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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

Vielleicht liegt es auch in seiner Natur; die sächsische Höflichkeit, die der nord¬
deutsche gern für Falschheit hält, ist nicht nur ein leerer Schall. Sie kommt
auch im Geschäftsleben zum Ausdruck, z. B. in schriftlichen Anpreisungen. In
Berlin liest man an Fenstern von Gemüsehandlungen häufig die Aufschrift:
"Hier kann gerollt werden." In Leipzig heißt es statt dessen: "Hier steht eine
Wäscherolle zur gefl. Benutzung." In Berlin spricht man von Schlafburschen,
in Leipzig von Schlafherren, in Berlin von Volksküchen, in Leipzig von
Speiseanstalten. Der Kleinverkehr in den Geschäften vollzieht sich zwar auch
schon ohne viel Formalitäten, und das gemütliche Münchner: "Bitte, beehren
Sie mich wieder!" hört man zwar kaum mehr, aber doch noch zuweilen
ein abgekürztes "Bald wieder" oder "Danke schön." Auch der Straßenbahn¬
schaffner hat so viel Schliff, den Fahrgästen in der Regel und mit einer be-
wundernswerter UnVerdrossenheit die Tageszeit zu bieten; auch hat er die Gewohn¬
heit, wie auch in München, an den Haltestellen den Wagen zu verlassen und den
Absteigenden herunterzuhelfen, während er z. B. in Berlin wie angewurzelt auf
seinem Platze steht. Überhaupt beschränkt sich die Höflichkeit des Leipzigers nicht
auf freundliche Worte allein; er greift auch gern schnell zu, wo er helfend bei¬
springen kann, ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede. Ich war einmal Zeuge, wie
ein gut gekleideter Herr einem kleinen Markthelferburschen unaufgefordert einen
Handwagen auf das Trottoir hinaufziehn half, als er sah, wie sich der Kleine
damit vergebens abmühte. Wie sehr der Leipziger auch im Scherz den Takt
zu wahren weiß, dafür nur ein kleines, heitres Erlebnis. Als ich einst mit
einer Dame vor dem neuen Rathaus stand, trat unter schalkhaftem Lächeln ein
Herr zu uns heran und erzählte mir einen Volkswitz von einer der auf dem
Giebel stehenden weiblichen Figuren, aber erst, als er sich über das Verhältnis
vergewissert hatte, in dem ich zu der begleitenden Dame stehe. Mir fiel unwill¬
kürlich Goethes Wort von Klein-Paris ein.

Lehrreiche Beobachtungen kann der Fremde auch da machen, wo mehrere
Menschen oder große Menschenmassen zufällig vereinigt sind. Hier kann man
ja die soziale Kultur immer am besten studieren. Schon H. von Treitschke
hat "die gewaltige demokratische Zucht in diesen Massen" lobend hervorgehoben,
als er 1863 die Festrede zum funfzigjährigen Gedächtnis der Völkerschlacht
hielt. "Nicht ein einziger Mensch -- fügt er hinzu -- ist wegen Ruhestörung
verhaftet worden."

Diese Selbstzucht imponiert dem Fremden auch heute noch auf Schritt
und Tritt und gibt sich in einer oft rührenden Geduld z. B. an den Postschaltern
zu erkennen, wo sich der Verkehr immer ruhig und glatt abwickelt, auch ohne
die Bestimmung: "Von rechts heranzutreten und nach links abzugehn." Ich
habe mich oft gewundert, warum es in Berlin, der Stadt militärischer Ordnung,
bei öffentlichen Aufzügen und dergleichen fast nie ohne Ausschreitungen abgeht.
Ich glaube es jetzt zu verstehen: die militärische Ordnung schließt eben die
freiwillige, demokratische aus, sie hemmt das selbständige Handeln, und je mehr


sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten

Vielleicht liegt es auch in seiner Natur; die sächsische Höflichkeit, die der nord¬
deutsche gern für Falschheit hält, ist nicht nur ein leerer Schall. Sie kommt
auch im Geschäftsleben zum Ausdruck, z. B. in schriftlichen Anpreisungen. In
Berlin liest man an Fenstern von Gemüsehandlungen häufig die Aufschrift:
„Hier kann gerollt werden." In Leipzig heißt es statt dessen: „Hier steht eine
Wäscherolle zur gefl. Benutzung." In Berlin spricht man von Schlafburschen,
in Leipzig von Schlafherren, in Berlin von Volksküchen, in Leipzig von
Speiseanstalten. Der Kleinverkehr in den Geschäften vollzieht sich zwar auch
schon ohne viel Formalitäten, und das gemütliche Münchner: „Bitte, beehren
Sie mich wieder!" hört man zwar kaum mehr, aber doch noch zuweilen
ein abgekürztes „Bald wieder" oder „Danke schön." Auch der Straßenbahn¬
schaffner hat so viel Schliff, den Fahrgästen in der Regel und mit einer be-
wundernswerter UnVerdrossenheit die Tageszeit zu bieten; auch hat er die Gewohn¬
heit, wie auch in München, an den Haltestellen den Wagen zu verlassen und den
Absteigenden herunterzuhelfen, während er z. B. in Berlin wie angewurzelt auf
seinem Platze steht. Überhaupt beschränkt sich die Höflichkeit des Leipzigers nicht
auf freundliche Worte allein; er greift auch gern schnell zu, wo er helfend bei¬
springen kann, ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede. Ich war einmal Zeuge, wie
ein gut gekleideter Herr einem kleinen Markthelferburschen unaufgefordert einen
Handwagen auf das Trottoir hinaufziehn half, als er sah, wie sich der Kleine
damit vergebens abmühte. Wie sehr der Leipziger auch im Scherz den Takt
zu wahren weiß, dafür nur ein kleines, heitres Erlebnis. Als ich einst mit
einer Dame vor dem neuen Rathaus stand, trat unter schalkhaftem Lächeln ein
Herr zu uns heran und erzählte mir einen Volkswitz von einer der auf dem
Giebel stehenden weiblichen Figuren, aber erst, als er sich über das Verhältnis
vergewissert hatte, in dem ich zu der begleitenden Dame stehe. Mir fiel unwill¬
kürlich Goethes Wort von Klein-Paris ein.

Lehrreiche Beobachtungen kann der Fremde auch da machen, wo mehrere
Menschen oder große Menschenmassen zufällig vereinigt sind. Hier kann man
ja die soziale Kultur immer am besten studieren. Schon H. von Treitschke
hat „die gewaltige demokratische Zucht in diesen Massen" lobend hervorgehoben,
als er 1863 die Festrede zum funfzigjährigen Gedächtnis der Völkerschlacht
hielt. „Nicht ein einziger Mensch — fügt er hinzu — ist wegen Ruhestörung
verhaftet worden."

Diese Selbstzucht imponiert dem Fremden auch heute noch auf Schritt
und Tritt und gibt sich in einer oft rührenden Geduld z. B. an den Postschaltern
zu erkennen, wo sich der Verkehr immer ruhig und glatt abwickelt, auch ohne
die Bestimmung: „Von rechts heranzutreten und nach links abzugehn." Ich
habe mich oft gewundert, warum es in Berlin, der Stadt militärischer Ordnung,
bei öffentlichen Aufzügen und dergleichen fast nie ohne Ausschreitungen abgeht.
Ich glaube es jetzt zu verstehen: die militärische Ordnung schließt eben die
freiwillige, demokratische aus, sie hemmt das selbständige Handeln, und je mehr


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[0138] sozialpsychologische Eindrücke aus deutschen Großstädten Vielleicht liegt es auch in seiner Natur; die sächsische Höflichkeit, die der nord¬ deutsche gern für Falschheit hält, ist nicht nur ein leerer Schall. Sie kommt auch im Geschäftsleben zum Ausdruck, z. B. in schriftlichen Anpreisungen. In Berlin liest man an Fenstern von Gemüsehandlungen häufig die Aufschrift: „Hier kann gerollt werden." In Leipzig heißt es statt dessen: „Hier steht eine Wäscherolle zur gefl. Benutzung." In Berlin spricht man von Schlafburschen, in Leipzig von Schlafherren, in Berlin von Volksküchen, in Leipzig von Speiseanstalten. Der Kleinverkehr in den Geschäften vollzieht sich zwar auch schon ohne viel Formalitäten, und das gemütliche Münchner: „Bitte, beehren Sie mich wieder!" hört man zwar kaum mehr, aber doch noch zuweilen ein abgekürztes „Bald wieder" oder „Danke schön." Auch der Straßenbahn¬ schaffner hat so viel Schliff, den Fahrgästen in der Regel und mit einer be- wundernswerter UnVerdrossenheit die Tageszeit zu bieten; auch hat er die Gewohn¬ heit, wie auch in München, an den Haltestellen den Wagen zu verlassen und den Absteigenden herunterzuhelfen, während er z. B. in Berlin wie angewurzelt auf seinem Platze steht. Überhaupt beschränkt sich die Höflichkeit des Leipzigers nicht auf freundliche Worte allein; er greift auch gern schnell zu, wo er helfend bei¬ springen kann, ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede. Ich war einmal Zeuge, wie ein gut gekleideter Herr einem kleinen Markthelferburschen unaufgefordert einen Handwagen auf das Trottoir hinaufziehn half, als er sah, wie sich der Kleine damit vergebens abmühte. Wie sehr der Leipziger auch im Scherz den Takt zu wahren weiß, dafür nur ein kleines, heitres Erlebnis. Als ich einst mit einer Dame vor dem neuen Rathaus stand, trat unter schalkhaftem Lächeln ein Herr zu uns heran und erzählte mir einen Volkswitz von einer der auf dem Giebel stehenden weiblichen Figuren, aber erst, als er sich über das Verhältnis vergewissert hatte, in dem ich zu der begleitenden Dame stehe. Mir fiel unwill¬ kürlich Goethes Wort von Klein-Paris ein. Lehrreiche Beobachtungen kann der Fremde auch da machen, wo mehrere Menschen oder große Menschenmassen zufällig vereinigt sind. Hier kann man ja die soziale Kultur immer am besten studieren. Schon H. von Treitschke hat „die gewaltige demokratische Zucht in diesen Massen" lobend hervorgehoben, als er 1863 die Festrede zum funfzigjährigen Gedächtnis der Völkerschlacht hielt. „Nicht ein einziger Mensch — fügt er hinzu — ist wegen Ruhestörung verhaftet worden." Diese Selbstzucht imponiert dem Fremden auch heute noch auf Schritt und Tritt und gibt sich in einer oft rührenden Geduld z. B. an den Postschaltern zu erkennen, wo sich der Verkehr immer ruhig und glatt abwickelt, auch ohne die Bestimmung: „Von rechts heranzutreten und nach links abzugehn." Ich habe mich oft gewundert, warum es in Berlin, der Stadt militärischer Ordnung, bei öffentlichen Aufzügen und dergleichen fast nie ohne Ausschreitungen abgeht. Ich glaube es jetzt zu verstehen: die militärische Ordnung schließt eben die freiwillige, demokratische aus, sie hemmt das selbständige Handeln, und je mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/138>, abgerufen am 03.07.2024.