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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Luftreisen

ungeeignetste. Etwa bei Danzig würden wir die See erreichen, dann aber uns
ziemlich in der Mitte zwischen Gotland und Kurland halten, und die erste Ge¬
legenheit zur Landung würde sich vielleicht auf einer der Älcmdsinseln finden,
wahrscheinlich aber würden wir, vorausgesetzt, daß Mangel an Ballast nicht früher
schon eine Katastrophe herbeiführte, über den Bodenlöcher Meerbusen nordwärts
getrieben werden. Träte eine Steigerung der in der Wetterlage begründeten Links¬
drehung ein, die uns allmählich auf die Rückseite des Tiefdruckgebietes brächte, so
könnte allenfalls eine Landung in Schweden erfolgen. Der Gedanke an einen Flug
über die See ist also unter diesen Verhältnissen völlig ausgeschlossen. Was aber
nun? Die Fahrt bis Danzig fortsetzen? Bei der herrschenden Windstille und
den drohenden Regenwolken? Für die 230 Kilometer bis Danzig würden wir
bei der durchschnittlichen Geschwindigkeit der letzten drei Stunden etwa einen
ganzen Tag brauchen. Das lohnt sich nicht. Aber mit achtzehn Sack Ballast
landen? Das wäre unerhört.

So beschließen wir denn 1 Uhr 45 Minuten, zur Ausnützung des Ballasts
eine kleine Hochfahrt in den Sonnenschein anzuschließen. Wir nehmen einen
Sack nach dem andern zur Hand und lassen seinen Inhalt ausfließen. Mit
1500 Meter haben wir den untern Rand der Wolken erreicht und dringen nun
in diese selbst ein. Die Erde entschwindet unsern Blicken, über uns, unter uns,
rings um uns dieselben trüben, grauen Massen, nicht wogend, sondern wie er¬
starrt, kalt und feucht, bei 2000 Meter zeigt das Thermometer minus 2 Grad
Celsius an. Die Nässe beschwert den Ballon und zwingt uns zu größern Sand¬
opfern. Jetzt aber ändert sich die Farbe unsrer luftigen Umgebung mit jedem
Augenblick, je höher wir steigen. Immer lichter wird das Grau, schon könnten
wir glauben, in einem Märchenbau aus Milchglas zu verweilen, bis es schließlich
in ein blendendes Weiß übergeht, sodaß die Augen uns schmerzen, und wir sie
durch dunkle Gläser schützen. Das ist ein gutes Zeichen, daß wir unserm Ziele
näher kommen. Auch von den wärmenden Sonnenstrahlen spüren wir schon
etwas, trotz der noch über uns lastenden Decke, und obwohl das Thermometer
nicht steigt.

Es ist eine Schicht von großer Mächtigkeit, und doch haben wir Glück, wir
durchstoßen sie an einer verhältnismäßig schwachen Stelle. Bei 2500 Meter
surge sie an sich zu lockern, das so oft schon von uns geschaute und doch
ruiner aufs neue wieder entzückende Spielen und Treiben beginnt, und durch
wirbelnde Schneeflocken wird es noch reizvoller. Wir selbst sind in einem Tal¬
kessel, um uns aber auf allen Seiten türmen sich Haufenwolken zu riesigen Ge¬
bilden auf. Auch über uns ist der Himmel noch lange nicht frei, wir ahnen
Wohl den Stand der Sonne, und auf den Inhalt unsers Ballons übt sie auch
schon ihre Wirkung aus, wir steigen einige Minuten, ohne Ballast auszugeben,
aber sie selbst sehen wir noch nicht. Freilich währt diese Freude nicht lange,
eine Schneewolke hüllt uns wieder ein und bewirkt sofortiges Fallen. Das
darf nicht sein, also weiter empor! 2 Uhr 30 Minuten, in 3150 Meter Höhe,


Luftreisen

ungeeignetste. Etwa bei Danzig würden wir die See erreichen, dann aber uns
ziemlich in der Mitte zwischen Gotland und Kurland halten, und die erste Ge¬
legenheit zur Landung würde sich vielleicht auf einer der Älcmdsinseln finden,
wahrscheinlich aber würden wir, vorausgesetzt, daß Mangel an Ballast nicht früher
schon eine Katastrophe herbeiführte, über den Bodenlöcher Meerbusen nordwärts
getrieben werden. Träte eine Steigerung der in der Wetterlage begründeten Links¬
drehung ein, die uns allmählich auf die Rückseite des Tiefdruckgebietes brächte, so
könnte allenfalls eine Landung in Schweden erfolgen. Der Gedanke an einen Flug
über die See ist also unter diesen Verhältnissen völlig ausgeschlossen. Was aber
nun? Die Fahrt bis Danzig fortsetzen? Bei der herrschenden Windstille und
den drohenden Regenwolken? Für die 230 Kilometer bis Danzig würden wir
bei der durchschnittlichen Geschwindigkeit der letzten drei Stunden etwa einen
ganzen Tag brauchen. Das lohnt sich nicht. Aber mit achtzehn Sack Ballast
landen? Das wäre unerhört.

So beschließen wir denn 1 Uhr 45 Minuten, zur Ausnützung des Ballasts
eine kleine Hochfahrt in den Sonnenschein anzuschließen. Wir nehmen einen
Sack nach dem andern zur Hand und lassen seinen Inhalt ausfließen. Mit
1500 Meter haben wir den untern Rand der Wolken erreicht und dringen nun
in diese selbst ein. Die Erde entschwindet unsern Blicken, über uns, unter uns,
rings um uns dieselben trüben, grauen Massen, nicht wogend, sondern wie er¬
starrt, kalt und feucht, bei 2000 Meter zeigt das Thermometer minus 2 Grad
Celsius an. Die Nässe beschwert den Ballon und zwingt uns zu größern Sand¬
opfern. Jetzt aber ändert sich die Farbe unsrer luftigen Umgebung mit jedem
Augenblick, je höher wir steigen. Immer lichter wird das Grau, schon könnten
wir glauben, in einem Märchenbau aus Milchglas zu verweilen, bis es schließlich
in ein blendendes Weiß übergeht, sodaß die Augen uns schmerzen, und wir sie
durch dunkle Gläser schützen. Das ist ein gutes Zeichen, daß wir unserm Ziele
näher kommen. Auch von den wärmenden Sonnenstrahlen spüren wir schon
etwas, trotz der noch über uns lastenden Decke, und obwohl das Thermometer
nicht steigt.

Es ist eine Schicht von großer Mächtigkeit, und doch haben wir Glück, wir
durchstoßen sie an einer verhältnismäßig schwachen Stelle. Bei 2500 Meter
surge sie an sich zu lockern, das so oft schon von uns geschaute und doch
ruiner aufs neue wieder entzückende Spielen und Treiben beginnt, und durch
wirbelnde Schneeflocken wird es noch reizvoller. Wir selbst sind in einem Tal¬
kessel, um uns aber auf allen Seiten türmen sich Haufenwolken zu riesigen Ge¬
bilden auf. Auch über uns ist der Himmel noch lange nicht frei, wir ahnen
Wohl den Stand der Sonne, und auf den Inhalt unsers Ballons übt sie auch
schon ihre Wirkung aus, wir steigen einige Minuten, ohne Ballast auszugeben,
aber sie selbst sehen wir noch nicht. Freilich währt diese Freude nicht lange,
eine Schneewolke hüllt uns wieder ein und bewirkt sofortiges Fallen. Das
darf nicht sein, also weiter empor! 2 Uhr 30 Minuten, in 3150 Meter Höhe,


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[0579] Luftreisen ungeeignetste. Etwa bei Danzig würden wir die See erreichen, dann aber uns ziemlich in der Mitte zwischen Gotland und Kurland halten, und die erste Ge¬ legenheit zur Landung würde sich vielleicht auf einer der Älcmdsinseln finden, wahrscheinlich aber würden wir, vorausgesetzt, daß Mangel an Ballast nicht früher schon eine Katastrophe herbeiführte, über den Bodenlöcher Meerbusen nordwärts getrieben werden. Träte eine Steigerung der in der Wetterlage begründeten Links¬ drehung ein, die uns allmählich auf die Rückseite des Tiefdruckgebietes brächte, so könnte allenfalls eine Landung in Schweden erfolgen. Der Gedanke an einen Flug über die See ist also unter diesen Verhältnissen völlig ausgeschlossen. Was aber nun? Die Fahrt bis Danzig fortsetzen? Bei der herrschenden Windstille und den drohenden Regenwolken? Für die 230 Kilometer bis Danzig würden wir bei der durchschnittlichen Geschwindigkeit der letzten drei Stunden etwa einen ganzen Tag brauchen. Das lohnt sich nicht. Aber mit achtzehn Sack Ballast landen? Das wäre unerhört. So beschließen wir denn 1 Uhr 45 Minuten, zur Ausnützung des Ballasts eine kleine Hochfahrt in den Sonnenschein anzuschließen. Wir nehmen einen Sack nach dem andern zur Hand und lassen seinen Inhalt ausfließen. Mit 1500 Meter haben wir den untern Rand der Wolken erreicht und dringen nun in diese selbst ein. Die Erde entschwindet unsern Blicken, über uns, unter uns, rings um uns dieselben trüben, grauen Massen, nicht wogend, sondern wie er¬ starrt, kalt und feucht, bei 2000 Meter zeigt das Thermometer minus 2 Grad Celsius an. Die Nässe beschwert den Ballon und zwingt uns zu größern Sand¬ opfern. Jetzt aber ändert sich die Farbe unsrer luftigen Umgebung mit jedem Augenblick, je höher wir steigen. Immer lichter wird das Grau, schon könnten wir glauben, in einem Märchenbau aus Milchglas zu verweilen, bis es schließlich in ein blendendes Weiß übergeht, sodaß die Augen uns schmerzen, und wir sie durch dunkle Gläser schützen. Das ist ein gutes Zeichen, daß wir unserm Ziele näher kommen. Auch von den wärmenden Sonnenstrahlen spüren wir schon etwas, trotz der noch über uns lastenden Decke, und obwohl das Thermometer nicht steigt. Es ist eine Schicht von großer Mächtigkeit, und doch haben wir Glück, wir durchstoßen sie an einer verhältnismäßig schwachen Stelle. Bei 2500 Meter surge sie an sich zu lockern, das so oft schon von uns geschaute und doch ruiner aufs neue wieder entzückende Spielen und Treiben beginnt, und durch wirbelnde Schneeflocken wird es noch reizvoller. Wir selbst sind in einem Tal¬ kessel, um uns aber auf allen Seiten türmen sich Haufenwolken zu riesigen Ge¬ bilden auf. Auch über uns ist der Himmel noch lange nicht frei, wir ahnen Wohl den Stand der Sonne, und auf den Inhalt unsers Ballons übt sie auch schon ihre Wirkung aus, wir steigen einige Minuten, ohne Ballast auszugeben, aber sie selbst sehen wir noch nicht. Freilich währt diese Freude nicht lange, eine Schneewolke hüllt uns wieder ein und bewirkt sofortiges Fallen. Das darf nicht sein, also weiter empor! 2 Uhr 30 Minuten, in 3150 Meter Höhe,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/579>, abgerufen am 01.09.2024.