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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

schienen. Bei uns hat man daraus auf den deutschfeindlichen Zweck dieser ganzen
Politik geschlossen. Man hätte aber erkennen müssen, daß sie gerade zu diesem Zweck
ungeeignet war, weil die gegenseitigen Interessen der mit England verbündeten
Mächte viel zu sehr auseinander- und durcheinanderliefen, als daß sie zu einem
gemeinsamen offensiven Vorstoß gegen den festgefügtesten Staat Mitteleuropas
hätten vereinigt werden können. Hat England wirklich seine Abmachungen mit
Spanien, Frankreich, Italien zu dem Zweck getroffen, mit allen diesen Mächten ge¬
meinsam Deutschland einzuengen und zur politischen Ohnmacht zurückzuführen, so hat
es eine ungeschickte und gewagte Jllusionspolitik getrieben. Hat es aber den Zweck
verfolgt, die Interessen der Mittelmeermächte geschickt zu benutzen, um seine maritime
Etappenstraße nach Indien zu decken und sich einen guten Rückhalt für seine Welt¬
politik zu verschaffen, dann bekommt die ganze Sache erst einen Sinn. Und in
diese Politik fügt sich auch das Bündnis mit Japan sinngemäß ein. Aber es mußte
mehr geschehn, wollte England nicht in Ostasien und im Stillen Ozean als Schleppen¬
träger Japans erscheinen. Jetzt, wo Japan Rußland bezwungen hatte, und Rußland
in seinen asiatischen Expansionsbestrebungen vorläufig gelähmt war, konnte England
den Augenblick nicht vorübergehn lassen, ohne eine Verständigung mit Rußland
über asiatische Fragen zu versuchen. Und inzwischen hatte man auch in Rußland
erkannt, daß bei der durch den Krieg geschaffnen Lage in Ostnsien und nach dem
wohl unter englischem Einfluß zustande gekommnen französisch-japanischen Abkommen
nichts bessers zu tun sei, als auf die von Japan und England angebotne Ver¬
ständigung einzugehn. Damit wurde freilich der unvorteilhafte Eindruck erzeugt,
als spiele Rußland in dieser Mächtekombination -- England, Frankreich, Japan,
Nußland -- eine recht untergeordnete Rolle. In Deutschland aber konnte die
Verständigung zwischen England und Rußland aufs neue die Vorstellung lebendig
machen, daß schließlich doch die "Einkreisung" Deutschlands der Endzweck der ganzen
britischen Politik sei. In diesem Zusammenhange wird es verständlich, wenn eben
jetzt die russische Politik das Bedürfnis empfand, in augenfälliger Weise Deutsch¬
land die Hand zu reichen. Es spricht sich darin nicht eine neue Wendung der
internationalen Politik oder gar ein Gegensatz gegen England aus, sondern viel¬
mehr nur das gemeinsame Interesse von Deutschland und Nußland, die gegebne
Lage vor Mißdeutungen und ungewollten Eindrücken zu bewahren. So wird sich
der Begegnung der beiden Kaiser sehr bald die weitere zwischen Kaiser Wilhelm
und König Eduard in Wilhelmshöhe anschließen, wodurch zur Genüge bekundet
wird, daß von einem Gegensatz gegen England nicht die Rede ist.

Die Anzeichen von einem Nachlassen der frühern Spannungen in der inter¬
nationalen Lage sind um so wertvoller, als die Verhältnisse in Marokko wohl
geeignet sind, allerlei Besorgnisse hervorzurufen. Der wilde Unabhängigkeitssinn
der Marokkaner hat sich wieder einmal mit dem mohammedanischen Fanatismus
zu schlimmen Ausbrüchen des Fremdenhasses vereinigt, sodaß ein neues Einschreiten
der Europäer erforderlich sein wird. Die in Casabianca ermordeten Europäer
waren in der Mehrzahl Franzosen; es ist also wohl zu verstehen, daß in Frank¬
reich besondre Erregung herrscht, und einige heißblutige Patrioten nichts Geringeres
fordern als eine Revision der Algecirasakte. Auch in England gibt es Stimmen,
die schon wieder der Furcht Ausdruck geben, Deutschland könnte vielleicht durch seiue
Haltung die Marokkaner ermutigen und Frankreich in den Arni fallen. Das ist aber
eine ganz falsche Auffassung des Standpunktes der deutschen Politik. Deutschland ist
den berechtigten Interessen Frankreichs in Marokko niemals entgegen gewesen. Wo¬
gegen es sich verwahrt hat, war die einseitige, ohne entsprechende Garantien ver¬
langte, frühern internationalen Vereinbarungen widersprechende Inanspruchnahme
eines französischen Maubads zur Vertretung der Interessen aller andern, in Marokko


Maßgebliches und Unmaßgebliches

schienen. Bei uns hat man daraus auf den deutschfeindlichen Zweck dieser ganzen
Politik geschlossen. Man hätte aber erkennen müssen, daß sie gerade zu diesem Zweck
ungeeignet war, weil die gegenseitigen Interessen der mit England verbündeten
Mächte viel zu sehr auseinander- und durcheinanderliefen, als daß sie zu einem
gemeinsamen offensiven Vorstoß gegen den festgefügtesten Staat Mitteleuropas
hätten vereinigt werden können. Hat England wirklich seine Abmachungen mit
Spanien, Frankreich, Italien zu dem Zweck getroffen, mit allen diesen Mächten ge¬
meinsam Deutschland einzuengen und zur politischen Ohnmacht zurückzuführen, so hat
es eine ungeschickte und gewagte Jllusionspolitik getrieben. Hat es aber den Zweck
verfolgt, die Interessen der Mittelmeermächte geschickt zu benutzen, um seine maritime
Etappenstraße nach Indien zu decken und sich einen guten Rückhalt für seine Welt¬
politik zu verschaffen, dann bekommt die ganze Sache erst einen Sinn. Und in
diese Politik fügt sich auch das Bündnis mit Japan sinngemäß ein. Aber es mußte
mehr geschehn, wollte England nicht in Ostasien und im Stillen Ozean als Schleppen¬
träger Japans erscheinen. Jetzt, wo Japan Rußland bezwungen hatte, und Rußland
in seinen asiatischen Expansionsbestrebungen vorläufig gelähmt war, konnte England
den Augenblick nicht vorübergehn lassen, ohne eine Verständigung mit Rußland
über asiatische Fragen zu versuchen. Und inzwischen hatte man auch in Rußland
erkannt, daß bei der durch den Krieg geschaffnen Lage in Ostnsien und nach dem
wohl unter englischem Einfluß zustande gekommnen französisch-japanischen Abkommen
nichts bessers zu tun sei, als auf die von Japan und England angebotne Ver¬
ständigung einzugehn. Damit wurde freilich der unvorteilhafte Eindruck erzeugt,
als spiele Rußland in dieser Mächtekombination — England, Frankreich, Japan,
Nußland — eine recht untergeordnete Rolle. In Deutschland aber konnte die
Verständigung zwischen England und Rußland aufs neue die Vorstellung lebendig
machen, daß schließlich doch die „Einkreisung" Deutschlands der Endzweck der ganzen
britischen Politik sei. In diesem Zusammenhange wird es verständlich, wenn eben
jetzt die russische Politik das Bedürfnis empfand, in augenfälliger Weise Deutsch¬
land die Hand zu reichen. Es spricht sich darin nicht eine neue Wendung der
internationalen Politik oder gar ein Gegensatz gegen England aus, sondern viel¬
mehr nur das gemeinsame Interesse von Deutschland und Nußland, die gegebne
Lage vor Mißdeutungen und ungewollten Eindrücken zu bewahren. So wird sich
der Begegnung der beiden Kaiser sehr bald die weitere zwischen Kaiser Wilhelm
und König Eduard in Wilhelmshöhe anschließen, wodurch zur Genüge bekundet
wird, daß von einem Gegensatz gegen England nicht die Rede ist.

Die Anzeichen von einem Nachlassen der frühern Spannungen in der inter¬
nationalen Lage sind um so wertvoller, als die Verhältnisse in Marokko wohl
geeignet sind, allerlei Besorgnisse hervorzurufen. Der wilde Unabhängigkeitssinn
der Marokkaner hat sich wieder einmal mit dem mohammedanischen Fanatismus
zu schlimmen Ausbrüchen des Fremdenhasses vereinigt, sodaß ein neues Einschreiten
der Europäer erforderlich sein wird. Die in Casabianca ermordeten Europäer
waren in der Mehrzahl Franzosen; es ist also wohl zu verstehen, daß in Frank¬
reich besondre Erregung herrscht, und einige heißblutige Patrioten nichts Geringeres
fordern als eine Revision der Algecirasakte. Auch in England gibt es Stimmen,
die schon wieder der Furcht Ausdruck geben, Deutschland könnte vielleicht durch seiue
Haltung die Marokkaner ermutigen und Frankreich in den Arni fallen. Das ist aber
eine ganz falsche Auffassung des Standpunktes der deutschen Politik. Deutschland ist
den berechtigten Interessen Frankreichs in Marokko niemals entgegen gewesen. Wo¬
gegen es sich verwahrt hat, war die einseitige, ohne entsprechende Garantien ver¬
langte, frühern internationalen Vereinbarungen widersprechende Inanspruchnahme
eines französischen Maubads zur Vertretung der Interessen aller andern, in Marokko


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[0328] Maßgebliches und Unmaßgebliches schienen. Bei uns hat man daraus auf den deutschfeindlichen Zweck dieser ganzen Politik geschlossen. Man hätte aber erkennen müssen, daß sie gerade zu diesem Zweck ungeeignet war, weil die gegenseitigen Interessen der mit England verbündeten Mächte viel zu sehr auseinander- und durcheinanderliefen, als daß sie zu einem gemeinsamen offensiven Vorstoß gegen den festgefügtesten Staat Mitteleuropas hätten vereinigt werden können. Hat England wirklich seine Abmachungen mit Spanien, Frankreich, Italien zu dem Zweck getroffen, mit allen diesen Mächten ge¬ meinsam Deutschland einzuengen und zur politischen Ohnmacht zurückzuführen, so hat es eine ungeschickte und gewagte Jllusionspolitik getrieben. Hat es aber den Zweck verfolgt, die Interessen der Mittelmeermächte geschickt zu benutzen, um seine maritime Etappenstraße nach Indien zu decken und sich einen guten Rückhalt für seine Welt¬ politik zu verschaffen, dann bekommt die ganze Sache erst einen Sinn. Und in diese Politik fügt sich auch das Bündnis mit Japan sinngemäß ein. Aber es mußte mehr geschehn, wollte England nicht in Ostasien und im Stillen Ozean als Schleppen¬ träger Japans erscheinen. Jetzt, wo Japan Rußland bezwungen hatte, und Rußland in seinen asiatischen Expansionsbestrebungen vorläufig gelähmt war, konnte England den Augenblick nicht vorübergehn lassen, ohne eine Verständigung mit Rußland über asiatische Fragen zu versuchen. Und inzwischen hatte man auch in Rußland erkannt, daß bei der durch den Krieg geschaffnen Lage in Ostnsien und nach dem wohl unter englischem Einfluß zustande gekommnen französisch-japanischen Abkommen nichts bessers zu tun sei, als auf die von Japan und England angebotne Ver¬ ständigung einzugehn. Damit wurde freilich der unvorteilhafte Eindruck erzeugt, als spiele Rußland in dieser Mächtekombination — England, Frankreich, Japan, Nußland — eine recht untergeordnete Rolle. In Deutschland aber konnte die Verständigung zwischen England und Rußland aufs neue die Vorstellung lebendig machen, daß schließlich doch die „Einkreisung" Deutschlands der Endzweck der ganzen britischen Politik sei. In diesem Zusammenhange wird es verständlich, wenn eben jetzt die russische Politik das Bedürfnis empfand, in augenfälliger Weise Deutsch¬ land die Hand zu reichen. Es spricht sich darin nicht eine neue Wendung der internationalen Politik oder gar ein Gegensatz gegen England aus, sondern viel¬ mehr nur das gemeinsame Interesse von Deutschland und Nußland, die gegebne Lage vor Mißdeutungen und ungewollten Eindrücken zu bewahren. So wird sich der Begegnung der beiden Kaiser sehr bald die weitere zwischen Kaiser Wilhelm und König Eduard in Wilhelmshöhe anschließen, wodurch zur Genüge bekundet wird, daß von einem Gegensatz gegen England nicht die Rede ist. Die Anzeichen von einem Nachlassen der frühern Spannungen in der inter¬ nationalen Lage sind um so wertvoller, als die Verhältnisse in Marokko wohl geeignet sind, allerlei Besorgnisse hervorzurufen. Der wilde Unabhängigkeitssinn der Marokkaner hat sich wieder einmal mit dem mohammedanischen Fanatismus zu schlimmen Ausbrüchen des Fremdenhasses vereinigt, sodaß ein neues Einschreiten der Europäer erforderlich sein wird. Die in Casabianca ermordeten Europäer waren in der Mehrzahl Franzosen; es ist also wohl zu verstehen, daß in Frank¬ reich besondre Erregung herrscht, und einige heißblutige Patrioten nichts Geringeres fordern als eine Revision der Algecirasakte. Auch in England gibt es Stimmen, die schon wieder der Furcht Ausdruck geben, Deutschland könnte vielleicht durch seiue Haltung die Marokkaner ermutigen und Frankreich in den Arni fallen. Das ist aber eine ganz falsche Auffassung des Standpunktes der deutschen Politik. Deutschland ist den berechtigten Interessen Frankreichs in Marokko niemals entgegen gewesen. Wo¬ gegen es sich verwahrt hat, war die einseitige, ohne entsprechende Garantien ver¬ langte, frühern internationalen Vereinbarungen widersprechende Inanspruchnahme eines französischen Maubads zur Vertretung der Interessen aller andern, in Marokko

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/328>, abgerufen am 12.12.2024.