Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.Österreich nach der Wahlreform der Einführung abhalten sollen, am meisten wohl gerade die Habsburgische Der Reichstag des Norddeutschen Bundes und die ersten Reichstage des Österreich nach der Wahlreform der Einführung abhalten sollen, am meisten wohl gerade die Habsburgische Der Reichstag des Norddeutschen Bundes und die ersten Reichstage des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0174" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303590"/> <fw type="header" place="top"> Österreich nach der Wahlreform</fw><lb/> <p xml:id="ID_705" prev="#ID_704"> der Einführung abhalten sollen, am meisten wohl gerade die Habsburgische<lb/> Monarchie, deren nach Nationalität und Bildung so verschieden geschichtete<lb/> Bevölkerung dafür am wenigsten geeignet erscheint. Trotzdem sehen wir, daß<lb/> dort in Ungarn das allgemeine Wahlrecht seit zwei Jahren auf der Tages¬<lb/> ordnung steht, während es in Österreich mit einer ganz ungewöhnlichen Hast<lb/> binnen einem Jahre durchgepeitscht wurde. Wer Personen und Verhältnisse<lb/> kennt, wird nicht in Zweifel darüber sein, daß in Ungarn, solange überhaupt<lb/> ein magyarisches Ministerium besteht, niemals auch nur ein annäherndes all¬<lb/> gemeines Wahlrecht zustande kommen wird. Die Aktion dafür ist ins Stocken<lb/> geraten, denn man hat noch keinen Wahlmechanismus ausgeklügelt, den man<lb/> der Welt als allgemeines Wahlrecht anpreisen könnte, während er doch nur<lb/> die Herrschaft der Magyaren befestigen soll. Solange man nicht soweit ist,<lb/> wird aus dem ungarischen allgemeinen Wahlrecht nichts werden. Das wird<lb/> auch der stärkste Druck, den die Krone auszuüben vermag, nicht ändern. In<lb/> Österreich war es freilich möglich, daß durch den festen Willen der Krone und<lb/> der Negierung und die eifrige Agitation der einflußreichen und verbreitetsten<lb/> Blätter eine Maßregel von so einschneidender Bedeutung und Tragweite im<lb/> Geschwindschritt durchgeführt wurde. Wer Österreich und seine eigenartigen<lb/> Verhältnisse gerecht und unbefangen beurteilen will, darf nicht vergessen, daß<lb/> es unmöglich ist, an diese Monarchie, die ein Unikum unter den Staaten<lb/> Europas ist, den Maßstab anzulegen, der für andre Reiche und Länder<lb/> natürlich gegeben ist. In Ungarn war die Drohung mit dem allgemeinen<lb/> Wahlrechte notwendig und am Platze, um die Herrschaft der Koalition zu<lb/> brechen, aber es wird dort voraussichtlich nie durchgeführt werden. In Öster¬<lb/> reich lag dagegen keine zwingende Notwendigkeit dafür vor, vor zwei Jahren<lb/> redete außer Sozialdemokraten und einigen Radikalen noch kein Mensch davon,<lb/> jetzt ist es schon seit Monaten in Geltung, und das danach gewählte vielköpfige<lb/> Parlament hat schon eine Probe seiner geringen Leistungsfähigkeit abgelegt.<lb/> Der Präsident schloß die erste Session am 24. Juli mit dem Wunsche, der<lb/> zugleich eine bittere Kritik enthielt: „Auf Wiedersehn im Herbste zu ernster<lb/> und sachlicher Arbeit!" Bedeutungslos — das ist die einzige Bezeichnung, die<lb/> dieser neuesten politischen Schöpfung zukommt. Neue Besen Pflegen sonst gut<lb/> zu kehren; hier war es nicht der Fall. Was mag aus der Neuschöpfung erst<lb/> werden, wenn sie die übliche parlamentarische Entwicklung in xejus durch¬<lb/> gemacht hat?</p><lb/> <p xml:id="ID_706" next="#ID_707"> Der Reichstag des Norddeutschen Bundes und die ersten Reichstage des<lb/> Deutschen Reichs zeichneten sich durch eine ansehnliche Zahl politischer Größen<lb/> und durch Verhandlungen aus, die sich an Sachlichkeit, gebildeten Formen und<lb/> politischem Weitblick wohltätig von den üblichen Erscheinungen des Parla¬<lb/> mentarismus abhoben. Man war in gewissen Kreisen sofort geneigt, diese<lb/> Vorzüge dem allgemeinen Wahlrecht zuzuschreiben, aber kaum ein Jahrzehnt<lb/> genügte, um diese Anschauung als irrtümlich zu erkennen. Als der Flügelschlag</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0174]
Österreich nach der Wahlreform
der Einführung abhalten sollen, am meisten wohl gerade die Habsburgische
Monarchie, deren nach Nationalität und Bildung so verschieden geschichtete
Bevölkerung dafür am wenigsten geeignet erscheint. Trotzdem sehen wir, daß
dort in Ungarn das allgemeine Wahlrecht seit zwei Jahren auf der Tages¬
ordnung steht, während es in Österreich mit einer ganz ungewöhnlichen Hast
binnen einem Jahre durchgepeitscht wurde. Wer Personen und Verhältnisse
kennt, wird nicht in Zweifel darüber sein, daß in Ungarn, solange überhaupt
ein magyarisches Ministerium besteht, niemals auch nur ein annäherndes all¬
gemeines Wahlrecht zustande kommen wird. Die Aktion dafür ist ins Stocken
geraten, denn man hat noch keinen Wahlmechanismus ausgeklügelt, den man
der Welt als allgemeines Wahlrecht anpreisen könnte, während er doch nur
die Herrschaft der Magyaren befestigen soll. Solange man nicht soweit ist,
wird aus dem ungarischen allgemeinen Wahlrecht nichts werden. Das wird
auch der stärkste Druck, den die Krone auszuüben vermag, nicht ändern. In
Österreich war es freilich möglich, daß durch den festen Willen der Krone und
der Negierung und die eifrige Agitation der einflußreichen und verbreitetsten
Blätter eine Maßregel von so einschneidender Bedeutung und Tragweite im
Geschwindschritt durchgeführt wurde. Wer Österreich und seine eigenartigen
Verhältnisse gerecht und unbefangen beurteilen will, darf nicht vergessen, daß
es unmöglich ist, an diese Monarchie, die ein Unikum unter den Staaten
Europas ist, den Maßstab anzulegen, der für andre Reiche und Länder
natürlich gegeben ist. In Ungarn war die Drohung mit dem allgemeinen
Wahlrechte notwendig und am Platze, um die Herrschaft der Koalition zu
brechen, aber es wird dort voraussichtlich nie durchgeführt werden. In Öster¬
reich lag dagegen keine zwingende Notwendigkeit dafür vor, vor zwei Jahren
redete außer Sozialdemokraten und einigen Radikalen noch kein Mensch davon,
jetzt ist es schon seit Monaten in Geltung, und das danach gewählte vielköpfige
Parlament hat schon eine Probe seiner geringen Leistungsfähigkeit abgelegt.
Der Präsident schloß die erste Session am 24. Juli mit dem Wunsche, der
zugleich eine bittere Kritik enthielt: „Auf Wiedersehn im Herbste zu ernster
und sachlicher Arbeit!" Bedeutungslos — das ist die einzige Bezeichnung, die
dieser neuesten politischen Schöpfung zukommt. Neue Besen Pflegen sonst gut
zu kehren; hier war es nicht der Fall. Was mag aus der Neuschöpfung erst
werden, wenn sie die übliche parlamentarische Entwicklung in xejus durch¬
gemacht hat?
Der Reichstag des Norddeutschen Bundes und die ersten Reichstage des
Deutschen Reichs zeichneten sich durch eine ansehnliche Zahl politischer Größen
und durch Verhandlungen aus, die sich an Sachlichkeit, gebildeten Formen und
politischem Weitblick wohltätig von den üblichen Erscheinungen des Parla¬
mentarismus abhoben. Man war in gewissen Kreisen sofort geneigt, diese
Vorzüge dem allgemeinen Wahlrecht zuzuschreiben, aber kaum ein Jahrzehnt
genügte, um diese Anschauung als irrtümlich zu erkennen. Als der Flügelschlag
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