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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen über innere Politik

den Vereinigten Staaten, zogen Unzählige, die sich in den veränderten Ver¬
hältnissen zu Hause nicht mehr zu helfen wußten und drüben neu zu erwerben
hofften, was sie in der Heimat verloren hatten, eine unabhängige wirtschaftliche
Stellung. Verstärkt wurde ihre Zahl durch die politisch Unbefriedigter, und
es waren bekanntlich nicht die Schlechtesten, die damals dem Vaterlande den
Rücken kehrten und dem erstarkenden Amerika als Kulturdünger dienten. Auch
nach dem Kriege war die Abwanderung noch sehr groß, und von 1871 bis
1895 hat Deutschland noch etwa 2^ Millionen Seelen auf diese Weise ver¬
loren. Und trotz dieser Verluste während eines Jahrhunderts hat sich die
Bevölkerung im Reichsgebiete, die 1816 etwa 25 Millionen betrug, bis zum
Jahre 1900 auf mehr als 56 Millionen vermehrt. Seit dem Jahre 1895
überwiegt die Zuwanderung in das Deutsche Reich sogar die Auswanderung.
Nur unserm wirtschaftlichen Aufschwung ist es zu verdanken, daß wir diese ge¬
waltigen Menschenmengen zu ernähren vermögen, aber die Kehrseite dieser Ent¬
wicklung ist es, daß die Zunahme der Bevölkerung nicht allen Teilen des
Reiches und allen produktiven Berufsständen ungefähr gleichmäßig zugute kam,
sondern wesentlich den großen Städten und den Gebieten des Reiches, die
industriell entwickelt sind, daß aber auf dem Lande, besonders im Osten, die
Bevölkerung entweder, verglichen mit der Zahl der Geburten, relativ zurück¬
gegangen ist, oder wie in Ostpreußen, der Provinz mit der größten Geburten¬
zahl, sogar absolut abgenommen hat. In den fünf Jahren von 1895 bis
1900 haben die preußischen Provinzen östlich der Elbe fast eine halbe Million
Einwohner durch Abzug verloren, also die Gebiete, die vorwiegend landwirt¬
schaftlich sind. Während im Jahre 1882 die ländliche Bevölkerung noch
26,3 Millionen betrug, war sie bei der Volkszählung im Jahre 1895, trotz
der gewaltigen Zunahme der Volkszahl, auf 25,9 Millionen zurückgegangen;
statt mit 58 Prozent im Jahre 1882 war das platte Land jetzt nur noch mit
50 Prozent an der Gesamtbevölkerung beteiligt.

Der Zug vom Lande in die Stadt, vom Osten in die Industriegebiete
des Westens ist die Begleiterscheinung unsrer wirtschaftlichen Entwicklung. Im
Jahre 1840 gab es in Deutschland nur zwei Städte mit mehr als 100000 Ein¬
wohnern, Berlin und Hamburg, 1900 gab es deren 41 mit einer Gesamtein¬
wohnerzahl von annähernd 12 Millionen, und die überwiegende Mehrzahl
dieser Städte liegt im Westen. Auf wessen Kosten sich diese Entwicklung aber
vollzogen hat, das zeigen die Ergebnisse der Volkszählungen. Im Jahre 1905
wurden in Preußen 57 ländliche Kreise gezählt, in denen eine Abnahme der
Bevölkerung stattgefunden hatte, und darunter waren 11 brandenburgische,
14 ostpreußische und 15 schlesische Kreise. Bei der vorletzten Zählung im
Jahre 1900 waren es in Schlesien sogar 25 und in Ostpreußen 28 Kreise
gewesen, in denen die Zahl der Bewohner zurückgegangen war. Es liegt hier
also eine Entvölkerung weiter Teile des preußischen Staates vor, die um so
erschreckender ist, wenn man berücksichtigt, wie groß der Geburtenüberschuß
gerade dieser östlichen Gebiete ist. Das entgegengesetzte Bild bieten die


Betrachtungen über innere Politik

den Vereinigten Staaten, zogen Unzählige, die sich in den veränderten Ver¬
hältnissen zu Hause nicht mehr zu helfen wußten und drüben neu zu erwerben
hofften, was sie in der Heimat verloren hatten, eine unabhängige wirtschaftliche
Stellung. Verstärkt wurde ihre Zahl durch die politisch Unbefriedigter, und
es waren bekanntlich nicht die Schlechtesten, die damals dem Vaterlande den
Rücken kehrten und dem erstarkenden Amerika als Kulturdünger dienten. Auch
nach dem Kriege war die Abwanderung noch sehr groß, und von 1871 bis
1895 hat Deutschland noch etwa 2^ Millionen Seelen auf diese Weise ver¬
loren. Und trotz dieser Verluste während eines Jahrhunderts hat sich die
Bevölkerung im Reichsgebiete, die 1816 etwa 25 Millionen betrug, bis zum
Jahre 1900 auf mehr als 56 Millionen vermehrt. Seit dem Jahre 1895
überwiegt die Zuwanderung in das Deutsche Reich sogar die Auswanderung.
Nur unserm wirtschaftlichen Aufschwung ist es zu verdanken, daß wir diese ge¬
waltigen Menschenmengen zu ernähren vermögen, aber die Kehrseite dieser Ent¬
wicklung ist es, daß die Zunahme der Bevölkerung nicht allen Teilen des
Reiches und allen produktiven Berufsständen ungefähr gleichmäßig zugute kam,
sondern wesentlich den großen Städten und den Gebieten des Reiches, die
industriell entwickelt sind, daß aber auf dem Lande, besonders im Osten, die
Bevölkerung entweder, verglichen mit der Zahl der Geburten, relativ zurück¬
gegangen ist, oder wie in Ostpreußen, der Provinz mit der größten Geburten¬
zahl, sogar absolut abgenommen hat. In den fünf Jahren von 1895 bis
1900 haben die preußischen Provinzen östlich der Elbe fast eine halbe Million
Einwohner durch Abzug verloren, also die Gebiete, die vorwiegend landwirt¬
schaftlich sind. Während im Jahre 1882 die ländliche Bevölkerung noch
26,3 Millionen betrug, war sie bei der Volkszählung im Jahre 1895, trotz
der gewaltigen Zunahme der Volkszahl, auf 25,9 Millionen zurückgegangen;
statt mit 58 Prozent im Jahre 1882 war das platte Land jetzt nur noch mit
50 Prozent an der Gesamtbevölkerung beteiligt.

Der Zug vom Lande in die Stadt, vom Osten in die Industriegebiete
des Westens ist die Begleiterscheinung unsrer wirtschaftlichen Entwicklung. Im
Jahre 1840 gab es in Deutschland nur zwei Städte mit mehr als 100000 Ein¬
wohnern, Berlin und Hamburg, 1900 gab es deren 41 mit einer Gesamtein¬
wohnerzahl von annähernd 12 Millionen, und die überwiegende Mehrzahl
dieser Städte liegt im Westen. Auf wessen Kosten sich diese Entwicklung aber
vollzogen hat, das zeigen die Ergebnisse der Volkszählungen. Im Jahre 1905
wurden in Preußen 57 ländliche Kreise gezählt, in denen eine Abnahme der
Bevölkerung stattgefunden hatte, und darunter waren 11 brandenburgische,
14 ostpreußische und 15 schlesische Kreise. Bei der vorletzten Zählung im
Jahre 1900 waren es in Schlesien sogar 25 und in Ostpreußen 28 Kreise
gewesen, in denen die Zahl der Bewohner zurückgegangen war. Es liegt hier
also eine Entvölkerung weiter Teile des preußischen Staates vor, die um so
erschreckender ist, wenn man berücksichtigt, wie groß der Geburtenüberschuß
gerade dieser östlichen Gebiete ist. Das entgegengesetzte Bild bieten die


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[0396] Betrachtungen über innere Politik den Vereinigten Staaten, zogen Unzählige, die sich in den veränderten Ver¬ hältnissen zu Hause nicht mehr zu helfen wußten und drüben neu zu erwerben hofften, was sie in der Heimat verloren hatten, eine unabhängige wirtschaftliche Stellung. Verstärkt wurde ihre Zahl durch die politisch Unbefriedigter, und es waren bekanntlich nicht die Schlechtesten, die damals dem Vaterlande den Rücken kehrten und dem erstarkenden Amerika als Kulturdünger dienten. Auch nach dem Kriege war die Abwanderung noch sehr groß, und von 1871 bis 1895 hat Deutschland noch etwa 2^ Millionen Seelen auf diese Weise ver¬ loren. Und trotz dieser Verluste während eines Jahrhunderts hat sich die Bevölkerung im Reichsgebiete, die 1816 etwa 25 Millionen betrug, bis zum Jahre 1900 auf mehr als 56 Millionen vermehrt. Seit dem Jahre 1895 überwiegt die Zuwanderung in das Deutsche Reich sogar die Auswanderung. Nur unserm wirtschaftlichen Aufschwung ist es zu verdanken, daß wir diese ge¬ waltigen Menschenmengen zu ernähren vermögen, aber die Kehrseite dieser Ent¬ wicklung ist es, daß die Zunahme der Bevölkerung nicht allen Teilen des Reiches und allen produktiven Berufsständen ungefähr gleichmäßig zugute kam, sondern wesentlich den großen Städten und den Gebieten des Reiches, die industriell entwickelt sind, daß aber auf dem Lande, besonders im Osten, die Bevölkerung entweder, verglichen mit der Zahl der Geburten, relativ zurück¬ gegangen ist, oder wie in Ostpreußen, der Provinz mit der größten Geburten¬ zahl, sogar absolut abgenommen hat. In den fünf Jahren von 1895 bis 1900 haben die preußischen Provinzen östlich der Elbe fast eine halbe Million Einwohner durch Abzug verloren, also die Gebiete, die vorwiegend landwirt¬ schaftlich sind. Während im Jahre 1882 die ländliche Bevölkerung noch 26,3 Millionen betrug, war sie bei der Volkszählung im Jahre 1895, trotz der gewaltigen Zunahme der Volkszahl, auf 25,9 Millionen zurückgegangen; statt mit 58 Prozent im Jahre 1882 war das platte Land jetzt nur noch mit 50 Prozent an der Gesamtbevölkerung beteiligt. Der Zug vom Lande in die Stadt, vom Osten in die Industriegebiete des Westens ist die Begleiterscheinung unsrer wirtschaftlichen Entwicklung. Im Jahre 1840 gab es in Deutschland nur zwei Städte mit mehr als 100000 Ein¬ wohnern, Berlin und Hamburg, 1900 gab es deren 41 mit einer Gesamtein¬ wohnerzahl von annähernd 12 Millionen, und die überwiegende Mehrzahl dieser Städte liegt im Westen. Auf wessen Kosten sich diese Entwicklung aber vollzogen hat, das zeigen die Ergebnisse der Volkszählungen. Im Jahre 1905 wurden in Preußen 57 ländliche Kreise gezählt, in denen eine Abnahme der Bevölkerung stattgefunden hatte, und darunter waren 11 brandenburgische, 14 ostpreußische und 15 schlesische Kreise. Bei der vorletzten Zählung im Jahre 1900 waren es in Schlesien sogar 25 und in Ostpreußen 28 Kreise gewesen, in denen die Zahl der Bewohner zurückgegangen war. Es liegt hier also eine Entvölkerung weiter Teile des preußischen Staates vor, die um so erschreckender ist, wenn man berücksichtigt, wie groß der Geburtenüberschuß gerade dieser östlichen Gebiete ist. Das entgegengesetzte Bild bieten die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/396>, abgerufen am 01.09.2024.