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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Konfession und Wirtschaftsleben

befähigt, seine Vorstellungen dem Genossen vollständig mitzuteilen, während
die übrigen Tiere nur ihre Affekte auszudrücken vermögen, wie der Hund den
Zorn durch Bellen." Und an andern Stellen: "Obwohl der Mensch von
Natur den Trieb hat, sich das zum Leben Notwendige zu verschaffen, ist es
doch nicht notwendig, daß jeder einzelne diesem Geschüft obliege. Auch im
Bienenstock betreiben ja nicht alle dasselbe; sondern die einen sammeln Honig,
die andern bauen Wachszellen, und die Könige tun keins von beiden. Ähnlich
ist es bei den Menschen. Weil zu ihrem Leben vielerlei notwendig ist, was
nicht alles von einem einzelnen geleistet werden kann, müssen verschiedne Ver-
schiednes betreiben: die einen den Acker bestellen, die andern Häuser bauen.
Und weil der Mensch nicht allein der körperlichen, sondern noch mehr der
geistigen Güter bedarf, müssen einige von der Sorge fürs Zeitliche freibleiben
und sich der Besserung der übrigen widmen. Die Verteilung der verschiednen
Ämter (ollioia) an die verschiednen Personen geschieht in der Weise, daß durch
eine Veranstaltung der göttlichen Vorsehung die einen mehr diesem, die andern
mehr jenem Amte zuneigen. ... Die Natur verfährt nicht so, daß sie einen
und denselben für verschiedne Ämter befähigte (oräivst), sondern sie bestimmt
(Äoxuwt) jeden nur für ein Amt. .. . Wie der eine Mensch verschiedne Glieder
für verschiedne Verrichtungen hat, so verhält es sich auch mit dem, was für
die ganze Gattung notwendig ist; deshalb müssen (nach Römer 12,4) ver¬
schiedne Menschen in verschiednen Ämtern tätig sein. Diese Differenzierung
lMvvrsiüoatio) beruht ursprünglich auf der göttlichen Vorsehung, die den Zustand
der Menschheit so eingerichtet hat, daß es nie an alledem fehlt, wessen die Menschen
zum Leben bedürfen, in zweiter Ordnung auf natürlichen Ursachen, indem die ver¬
schiednen Menschen verschiednen Verrichtungen und Lebensweisen zuneigen."

Demnach führt Thomas das gesamte Gesellschaftsleben auf die Arbeits¬
teilung zurück, die es allein ermögliche, daß alle menschlichen Bedürfnisse be¬
friedigt werden, eine Arbeitsteilung, die durch die Gliederung in verschiedne
Berufe bewirkt wird, also nicht die von Adam Smith beschriebne ist, obwohl
man diese als die radikale Durchführung jener ansehen kann. Von hier aus,
meint Maurenbrecher, gewinne Thomas die Möglichkeit einer sittlichen Wertung
des Berufs, wie man sie vor ihm wohl kaum in der Kirche gekannt habe, und
die schon an die reformatorische Auffassung heranreiche, nach der jede Berufs¬
arbeit ein Gottesdienst ist. Von Aristoteles habe er diese Einsicht nicht. Daß
es verschiedne Kunstfertigkeiten gibt, wisse dieser natürlich auch; aber daß
jemand sie zur Unterlage eines Erwerbs machen könne, erscheine ihm so un¬
natürlich, daß er es sich nnr aus einem gänzlichen Verfall der Sitten, als
Ausfluß unersättlicher Geldgier erklären könne, und daß er den Bevölkerungs¬
klassen, die auf solchen Erwerb angewiesen sind, das Vollbürgerrecht nicht ein¬
räumen möge. Eher fänden sich bei den Stoikern Anklänge, die Thomas auf
seine Idee gebracht haben könnten. Sollte er sie nicht aus Paulus geschöpft
und durch die Beobachtung der Wirklichkeit bestätigt gefunden haben?


Konfession und Wirtschaftsleben

befähigt, seine Vorstellungen dem Genossen vollständig mitzuteilen, während
die übrigen Tiere nur ihre Affekte auszudrücken vermögen, wie der Hund den
Zorn durch Bellen." Und an andern Stellen: „Obwohl der Mensch von
Natur den Trieb hat, sich das zum Leben Notwendige zu verschaffen, ist es
doch nicht notwendig, daß jeder einzelne diesem Geschüft obliege. Auch im
Bienenstock betreiben ja nicht alle dasselbe; sondern die einen sammeln Honig,
die andern bauen Wachszellen, und die Könige tun keins von beiden. Ähnlich
ist es bei den Menschen. Weil zu ihrem Leben vielerlei notwendig ist, was
nicht alles von einem einzelnen geleistet werden kann, müssen verschiedne Ver-
schiednes betreiben: die einen den Acker bestellen, die andern Häuser bauen.
Und weil der Mensch nicht allein der körperlichen, sondern noch mehr der
geistigen Güter bedarf, müssen einige von der Sorge fürs Zeitliche freibleiben
und sich der Besserung der übrigen widmen. Die Verteilung der verschiednen
Ämter (ollioia) an die verschiednen Personen geschieht in der Weise, daß durch
eine Veranstaltung der göttlichen Vorsehung die einen mehr diesem, die andern
mehr jenem Amte zuneigen. ... Die Natur verfährt nicht so, daß sie einen
und denselben für verschiedne Ämter befähigte (oräivst), sondern sie bestimmt
(Äoxuwt) jeden nur für ein Amt. .. . Wie der eine Mensch verschiedne Glieder
für verschiedne Verrichtungen hat, so verhält es sich auch mit dem, was für
die ganze Gattung notwendig ist; deshalb müssen (nach Römer 12,4) ver¬
schiedne Menschen in verschiednen Ämtern tätig sein. Diese Differenzierung
lMvvrsiüoatio) beruht ursprünglich auf der göttlichen Vorsehung, die den Zustand
der Menschheit so eingerichtet hat, daß es nie an alledem fehlt, wessen die Menschen
zum Leben bedürfen, in zweiter Ordnung auf natürlichen Ursachen, indem die ver¬
schiednen Menschen verschiednen Verrichtungen und Lebensweisen zuneigen."

Demnach führt Thomas das gesamte Gesellschaftsleben auf die Arbeits¬
teilung zurück, die es allein ermögliche, daß alle menschlichen Bedürfnisse be¬
friedigt werden, eine Arbeitsteilung, die durch die Gliederung in verschiedne
Berufe bewirkt wird, also nicht die von Adam Smith beschriebne ist, obwohl
man diese als die radikale Durchführung jener ansehen kann. Von hier aus,
meint Maurenbrecher, gewinne Thomas die Möglichkeit einer sittlichen Wertung
des Berufs, wie man sie vor ihm wohl kaum in der Kirche gekannt habe, und
die schon an die reformatorische Auffassung heranreiche, nach der jede Berufs¬
arbeit ein Gottesdienst ist. Von Aristoteles habe er diese Einsicht nicht. Daß
es verschiedne Kunstfertigkeiten gibt, wisse dieser natürlich auch; aber daß
jemand sie zur Unterlage eines Erwerbs machen könne, erscheine ihm so un¬
natürlich, daß er es sich nnr aus einem gänzlichen Verfall der Sitten, als
Ausfluß unersättlicher Geldgier erklären könne, und daß er den Bevölkerungs¬
klassen, die auf solchen Erwerb angewiesen sind, das Vollbürgerrecht nicht ein¬
räumen möge. Eher fänden sich bei den Stoikern Anklänge, die Thomas auf
seine Idee gebracht haben könnten. Sollte er sie nicht aus Paulus geschöpft
und durch die Beobachtung der Wirklichkeit bestätigt gefunden haben?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/451>, abgerufen am 01.09.2024.