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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Irland als Dorn unter dem Panzer Englands

Leben fürchteten. Die nächsten Opfer der Gewalttat waren die "Graziers".
Grazier (zu deutsch Gräser) siud Leute, die von den Großgrundbesitzern Weide¬
ländereien pachten, diese im Frühjahr mit jungen Ochsen beschicken, die den
ganzen Sommer durch auf der Weide bleiben und im Herbst nach England
verkauft werden. Da das Jrcntum nicht will, daß Pacht bezahlt wird, so
muß es auch die Gräser stören. Es kommt also nachts zu den Weiden, bricht
die Umzäunungen nieder und verjagt das Vieh. Da die Übeltäter nicht stehlen,
so sind sie schwer zu überführen. Sie rühmen sich, das Vieh in einer ein¬
zigen Nacht auf weite Entfernungen verjagen zu können. Möchten sich doch
die Eigentümer ihre Ochsen an der Ost- oder an der Westküste oder in den
Getreidefeldern der innern Grafschaften wiedersuchen! Oder man bricht in die
Ställe ein und läßt das Vieh laufen; das geringe Aufsichtspersonal wagt gegen
die in gehöriger Anzahl erscheinenden "Mondscheiner" nicht vorzugehn. Das
Zeugenverfahren versagt vollständig. Die jetzige konservative Opposition ver¬
langt von der Regierung stürmisch ein kraftvolles Einschreiten gegen die Übel¬
täter. Aber die Minister, die Polizei sind in einer schlimmen Lage. Hat doch
auch die frühere Regierung dem Unfug keinen Einhalt gebieten können! Die
liberale aber hat die Iren in gewissem Sinne zu ihrem politischen und
parlamentarischen Anhang zu rechnen.

Gleich bei Beginn der neuen Regierung hatten die Iren sie gewarnt, sie
möge nicht glauben, mit einer bloßen Ausdehnung der Selbstverwaltung, auch
wenn sie über Wyndhams Plan hinausgehn wolle, auszukommen. Die Iren
würden im Parlament zu Westminster Obstruktion treiben, auf der Insel aber
jede ordentliche Verwaltung unmöglich machen. Sie seien entschlossen und
Hütten die Gewalt. Schon im Oktober 1906 richtete das Parlamentsmitglied
Mr. Ginnell einen flammenden Appell an das Volk, die Vertreibung des
Dämons des Gräsertnms zu vollenden. Kein Mann von gesundem Menschen¬
verstande werde glauben, daß die liberalen englischen Minister ihnen helfen
würden, dieses Ziel zu erreichen. Im Juni dieses Jahres forderte Mr. Kelly,
ein Ortsvorsteher oder ähnlicher Beamter, eine Versammlung in Galway auf,
den dortigen Großgrundbesitzer Lord Ashtown zu behandeln, wie 1883 John
Blute behandelt worden sei. John Blake war einfach totgeschossen worden.
Das konnte sich doch auch die nachsichtigste Regierung nicht bieten lassen. Sie
setzte Mr. Kelly unter Anklage. Mittlerweile führt dieser in seinen Amts¬
funktionen fort. Neuerlich soll diese eigentümliche Magistratsperson ihren
Amtsbefohlnen gesagt haben, es gebe eine Parlamentsakte, kraft deren alles
Weideland unter das Volk verteilt werden solle; dieses habe ein anerkanntes
Recht darauf. Wenn sich sogar Angehörige der Obrigkeit so äußern, so kann
man sich nicht wundern, daß kaum ein Tag vergeht, an dem nicht die
Zeitungen von Viehverjagung zu erzählen haben. "Es kann niemand wunder¬
nehmen, so sagen die Times vom 20. Juni dieses Jahres, daß die schmerzlichen
Eindrücke unter den irischen Unionisten über die vertuschende Sprache des Lord


Irland als Dorn unter dem Panzer Englands

Leben fürchteten. Die nächsten Opfer der Gewalttat waren die „Graziers".
Grazier (zu deutsch Gräser) siud Leute, die von den Großgrundbesitzern Weide¬
ländereien pachten, diese im Frühjahr mit jungen Ochsen beschicken, die den
ganzen Sommer durch auf der Weide bleiben und im Herbst nach England
verkauft werden. Da das Jrcntum nicht will, daß Pacht bezahlt wird, so
muß es auch die Gräser stören. Es kommt also nachts zu den Weiden, bricht
die Umzäunungen nieder und verjagt das Vieh. Da die Übeltäter nicht stehlen,
so sind sie schwer zu überführen. Sie rühmen sich, das Vieh in einer ein¬
zigen Nacht auf weite Entfernungen verjagen zu können. Möchten sich doch
die Eigentümer ihre Ochsen an der Ost- oder an der Westküste oder in den
Getreidefeldern der innern Grafschaften wiedersuchen! Oder man bricht in die
Ställe ein und läßt das Vieh laufen; das geringe Aufsichtspersonal wagt gegen
die in gehöriger Anzahl erscheinenden „Mondscheiner" nicht vorzugehn. Das
Zeugenverfahren versagt vollständig. Die jetzige konservative Opposition ver¬
langt von der Regierung stürmisch ein kraftvolles Einschreiten gegen die Übel¬
täter. Aber die Minister, die Polizei sind in einer schlimmen Lage. Hat doch
auch die frühere Regierung dem Unfug keinen Einhalt gebieten können! Die
liberale aber hat die Iren in gewissem Sinne zu ihrem politischen und
parlamentarischen Anhang zu rechnen.

Gleich bei Beginn der neuen Regierung hatten die Iren sie gewarnt, sie
möge nicht glauben, mit einer bloßen Ausdehnung der Selbstverwaltung, auch
wenn sie über Wyndhams Plan hinausgehn wolle, auszukommen. Die Iren
würden im Parlament zu Westminster Obstruktion treiben, auf der Insel aber
jede ordentliche Verwaltung unmöglich machen. Sie seien entschlossen und
Hütten die Gewalt. Schon im Oktober 1906 richtete das Parlamentsmitglied
Mr. Ginnell einen flammenden Appell an das Volk, die Vertreibung des
Dämons des Gräsertnms zu vollenden. Kein Mann von gesundem Menschen¬
verstande werde glauben, daß die liberalen englischen Minister ihnen helfen
würden, dieses Ziel zu erreichen. Im Juni dieses Jahres forderte Mr. Kelly,
ein Ortsvorsteher oder ähnlicher Beamter, eine Versammlung in Galway auf,
den dortigen Großgrundbesitzer Lord Ashtown zu behandeln, wie 1883 John
Blute behandelt worden sei. John Blake war einfach totgeschossen worden.
Das konnte sich doch auch die nachsichtigste Regierung nicht bieten lassen. Sie
setzte Mr. Kelly unter Anklage. Mittlerweile führt dieser in seinen Amts¬
funktionen fort. Neuerlich soll diese eigentümliche Magistratsperson ihren
Amtsbefohlnen gesagt haben, es gebe eine Parlamentsakte, kraft deren alles
Weideland unter das Volk verteilt werden solle; dieses habe ein anerkanntes
Recht darauf. Wenn sich sogar Angehörige der Obrigkeit so äußern, so kann
man sich nicht wundern, daß kaum ein Tag vergeht, an dem nicht die
Zeitungen von Viehverjagung zu erzählen haben. „Es kann niemand wunder¬
nehmen, so sagen die Times vom 20. Juni dieses Jahres, daß die schmerzlichen
Eindrücke unter den irischen Unionisten über die vertuschende Sprache des Lord


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/666>, abgerufen am 05.12.2024.