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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Konfession und Wirtschaftsleben

des heiligen Thomas von Aquin und des Sozialismus (Freiburg i. Vr.,
Herder, 1895).

Thomas hat dem Wirtschaftsleben kein besondres Werk gewidmet, sondern
nur gelegentlich einzelne wirtschaftliche Fragen erörtert sowie sozialpolitische,
die mit wirtschaftlichen zusammenhängen. Es geschieht dies teils in den
Kommentaren zur Ethik und zur Politik des Aristoteles, teils in einigen seiner
kleinern Schriften, teils an verschiednen Stellen seiner theologischen und seiner
philosophischen Summa. Wo es sich nicht um geoffenbarte Wahrheiten handelt,
übernimmt er einfach die Gedanken des Aristoteles, denn er sieht in ihm die
verkörperte Vernunft; mit den Worten: xlüloMpllus äivll, zitiert er ihn ge¬
wöhnlich. Die Aussprüche des Philosophen erläutert er dann noch mit An¬
führungen aus der Heiligen Schrift, aus den Kirchenvätern und dem kanonischen
Recht. Zugleich aber läßt er sich auch durch die ihn umgebende Wirklichkeit
beeinflussen und unterwirft die sämtlichen Autoritäten, die er benutzt, seiner
selbständigen Beurteilung hauptsächlich zu dem Zwecke, sie miteinander in Ein¬
klang zu bringen. Nicht immer ist es leicht, zu unterscheiden, ob das, was er
aus seinen Gewährsmännern anführt, zugleich seine eigne Ansicht ausdrücken
soll, und ob Abweichungen von ihnen bei der Wiedergabe ihrer Ansichten auf
Mißverständnissen beruhen oder Korrekturen sein sollen. Dem Aristoteles
entlehnt Thomas den Grundgedanken aller Gesellschaftslehre, daß der Mensch
von Natur ein politisches Wesen ist, aber er versteht ihn ganz anders als der
Grieche. Dieser wollte damit sagen, daß der Mensch dazu bestimmt sei. im
Staate zu leben, und zwar, weil er sonst nicht wirklich Mensch sein, seine
Persönlichkeit nicht vollenden könne. Thomas denkt gar nicht an den Staat,
sondern meint nur, daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen sei und es sein
müsse zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. "Den übrigen aillnullibus, schreibt
er, hat die Natur ihre Nahrung, ihr Haarkleid, ihre Verteidigungsmittcl wie
Zähne, Hörner, Krallen oder wenigstens die Mittel zu rascher Flucht verliehen;
der Mensch dagegen ist mit nichts dergleichen ausgerüstet. Dafür ist ihm die
Vernunft gegeben, durch die er sich mittelst seiner Hände das alles selbst be¬
reiten kann. Aber dazu genügt ein Mensch nicht. Darum ist das Leben in
der Gesellschaft das für den Menschen natürliche. Ferner ist den andern Lebe¬
wesen eine natürliche Lebenskunst (ngturalis mäustris,) angeboren in Beziehung
auf alles, was ihnen nützlich oder schädlich ist, sodaß das Schaf im Wolfe
seinen Feind erkennt, die Tiere überhaupt die ihnen heilsamen Pflanzen, und
was sonst zu ihrem Leben notwendig ist. herausfinden. Der Mensch aber
besitzt nur allgemeine Erkenntnisprinzipien, aus denen er das für den besondern
Fall Notwendige erst ableiten muß. Ein einzelner Mensch vermag aber nicht
alle notwendigen Erkenntnisse abzuleiten. Darum müssen viele zusammenleben,
damit einer dem andern helfe, indem dieser dieses, der andre etwas andres er¬
finde, der eine sich der Medizin, der andre einer andern Kunst widme. Diese
gegenseitige Hilfe leisten sie einander schon durch die Sprache, die einen jeden


Konfession und Wirtschaftsleben

des heiligen Thomas von Aquin und des Sozialismus (Freiburg i. Vr.,
Herder, 1895).

Thomas hat dem Wirtschaftsleben kein besondres Werk gewidmet, sondern
nur gelegentlich einzelne wirtschaftliche Fragen erörtert sowie sozialpolitische,
die mit wirtschaftlichen zusammenhängen. Es geschieht dies teils in den
Kommentaren zur Ethik und zur Politik des Aristoteles, teils in einigen seiner
kleinern Schriften, teils an verschiednen Stellen seiner theologischen und seiner
philosophischen Summa. Wo es sich nicht um geoffenbarte Wahrheiten handelt,
übernimmt er einfach die Gedanken des Aristoteles, denn er sieht in ihm die
verkörperte Vernunft; mit den Worten: xlüloMpllus äivll, zitiert er ihn ge¬
wöhnlich. Die Aussprüche des Philosophen erläutert er dann noch mit An¬
führungen aus der Heiligen Schrift, aus den Kirchenvätern und dem kanonischen
Recht. Zugleich aber läßt er sich auch durch die ihn umgebende Wirklichkeit
beeinflussen und unterwirft die sämtlichen Autoritäten, die er benutzt, seiner
selbständigen Beurteilung hauptsächlich zu dem Zwecke, sie miteinander in Ein¬
klang zu bringen. Nicht immer ist es leicht, zu unterscheiden, ob das, was er
aus seinen Gewährsmännern anführt, zugleich seine eigne Ansicht ausdrücken
soll, und ob Abweichungen von ihnen bei der Wiedergabe ihrer Ansichten auf
Mißverständnissen beruhen oder Korrekturen sein sollen. Dem Aristoteles
entlehnt Thomas den Grundgedanken aller Gesellschaftslehre, daß der Mensch
von Natur ein politisches Wesen ist, aber er versteht ihn ganz anders als der
Grieche. Dieser wollte damit sagen, daß der Mensch dazu bestimmt sei. im
Staate zu leben, und zwar, weil er sonst nicht wirklich Mensch sein, seine
Persönlichkeit nicht vollenden könne. Thomas denkt gar nicht an den Staat,
sondern meint nur, daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen sei und es sein
müsse zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. „Den übrigen aillnullibus, schreibt
er, hat die Natur ihre Nahrung, ihr Haarkleid, ihre Verteidigungsmittcl wie
Zähne, Hörner, Krallen oder wenigstens die Mittel zu rascher Flucht verliehen;
der Mensch dagegen ist mit nichts dergleichen ausgerüstet. Dafür ist ihm die
Vernunft gegeben, durch die er sich mittelst seiner Hände das alles selbst be¬
reiten kann. Aber dazu genügt ein Mensch nicht. Darum ist das Leben in
der Gesellschaft das für den Menschen natürliche. Ferner ist den andern Lebe¬
wesen eine natürliche Lebenskunst (ngturalis mäustris,) angeboren in Beziehung
auf alles, was ihnen nützlich oder schädlich ist, sodaß das Schaf im Wolfe
seinen Feind erkennt, die Tiere überhaupt die ihnen heilsamen Pflanzen, und
was sonst zu ihrem Leben notwendig ist. herausfinden. Der Mensch aber
besitzt nur allgemeine Erkenntnisprinzipien, aus denen er das für den besondern
Fall Notwendige erst ableiten muß. Ein einzelner Mensch vermag aber nicht
alle notwendigen Erkenntnisse abzuleiten. Darum müssen viele zusammenleben,
damit einer dem andern helfe, indem dieser dieses, der andre etwas andres er¬
finde, der eine sich der Medizin, der andre einer andern Kunst widme. Diese
gegenseitige Hilfe leisten sie einander schon durch die Sprache, die einen jeden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/450>, abgerufen am 12.12.2024.