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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Franziskus von Assisi

Lebensbejahung sieht in der Möncherei eine "eitle Traumlehre wider Christum,
ein nichtiges und närrisches Werk, welches jeglicher böse Bube wohl tun kann".
Ja, er sieht darin den Inbegriff aller Verkehrung des echten religiösen Lebens,
das für ihn ganz allein auf der Gnade Gottes ruht, während die Mönche mit
ihrem Tun vorgeben, sie könnten einen Stand besondrer Vollkommenheit er¬
reichen. Luther hat das Joch der römischen Kirche von den Schultern des
deutschen Volkes heruntergerissen, Franz aber war ein gehorsamer Sohn der
römischen Kirche, für die er mit seiner Schöpfung neue, feste Stützen im Volks¬
leben geschaffen hat. Luther war ein Mann, der in heiligem Zorn die Geißel
in die Hand genommen und mit mehr als scharfen Schlägen versucht hat, das
zur Mördergrube gemachte Gebäude der Kirche zu einem Bethause zu machen;
er war eine im höchsten Sinne tatenfrohe Mannesnatur. Franz aber war wohl
des tiefsten Schmerzes fähig, nicht aber eines männlichen, starken Zornes und
einer reformatorischen Kraft. So stehen sich die beiden in unsern Gedanken
gegenüber, wie wir meinen, als vollendete Gegensätze. Und selbstverständlich will
es uns dünken, daß sich Luther in seiner Art der Frömmigkeit und mit seinem
derben deutschen Mannesmute von diesem welschen, weltabgewandten, empfind¬
samen Heiligen abgestoßen fühlte. Das aber ist nun eben die Frage, ob Luther,
mit dessen Augen wir versucht sind, jenes Heiligenleben zu betrachten, uns ein
Lehrer auch in geschichtlicher Gerechtigkeit sein kann; ob nicht eben Luthers
Blick für diesen Mann getrübt war. Ich meine: nicht nur Toleranz zu üben soll
evangelische Tugend sein, sondern eng damit zusammenhängend soll gerade der
Evangelische fähig sein, wahre Menschengröße zu würdigen, wo immer er sie
findet. Und in Franz von Assisi begegnet uns ein Mensch von wahrhafter
Größe!

In längst vergangne Zeiten kehren wir zurück. Etwa im Jahre 1182 ist
Franziskus geboren. Seine Heimat im Herzen von Italien schildert uns die
Feder seines begeistertsten Biographen: "Fast spurlos sind die Jahrhunderte an
Assisi vorübergerauscht. Zwar liegt die alte Burg in Trümmern, aber die
langen öden Straßen mit ihren hundertjährigen Häusern machen noch heute den
gleichen Eindruck wie vor sechs- oder siebenhundert Jahren. Terrassenförmig
auf einem Hügel erbaut, der stolz vom Monte Subasio überragt wird, über¬
sieht die Stadt zu ihren Füßen die ganze umbrische Ebene von Perugia bis
Spoleto. Wie Kinder, die sich drücken und drängen und auf die Fußspitzen
stellen, um möglichst alles zu sehen, klettern die Häuser an den Felsen empor.
Und in der Tat ist ihre Lage so günstig, daß man aus jedem Fenster die
ganze Landschaft überblicken kann, bis hin zu den Wellenlinien der fernen Berge,
auf deren Gipfel sich Schlösser und Dörfer deutlich von dem wunderbar klaren
Himmel abheben." Franzens Vater Bernardone war selten daheim. Sein
Kaufmannsberuf führte ihn weit durch das Land, oft auch hinüber bis über die
Alpen in die Provence, das südliche Frankreich. Man sagt, daß die Kaufleute
in jener Zeit auch die Kolporteure der Ideen gewesen seien. Franzens Vater


Grenzboten III 1907 73
Franziskus von Assisi

Lebensbejahung sieht in der Möncherei eine „eitle Traumlehre wider Christum,
ein nichtiges und närrisches Werk, welches jeglicher böse Bube wohl tun kann".
Ja, er sieht darin den Inbegriff aller Verkehrung des echten religiösen Lebens,
das für ihn ganz allein auf der Gnade Gottes ruht, während die Mönche mit
ihrem Tun vorgeben, sie könnten einen Stand besondrer Vollkommenheit er¬
reichen. Luther hat das Joch der römischen Kirche von den Schultern des
deutschen Volkes heruntergerissen, Franz aber war ein gehorsamer Sohn der
römischen Kirche, für die er mit seiner Schöpfung neue, feste Stützen im Volks¬
leben geschaffen hat. Luther war ein Mann, der in heiligem Zorn die Geißel
in die Hand genommen und mit mehr als scharfen Schlägen versucht hat, das
zur Mördergrube gemachte Gebäude der Kirche zu einem Bethause zu machen;
er war eine im höchsten Sinne tatenfrohe Mannesnatur. Franz aber war wohl
des tiefsten Schmerzes fähig, nicht aber eines männlichen, starken Zornes und
einer reformatorischen Kraft. So stehen sich die beiden in unsern Gedanken
gegenüber, wie wir meinen, als vollendete Gegensätze. Und selbstverständlich will
es uns dünken, daß sich Luther in seiner Art der Frömmigkeit und mit seinem
derben deutschen Mannesmute von diesem welschen, weltabgewandten, empfind¬
samen Heiligen abgestoßen fühlte. Das aber ist nun eben die Frage, ob Luther,
mit dessen Augen wir versucht sind, jenes Heiligenleben zu betrachten, uns ein
Lehrer auch in geschichtlicher Gerechtigkeit sein kann; ob nicht eben Luthers
Blick für diesen Mann getrübt war. Ich meine: nicht nur Toleranz zu üben soll
evangelische Tugend sein, sondern eng damit zusammenhängend soll gerade der
Evangelische fähig sein, wahre Menschengröße zu würdigen, wo immer er sie
findet. Und in Franz von Assisi begegnet uns ein Mensch von wahrhafter
Größe!

In längst vergangne Zeiten kehren wir zurück. Etwa im Jahre 1182 ist
Franziskus geboren. Seine Heimat im Herzen von Italien schildert uns die
Feder seines begeistertsten Biographen: „Fast spurlos sind die Jahrhunderte an
Assisi vorübergerauscht. Zwar liegt die alte Burg in Trümmern, aber die
langen öden Straßen mit ihren hundertjährigen Häusern machen noch heute den
gleichen Eindruck wie vor sechs- oder siebenhundert Jahren. Terrassenförmig
auf einem Hügel erbaut, der stolz vom Monte Subasio überragt wird, über¬
sieht die Stadt zu ihren Füßen die ganze umbrische Ebene von Perugia bis
Spoleto. Wie Kinder, die sich drücken und drängen und auf die Fußspitzen
stellen, um möglichst alles zu sehen, klettern die Häuser an den Felsen empor.
Und in der Tat ist ihre Lage so günstig, daß man aus jedem Fenster die
ganze Landschaft überblicken kann, bis hin zu den Wellenlinien der fernen Berge,
auf deren Gipfel sich Schlösser und Dörfer deutlich von dem wunderbar klaren
Himmel abheben." Franzens Vater Bernardone war selten daheim. Sein
Kaufmannsberuf führte ihn weit durch das Land, oft auch hinüber bis über die
Alpen in die Provence, das südliche Frankreich. Man sagt, daß die Kaufleute
in jener Zeit auch die Kolporteure der Ideen gewesen seien. Franzens Vater


Grenzboten III 1907 73
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[0565] Franziskus von Assisi Lebensbejahung sieht in der Möncherei eine „eitle Traumlehre wider Christum, ein nichtiges und närrisches Werk, welches jeglicher böse Bube wohl tun kann". Ja, er sieht darin den Inbegriff aller Verkehrung des echten religiösen Lebens, das für ihn ganz allein auf der Gnade Gottes ruht, während die Mönche mit ihrem Tun vorgeben, sie könnten einen Stand besondrer Vollkommenheit er¬ reichen. Luther hat das Joch der römischen Kirche von den Schultern des deutschen Volkes heruntergerissen, Franz aber war ein gehorsamer Sohn der römischen Kirche, für die er mit seiner Schöpfung neue, feste Stützen im Volks¬ leben geschaffen hat. Luther war ein Mann, der in heiligem Zorn die Geißel in die Hand genommen und mit mehr als scharfen Schlägen versucht hat, das zur Mördergrube gemachte Gebäude der Kirche zu einem Bethause zu machen; er war eine im höchsten Sinne tatenfrohe Mannesnatur. Franz aber war wohl des tiefsten Schmerzes fähig, nicht aber eines männlichen, starken Zornes und einer reformatorischen Kraft. So stehen sich die beiden in unsern Gedanken gegenüber, wie wir meinen, als vollendete Gegensätze. Und selbstverständlich will es uns dünken, daß sich Luther in seiner Art der Frömmigkeit und mit seinem derben deutschen Mannesmute von diesem welschen, weltabgewandten, empfind¬ samen Heiligen abgestoßen fühlte. Das aber ist nun eben die Frage, ob Luther, mit dessen Augen wir versucht sind, jenes Heiligenleben zu betrachten, uns ein Lehrer auch in geschichtlicher Gerechtigkeit sein kann; ob nicht eben Luthers Blick für diesen Mann getrübt war. Ich meine: nicht nur Toleranz zu üben soll evangelische Tugend sein, sondern eng damit zusammenhängend soll gerade der Evangelische fähig sein, wahre Menschengröße zu würdigen, wo immer er sie findet. Und in Franz von Assisi begegnet uns ein Mensch von wahrhafter Größe! In längst vergangne Zeiten kehren wir zurück. Etwa im Jahre 1182 ist Franziskus geboren. Seine Heimat im Herzen von Italien schildert uns die Feder seines begeistertsten Biographen: „Fast spurlos sind die Jahrhunderte an Assisi vorübergerauscht. Zwar liegt die alte Burg in Trümmern, aber die langen öden Straßen mit ihren hundertjährigen Häusern machen noch heute den gleichen Eindruck wie vor sechs- oder siebenhundert Jahren. Terrassenförmig auf einem Hügel erbaut, der stolz vom Monte Subasio überragt wird, über¬ sieht die Stadt zu ihren Füßen die ganze umbrische Ebene von Perugia bis Spoleto. Wie Kinder, die sich drücken und drängen und auf die Fußspitzen stellen, um möglichst alles zu sehen, klettern die Häuser an den Felsen empor. Und in der Tat ist ihre Lage so günstig, daß man aus jedem Fenster die ganze Landschaft überblicken kann, bis hin zu den Wellenlinien der fernen Berge, auf deren Gipfel sich Schlösser und Dörfer deutlich von dem wunderbar klaren Himmel abheben." Franzens Vater Bernardone war selten daheim. Sein Kaufmannsberuf führte ihn weit durch das Land, oft auch hinüber bis über die Alpen in die Provence, das südliche Frankreich. Man sagt, daß die Kaufleute in jener Zeit auch die Kolporteure der Ideen gewesen seien. Franzens Vater Grenzboten III 1907 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/565>, abgerufen am 12.12.2024.