab und zu
durch einen Weckruf der Regierung an den schlummernden Volksgeist zu einer
zeitweiligen Auffrischung gebracht werden. Der Einführung des allgemeinen
Wahlrechts in Österreich fehlte der große historische Hintergrund, und weder
der Standpunkt des Ministerpräsidenten von Beck, „man müsse die weitesten
Kreise der Bevölkerung an die staatlichen Interessen fesseln und den Staatssinn
in möglichst tiefe Schichten tragen", noch die künstlich erhitzte Agitation ge¬
wisser Blätter, die ganz andre Zwecke dabei im Auge hatten, konnten einen
Ersatz dafür bieten. Das Resultat der ersten Wahl mußte darum auch hinter
den bescheidensten Erwartungen zurückbleiben. Einen Trost wollte man darin
finden, daß wenigstens die Hanptschreier der nationalen Radikalen nicht wieder¬
gewählt worden waren. Im übrigen herrschte die ausgesprochenste Mittel¬
mäßigkeit vor, und einen Erfolg über alles Erwarten hatten die Sozial-
demokraten erreicht, die aber merkwürdigerweise in Österreich weder die Re¬
gierung noch die führende Presse zu den Radikalen zu rechnen scheint. Sie
haben nicht weniger als 49 Mandate erobert und sitzen im ganzen 85 Mann
hoch im Parlament. Das ist für die Zukunft des „neuen Österreich" gerade
nicht glückverheißend, um so mehr, da die Hoffnungen der Staatssozialisten,
das allgemeine Wahlrecht werde den nationalen Hader beseitigen, auch nicht
im geringsten erfüllt worden sind. Im Gegenteil, zu den alten Gegensätzen
sind noch neue hinzugetreten."

Wie im frühern Hause, dem „Kurienparlament, steht der Deutsche gegen
den Tschechen, der Ruthene gegen den Polen, der Föderalismus gegen den
Zentralismus, das böhmische Staatsrecht gegen den Einheitsstaat. Die Sprachen¬
frage, deren Beseitigung bei den Beratungen über die Wahlreform in sichere
Aussicht gestellt wurde, ist aufdringlicher als je in den Vordergund getreten,
hat doch sogar schon ein Ruthene eine russische Rede gehalten. Und wenn er
dies auch bloß tat, um die Polen zu ärgern, so zeigt doch gerade der Vorfall,
was in diesem „Volkshaufe" möglich ist, und wie wenig seine Zusammensetzung
geeignet erscheint, die Grundlage für eine ersprießliche parlamentarische Tätigkeit
abzugeben. Nirgends hat sich ein Anlauf gezeigt, der neuen Zeit gerecht zu
werden, die die Schöpfer des Wahlverfahrens zu seiner Empfehlung so hoff¬
nungsvoll angepriesen hatten. Wenn irgendwo, durfte man doch schon vorher
in Österreich-Ungarn fragen, ob denn in diesem Staate mit seinen zahlreichen
Nationen von so ungleicher Bildung und Kultur der Parlamentarismus
wirklich die richtige, durch die Verhältnisse gebotne Regierungsform sei. Wenn
man darauf gewissenhaft antworten wollte, mußte man die Überzeugung aus¬
sprechen, daß er ursprünglich kaum geboten und vielleicht entbehrlich war, daß
er aber, nachdem er einmal eingeführt worden war, die einzig mögliche Grund¬
lage des Staatslebens ist. Der Absolutismus, wie er früher gehandhabt


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[0175] «Österreich nach der Wahlreform einer großen Zeit vorüber war, und die Kunst der Wahltechniker das Feld behauptete, ging das „hohe Haus" an Ansehen der Personen wie der Be¬ ratungen bedeutend zurück und konnte nur, wie eben jetzt wieder, ab und zu durch einen Weckruf der Regierung an den schlummernden Volksgeist zu einer zeitweiligen Auffrischung gebracht werden. Der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich fehlte der große historische Hintergrund, und weder der Standpunkt des Ministerpräsidenten von Beck, „man müsse die weitesten Kreise der Bevölkerung an die staatlichen Interessen fesseln und den Staatssinn in möglichst tiefe Schichten tragen", noch die künstlich erhitzte Agitation ge¬ wisser Blätter, die ganz andre Zwecke dabei im Auge hatten, konnten einen Ersatz dafür bieten. Das Resultat der ersten Wahl mußte darum auch hinter den bescheidensten Erwartungen zurückbleiben. Einen Trost wollte man darin finden, daß wenigstens die Hanptschreier der nationalen Radikalen nicht wieder¬ gewählt worden waren. Im übrigen herrschte die ausgesprochenste Mittel¬ mäßigkeit vor, und einen Erfolg über alles Erwarten hatten die Sozial- demokraten erreicht, die aber merkwürdigerweise in Österreich weder die Re¬ gierung noch die führende Presse zu den Radikalen zu rechnen scheint. Sie haben nicht weniger als 49 Mandate erobert und sitzen im ganzen 85 Mann hoch im Parlament. Das ist für die Zukunft des „neuen Österreich" gerade nicht glückverheißend, um so mehr, da die Hoffnungen der Staatssozialisten, das allgemeine Wahlrecht werde den nationalen Hader beseitigen, auch nicht im geringsten erfüllt worden sind. Im Gegenteil, zu den alten Gegensätzen sind noch neue hinzugetreten." Wie im frühern Hause, dem „Kurienparlament, steht der Deutsche gegen den Tschechen, der Ruthene gegen den Polen, der Föderalismus gegen den Zentralismus, das böhmische Staatsrecht gegen den Einheitsstaat. Die Sprachen¬ frage, deren Beseitigung bei den Beratungen über die Wahlreform in sichere Aussicht gestellt wurde, ist aufdringlicher als je in den Vordergund getreten, hat doch sogar schon ein Ruthene eine russische Rede gehalten. Und wenn er dies auch bloß tat, um die Polen zu ärgern, so zeigt doch gerade der Vorfall, was in diesem „Volkshaufe" möglich ist, und wie wenig seine Zusammensetzung geeignet erscheint, die Grundlage für eine ersprießliche parlamentarische Tätigkeit abzugeben. Nirgends hat sich ein Anlauf gezeigt, der neuen Zeit gerecht zu werden, die die Schöpfer des Wahlverfahrens zu seiner Empfehlung so hoff¬ nungsvoll angepriesen hatten. Wenn irgendwo, durfte man doch schon vorher in Österreich-Ungarn fragen, ob denn in diesem Staate mit seinen zahlreichen Nationen von so ungleicher Bildung und Kultur der Parlamentarismus wirklich die richtige, durch die Verhältnisse gebotne Regierungsform sei. Wenn man darauf gewissenhaft antworten wollte, mußte man die Überzeugung aus¬ sprechen, daß er ursprünglich kaum geboten und vielleicht entbehrlich war, daß er aber, nachdem er einmal eingeführt worden war, die einzig mögliche Grund¬ lage des Staatslebens ist. Der Absolutismus, wie er früher gehandhabt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/175>, abgerufen am 23.07.2024.