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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Aufgaben der innern Politik

Weise gründet die sozialdemokratische Partei Volksbibliotheken überall da, wo
keine öffentliche Bibliothek vorhanden ist, und wenn dann die Gemeinde oder
ein Verein mit der Schaffung einer Bibliothek nachhinkt, so ist es oft zu spät,
den Schaden wieder gut zu machen. In den großen Städten hat man die
Bedeutung der Angelegenheit erkannt und vielfach vortreffliches geleistet. Um
nur einige Beispiele aus den Industriestädten zu geben, sei hier erwähnt, daß
Essen, wo doch schon die große Kruppsche Bibliothek besteht, im Jahre 1907 nicht
weniger als 36000 Mark für seine Bibliothek aufwendet, Elberfeld 26000 Mark,
Barmer etwa ebensoviel, Krefeld 11000 Mark. Um auch eine Vorstellung davon
zu geben, wie sehr diese Bibliotheken benutzt werden, sei hier nur hervorgehoben,
daß in Barmer im Jahre 1906 nicht weniger als 270000 Bünde entliehen
wurden, und daß ein Drittel der Leser Arbeiter waren. In Essen sind sogar
zwei Drittel der die Bibliothek benutzenden Leser Arbeiter. Solche große
Städte sind in der Lage, das Bildungsbedürfnis der Arbeiterschaft zu befriedigen,
und es ist erfreulich, daß sie es tun. Die kleinen Städte und die Kreise haben
aber diese Mittel nicht, was sie leisten, kann nur Stückwerk sein, und hier müßte
unbedingt der Staat eintreten, wie kürzlich erst in diesen Blättern nachgewiesen
worden ist.*> Der preußische Staat hat aber im Jahre 1907 zur Förderung
der Volksbibliotheken nur 100000 Mark in den Etat eingestellt. Daß mit dieser
Summe nichts geleistet werden kann, liegt auf der Hand. Da es an Mitteln
in Preußen nicht fehlt, muß leider der Schluß gezogen werden, daß die Be¬
deutung der Aufgabe, die hier zu lösen ist, noch nicht voll gewürdigt wird.
Je früher man sich entschließt, reichliche Mittel für die Förderung der Volks¬
bibliotheken und Lesehallen zur Verfügung zu stellen, desto besser; das Geld,
das für diesen Zweck ausgegeben wird, ist nicht unnütz aufgewandt.

Eine gesunde staatliche und kommunale Förderung des Arbeiterwvhnungs-
wesens. Anregung des Sparsinns, Erziehung der Mädchen und Frauen zur Wirt¬
schaftlichkeit und Befriedigung des Bildungsbedürfnisses des Volkes, das dürften
hiernach die wesentlichsten Aufgaben einer Politik sein, die sich das Ziel setzt, in
den Großstädten und in den überwiegend industriellen Bezirken die schädlichen
Wirkungen auszugleichen, die von der räumlichen und sozialen Umschichtung
der Nation ausgegangen sind. Andre Aufgaben werden auf dem platten Lande
und besonders im Osten der preußischen Monarchie zu erfüllen sein, also in
den Gebieten, die seit langer Zeit nicht nur ihren Menschenüberschuß an die
Großstädte und an die Industrie abgeben, sondern teilweise, wie gezeigt worden
ist, sogar in der Bevölkerungszahl zurückgehe" und an einer Blutleere leiden,
die jeden, der es gut meint mit unserm Vaterlande, mit ernster Sorge erfüllen
muß. Hier besteht die Aufgabe, wenigstens einen Teil des Geburtenüberschusses
dem platten Lande und dem Osten zu erhalten. Die Losung kann also hier
"ur lauten: Ansicdlungspolitik großen Stils. Es ist bekannt, daß der Kampf



*) Das Volksbibliothekswesen in Preußen von Kurt Kankas, 1906, Heft 2ö.
Grenzboten III 1907 S7
Aufgaben der innern Politik

Weise gründet die sozialdemokratische Partei Volksbibliotheken überall da, wo
keine öffentliche Bibliothek vorhanden ist, und wenn dann die Gemeinde oder
ein Verein mit der Schaffung einer Bibliothek nachhinkt, so ist es oft zu spät,
den Schaden wieder gut zu machen. In den großen Städten hat man die
Bedeutung der Angelegenheit erkannt und vielfach vortreffliches geleistet. Um
nur einige Beispiele aus den Industriestädten zu geben, sei hier erwähnt, daß
Essen, wo doch schon die große Kruppsche Bibliothek besteht, im Jahre 1907 nicht
weniger als 36000 Mark für seine Bibliothek aufwendet, Elberfeld 26000 Mark,
Barmer etwa ebensoviel, Krefeld 11000 Mark. Um auch eine Vorstellung davon
zu geben, wie sehr diese Bibliotheken benutzt werden, sei hier nur hervorgehoben,
daß in Barmer im Jahre 1906 nicht weniger als 270000 Bünde entliehen
wurden, und daß ein Drittel der Leser Arbeiter waren. In Essen sind sogar
zwei Drittel der die Bibliothek benutzenden Leser Arbeiter. Solche große
Städte sind in der Lage, das Bildungsbedürfnis der Arbeiterschaft zu befriedigen,
und es ist erfreulich, daß sie es tun. Die kleinen Städte und die Kreise haben
aber diese Mittel nicht, was sie leisten, kann nur Stückwerk sein, und hier müßte
unbedingt der Staat eintreten, wie kürzlich erst in diesen Blättern nachgewiesen
worden ist.*> Der preußische Staat hat aber im Jahre 1907 zur Förderung
der Volksbibliotheken nur 100000 Mark in den Etat eingestellt. Daß mit dieser
Summe nichts geleistet werden kann, liegt auf der Hand. Da es an Mitteln
in Preußen nicht fehlt, muß leider der Schluß gezogen werden, daß die Be¬
deutung der Aufgabe, die hier zu lösen ist, noch nicht voll gewürdigt wird.
Je früher man sich entschließt, reichliche Mittel für die Förderung der Volks¬
bibliotheken und Lesehallen zur Verfügung zu stellen, desto besser; das Geld,
das für diesen Zweck ausgegeben wird, ist nicht unnütz aufgewandt.

Eine gesunde staatliche und kommunale Förderung des Arbeiterwvhnungs-
wesens. Anregung des Sparsinns, Erziehung der Mädchen und Frauen zur Wirt¬
schaftlichkeit und Befriedigung des Bildungsbedürfnisses des Volkes, das dürften
hiernach die wesentlichsten Aufgaben einer Politik sein, die sich das Ziel setzt, in
den Großstädten und in den überwiegend industriellen Bezirken die schädlichen
Wirkungen auszugleichen, die von der räumlichen und sozialen Umschichtung
der Nation ausgegangen sind. Andre Aufgaben werden auf dem platten Lande
und besonders im Osten der preußischen Monarchie zu erfüllen sein, also in
den Gebieten, die seit langer Zeit nicht nur ihren Menschenüberschuß an die
Großstädte und an die Industrie abgeben, sondern teilweise, wie gezeigt worden
ist, sogar in der Bevölkerungszahl zurückgehe« und an einer Blutleere leiden,
die jeden, der es gut meint mit unserm Vaterlande, mit ernster Sorge erfüllen
muß. Hier besteht die Aufgabe, wenigstens einen Teil des Geburtenüberschusses
dem platten Lande und dem Osten zu erhalten. Die Losung kann also hier
"ur lauten: Ansicdlungspolitik großen Stils. Es ist bekannt, daß der Kampf



*) Das Volksbibliothekswesen in Preußen von Kurt Kankas, 1906, Heft 2ö.
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[0669] Aufgaben der innern Politik Weise gründet die sozialdemokratische Partei Volksbibliotheken überall da, wo keine öffentliche Bibliothek vorhanden ist, und wenn dann die Gemeinde oder ein Verein mit der Schaffung einer Bibliothek nachhinkt, so ist es oft zu spät, den Schaden wieder gut zu machen. In den großen Städten hat man die Bedeutung der Angelegenheit erkannt und vielfach vortreffliches geleistet. Um nur einige Beispiele aus den Industriestädten zu geben, sei hier erwähnt, daß Essen, wo doch schon die große Kruppsche Bibliothek besteht, im Jahre 1907 nicht weniger als 36000 Mark für seine Bibliothek aufwendet, Elberfeld 26000 Mark, Barmer etwa ebensoviel, Krefeld 11000 Mark. Um auch eine Vorstellung davon zu geben, wie sehr diese Bibliotheken benutzt werden, sei hier nur hervorgehoben, daß in Barmer im Jahre 1906 nicht weniger als 270000 Bünde entliehen wurden, und daß ein Drittel der Leser Arbeiter waren. In Essen sind sogar zwei Drittel der die Bibliothek benutzenden Leser Arbeiter. Solche große Städte sind in der Lage, das Bildungsbedürfnis der Arbeiterschaft zu befriedigen, und es ist erfreulich, daß sie es tun. Die kleinen Städte und die Kreise haben aber diese Mittel nicht, was sie leisten, kann nur Stückwerk sein, und hier müßte unbedingt der Staat eintreten, wie kürzlich erst in diesen Blättern nachgewiesen worden ist.*> Der preußische Staat hat aber im Jahre 1907 zur Förderung der Volksbibliotheken nur 100000 Mark in den Etat eingestellt. Daß mit dieser Summe nichts geleistet werden kann, liegt auf der Hand. Da es an Mitteln in Preußen nicht fehlt, muß leider der Schluß gezogen werden, daß die Be¬ deutung der Aufgabe, die hier zu lösen ist, noch nicht voll gewürdigt wird. Je früher man sich entschließt, reichliche Mittel für die Förderung der Volks¬ bibliotheken und Lesehallen zur Verfügung zu stellen, desto besser; das Geld, das für diesen Zweck ausgegeben wird, ist nicht unnütz aufgewandt. Eine gesunde staatliche und kommunale Förderung des Arbeiterwvhnungs- wesens. Anregung des Sparsinns, Erziehung der Mädchen und Frauen zur Wirt¬ schaftlichkeit und Befriedigung des Bildungsbedürfnisses des Volkes, das dürften hiernach die wesentlichsten Aufgaben einer Politik sein, die sich das Ziel setzt, in den Großstädten und in den überwiegend industriellen Bezirken die schädlichen Wirkungen auszugleichen, die von der räumlichen und sozialen Umschichtung der Nation ausgegangen sind. Andre Aufgaben werden auf dem platten Lande und besonders im Osten der preußischen Monarchie zu erfüllen sein, also in den Gebieten, die seit langer Zeit nicht nur ihren Menschenüberschuß an die Großstädte und an die Industrie abgeben, sondern teilweise, wie gezeigt worden ist, sogar in der Bevölkerungszahl zurückgehe« und an einer Blutleere leiden, die jeden, der es gut meint mit unserm Vaterlande, mit ernster Sorge erfüllen muß. Hier besteht die Aufgabe, wenigstens einen Teil des Geburtenüberschusses dem platten Lande und dem Osten zu erhalten. Die Losung kann also hier "ur lauten: Ansicdlungspolitik großen Stils. Es ist bekannt, daß der Kampf *) Das Volksbibliothekswesen in Preußen von Kurt Kankas, 1906, Heft 2ö. Grenzboten III 1907 S7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/669>, abgerufen am 12.12.2024.