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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

von dem Herrscher entgegengebracht wurde. Die Bewirtschaftung und Aus¬
breitung ländlichen Besitzes wurde nur wenig gepflegt. Vom Tage ihres Ent¬
stehens an ist darum die ä^vorMstvo ein Hof- und Beamtenadel ohne gemein¬
schaftliche ständische Interessen, die doch nur aus der Summe ähnlicher Interessen
aller der einzelnen Persönlichkeiten entsteh" könnten. Dieser Charakter findet
sich auch in dem Umstände, daß die clruslimniki und die spätern äworjane die
Hauptaufgabe ihres Daseins in der Unterstützung des Großfürsten bei der Ne¬
gierung über die Bauern sahen. Daß es zunächst auf die Ausbeutung der
Bauern ankam, braucht hier nicht besonders erörtert zu werden.'") Im Verlauf
des siebzehnten Jahrhunderts wurde der Adel, der nur als Werkzeug des
Großfürsten zu bestehn vermochte, geradezu zum Sklaven des Staats. Er
wurde verpflichtet, lebenslänglich Staatsdienst zu tuu, und wurde durch den
Staat grausam verfolgt, sofern er sich seinen gesetzlich festgelegten Verpflichtungen
entziehn wollte. Der Adel wurde sogar der Prügelstrafe unterworfen!

Die sich hieraus ergebenden Wirtschaftsverhältnisfe haben dann der schnellen
Erstarkung der Staatsgewalt bedeutend Vorschub geleistet. Sie griff dort am
meisten in die soziale Entwicklung der Gesellschaft ein, wo sie den geringsten
Widerstand fand. Das war aber in der sozialen Schicht der Großgrundbesitzer,
des freiwillig dienenden Adels. In der Zeit von 1484 bis 1584, in die be¬
sonders die militärische Erstarkung des Staates fällt, verlieren die wenigen
alten Bojarenfamilien ihre Bedeutung. Neben den höfischen Dienstadel trat
der militärische. Schon 1484 hat Iwan der Dritte mehr als 8000 Guts¬
herren, die sich nicht zum Kriegsdienst verpflichten wollten, ihres Landes be¬
raubt und an ihre Stelle zu zeitlichem Nießbrauch Mitglieder des ständigen
Heeres gesetzt. Infolge dieser innern und äußern Verhältnisse hatte die
ä>orskmstvw vielfach die Verbindung mit dem Lande verloren. Auf dem
platten Lande und in den Provinzstädten gab es darum auch fast gar kein ge¬
sellschaftliches Leben. Die Provinzstüdte waren unbedeutend, ihre außer¬
ordentlich geringe Bevölkerung gehörte vorwiegend den untern Schichten an,
die keine ständischen oder zünftigen Unterscheidungen kannten. Verwaltungs¬
behörden waren nur in geringer Zahl vorhanden, und Adliche fanden in ihnen
kaum Verwendung. Der Adel befand sich im Staatsdienst**) in den Haupt¬
städten oder im Heere an den Grenzen des Reiches. In den Landkreisen selbst
lebten Adliche nur ausnahmsweise. Das waren größtenteils aus dem Staats¬
dienst verabschiedete Greise und die allerärmsten Vertreter ihres Standes. Das
Leben dieser adlichen Landbewohner unterschied sich nur wenig von dem der
Bauern; sie hausten in demselben Dorf, in den gleichen mit Stroh gedeckten
Hütten, führten dieselben Unterhaltungen, hatten dieselben Interessen wie die
Bauern.




*) Siehe auch Tugan-Baranowski, M., Geschichte der russischen Fabrik. Berlin, 1900.
**) Tschetschulin, Die russische Provinzgessllschaft in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts. Se. Petersburg, 1889. S, 27 sf.
Russische Briefe

von dem Herrscher entgegengebracht wurde. Die Bewirtschaftung und Aus¬
breitung ländlichen Besitzes wurde nur wenig gepflegt. Vom Tage ihres Ent¬
stehens an ist darum die ä^vorMstvo ein Hof- und Beamtenadel ohne gemein¬
schaftliche ständische Interessen, die doch nur aus der Summe ähnlicher Interessen
aller der einzelnen Persönlichkeiten entsteh« könnten. Dieser Charakter findet
sich auch in dem Umstände, daß die clruslimniki und die spätern äworjane die
Hauptaufgabe ihres Daseins in der Unterstützung des Großfürsten bei der Ne¬
gierung über die Bauern sahen. Daß es zunächst auf die Ausbeutung der
Bauern ankam, braucht hier nicht besonders erörtert zu werden.'") Im Verlauf
des siebzehnten Jahrhunderts wurde der Adel, der nur als Werkzeug des
Großfürsten zu bestehn vermochte, geradezu zum Sklaven des Staats. Er
wurde verpflichtet, lebenslänglich Staatsdienst zu tuu, und wurde durch den
Staat grausam verfolgt, sofern er sich seinen gesetzlich festgelegten Verpflichtungen
entziehn wollte. Der Adel wurde sogar der Prügelstrafe unterworfen!

Die sich hieraus ergebenden Wirtschaftsverhältnisfe haben dann der schnellen
Erstarkung der Staatsgewalt bedeutend Vorschub geleistet. Sie griff dort am
meisten in die soziale Entwicklung der Gesellschaft ein, wo sie den geringsten
Widerstand fand. Das war aber in der sozialen Schicht der Großgrundbesitzer,
des freiwillig dienenden Adels. In der Zeit von 1484 bis 1584, in die be¬
sonders die militärische Erstarkung des Staates fällt, verlieren die wenigen
alten Bojarenfamilien ihre Bedeutung. Neben den höfischen Dienstadel trat
der militärische. Schon 1484 hat Iwan der Dritte mehr als 8000 Guts¬
herren, die sich nicht zum Kriegsdienst verpflichten wollten, ihres Landes be¬
raubt und an ihre Stelle zu zeitlichem Nießbrauch Mitglieder des ständigen
Heeres gesetzt. Infolge dieser innern und äußern Verhältnisse hatte die
ä>orskmstvw vielfach die Verbindung mit dem Lande verloren. Auf dem
platten Lande und in den Provinzstädten gab es darum auch fast gar kein ge¬
sellschaftliches Leben. Die Provinzstüdte waren unbedeutend, ihre außer¬
ordentlich geringe Bevölkerung gehörte vorwiegend den untern Schichten an,
die keine ständischen oder zünftigen Unterscheidungen kannten. Verwaltungs¬
behörden waren nur in geringer Zahl vorhanden, und Adliche fanden in ihnen
kaum Verwendung. Der Adel befand sich im Staatsdienst**) in den Haupt¬
städten oder im Heere an den Grenzen des Reiches. In den Landkreisen selbst
lebten Adliche nur ausnahmsweise. Das waren größtenteils aus dem Staats¬
dienst verabschiedete Greise und die allerärmsten Vertreter ihres Standes. Das
Leben dieser adlichen Landbewohner unterschied sich nur wenig von dem der
Bauern; sie hausten in demselben Dorf, in den gleichen mit Stroh gedeckten
Hütten, führten dieselben Unterhaltungen, hatten dieselben Interessen wie die
Bauern.




*) Siehe auch Tugan-Baranowski, M., Geschichte der russischen Fabrik. Berlin, 1900.
**) Tschetschulin, Die russische Provinzgessllschaft in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts. Se. Petersburg, 1889. S, 27 sf.
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[0506] Russische Briefe von dem Herrscher entgegengebracht wurde. Die Bewirtschaftung und Aus¬ breitung ländlichen Besitzes wurde nur wenig gepflegt. Vom Tage ihres Ent¬ stehens an ist darum die ä^vorMstvo ein Hof- und Beamtenadel ohne gemein¬ schaftliche ständische Interessen, die doch nur aus der Summe ähnlicher Interessen aller der einzelnen Persönlichkeiten entsteh« könnten. Dieser Charakter findet sich auch in dem Umstände, daß die clruslimniki und die spätern äworjane die Hauptaufgabe ihres Daseins in der Unterstützung des Großfürsten bei der Ne¬ gierung über die Bauern sahen. Daß es zunächst auf die Ausbeutung der Bauern ankam, braucht hier nicht besonders erörtert zu werden.'") Im Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts wurde der Adel, der nur als Werkzeug des Großfürsten zu bestehn vermochte, geradezu zum Sklaven des Staats. Er wurde verpflichtet, lebenslänglich Staatsdienst zu tuu, und wurde durch den Staat grausam verfolgt, sofern er sich seinen gesetzlich festgelegten Verpflichtungen entziehn wollte. Der Adel wurde sogar der Prügelstrafe unterworfen! Die sich hieraus ergebenden Wirtschaftsverhältnisfe haben dann der schnellen Erstarkung der Staatsgewalt bedeutend Vorschub geleistet. Sie griff dort am meisten in die soziale Entwicklung der Gesellschaft ein, wo sie den geringsten Widerstand fand. Das war aber in der sozialen Schicht der Großgrundbesitzer, des freiwillig dienenden Adels. In der Zeit von 1484 bis 1584, in die be¬ sonders die militärische Erstarkung des Staates fällt, verlieren die wenigen alten Bojarenfamilien ihre Bedeutung. Neben den höfischen Dienstadel trat der militärische. Schon 1484 hat Iwan der Dritte mehr als 8000 Guts¬ herren, die sich nicht zum Kriegsdienst verpflichten wollten, ihres Landes be¬ raubt und an ihre Stelle zu zeitlichem Nießbrauch Mitglieder des ständigen Heeres gesetzt. Infolge dieser innern und äußern Verhältnisse hatte die ä>orskmstvw vielfach die Verbindung mit dem Lande verloren. Auf dem platten Lande und in den Provinzstädten gab es darum auch fast gar kein ge¬ sellschaftliches Leben. Die Provinzstüdte waren unbedeutend, ihre außer¬ ordentlich geringe Bevölkerung gehörte vorwiegend den untern Schichten an, die keine ständischen oder zünftigen Unterscheidungen kannten. Verwaltungs¬ behörden waren nur in geringer Zahl vorhanden, und Adliche fanden in ihnen kaum Verwendung. Der Adel befand sich im Staatsdienst**) in den Haupt¬ städten oder im Heere an den Grenzen des Reiches. In den Landkreisen selbst lebten Adliche nur ausnahmsweise. Das waren größtenteils aus dem Staats¬ dienst verabschiedete Greise und die allerärmsten Vertreter ihres Standes. Das Leben dieser adlichen Landbewohner unterschied sich nur wenig von dem der Bauern; sie hausten in demselben Dorf, in den gleichen mit Stroh gedeckten Hütten, führten dieselben Unterhaltungen, hatten dieselben Interessen wie die Bauern. *) Siehe auch Tugan-Baranowski, M., Geschichte der russischen Fabrik. Berlin, 1900. **) Tschetschulin, Die russische Provinzgessllschaft in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Se. Petersburg, 1889. S, 27 sf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/506>, abgerufen am 12.12.2024.