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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zehn Jahre Zionismus

"Wir sind ein Volk von geächteten Bettlern", und er analysiert die "sittliche
Judennot" des Westens, die "bitterer ist als die leibliche", dahin: "Innerlich
wird der emanzipierte Jude verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch
lächerlich und für den höher gesinnten, ästhetischen Menschen abstoßend wie
alles Unwahre."

Die wichtigsten Leistungen jenes Kongresses waren die Schaffung des zio¬
nistischen Programms und der zionistischen Organisation. Das sogenannte
Basler Programm lautet: "Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die
Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina." Es
wurde nicht nur auf dem ersten Kongreß einstimmig angenommen, sondern es
steht noch heute, nachdem der Zionismus sehr bedeutende Entwicklungsstadien
durchgemacht hat, in unverändertem und unerschütterlichem Ansehen. Eine Ana¬
lysierung stellt deshalb am besten Mittel und Ziele der Bewegung ins Licht.

Eine "Heimstätte" wird erstrebt, das heißt nicht: Es soll der Zerstreuung
der Juden in allen Ländern durch die Begründung eines Staatswesens und
eine nachfolgende Massenkolonisation ein Ende gemacht werden -- in der Ver¬
wirklichung dieses Gedankens sieht der heutige Zionismus eine Utopie --,
sondern das heißt: Es soll für einen Teil des Volkes eine Heimstätte geschaffen
werden, aber eine solche Heimstätte und in einem solchen Lande, daß von ihr
auf die Lage des ganzen Volkes, auch der zerstreuten Teile, eine Rückwirkung
ausgehn kann. Durch diese Schaffung einer jüdischen Metropole wird die Aus¬
nahmestellung beseitigt, die die Juden in allen Ländern aus dem Grunde ein¬
nehmen, weil sie ohne nationales Zentrum und darum ohne Halt und ohne
Schutz sind. In ihr kann sich das geistige Leben frei entfalten und das Bedürf¬
nis nach nationalem Leben erfüllen; von hier kann auch den zerstreuten Gliedern
politische Hilfe und frische nationale Kraft zufließen. Und wie hilff- und schutz¬
bedürftig die Juden des Ostens sind, das hat noch die jüngste jüdische Leidens¬
geschichte zur Genüge bewiesen.

Aber "öffentlich-rechtlich" gesichert muß die Heimstätte sein; das Volk darf
dort nicht wieder, wie bisher, ans Schutz und Duldung angewiesen sein, sondern
es muß in faktischen und rechtlichem Besitz der Stätte sein. Faktisch, indem
es die Mehrheit der dortigen Bevölkerung bildet; rechtlich, indem ihm von dem
Souverän des Landes die Selbstverwaltung gewährleistet wird. Darum richtet
sich das Bemühen der Zionisten auf einer Charter, d. i. ein Kolonisations¬
privileg auf Grundlage der administrativen Autonomie. Durch Erteilung des
Charters soll das Land natürlich von seinem Souverän ebensowenig verschenkt
werden, wie etwa England Gebiete verschenkt hat, wenn es der südafrikanischen
Gesellschaft oder der Nigerkompagnie einen Charter gewährte. Und auch die
lokale Autonomie, die angestrebt wird, ist nichts Unerhörtes; denn einem christ¬
lichen Territorium am Libanon eignet schon dieses Recht der Selbstverwaltung
ebenso wie der Insel Samos, und doch gehören beide Gebiete loyal zum tür¬
kischen Reich.


Zehn Jahre Zionismus

„Wir sind ein Volk von geächteten Bettlern", und er analysiert die „sittliche
Judennot" des Westens, die „bitterer ist als die leibliche", dahin: „Innerlich
wird der emanzipierte Jude verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch
lächerlich und für den höher gesinnten, ästhetischen Menschen abstoßend wie
alles Unwahre."

Die wichtigsten Leistungen jenes Kongresses waren die Schaffung des zio¬
nistischen Programms und der zionistischen Organisation. Das sogenannte
Basler Programm lautet: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die
Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina." Es
wurde nicht nur auf dem ersten Kongreß einstimmig angenommen, sondern es
steht noch heute, nachdem der Zionismus sehr bedeutende Entwicklungsstadien
durchgemacht hat, in unverändertem und unerschütterlichem Ansehen. Eine Ana¬
lysierung stellt deshalb am besten Mittel und Ziele der Bewegung ins Licht.

Eine „Heimstätte" wird erstrebt, das heißt nicht: Es soll der Zerstreuung
der Juden in allen Ländern durch die Begründung eines Staatswesens und
eine nachfolgende Massenkolonisation ein Ende gemacht werden — in der Ver¬
wirklichung dieses Gedankens sieht der heutige Zionismus eine Utopie —,
sondern das heißt: Es soll für einen Teil des Volkes eine Heimstätte geschaffen
werden, aber eine solche Heimstätte und in einem solchen Lande, daß von ihr
auf die Lage des ganzen Volkes, auch der zerstreuten Teile, eine Rückwirkung
ausgehn kann. Durch diese Schaffung einer jüdischen Metropole wird die Aus¬
nahmestellung beseitigt, die die Juden in allen Ländern aus dem Grunde ein¬
nehmen, weil sie ohne nationales Zentrum und darum ohne Halt und ohne
Schutz sind. In ihr kann sich das geistige Leben frei entfalten und das Bedürf¬
nis nach nationalem Leben erfüllen; von hier kann auch den zerstreuten Gliedern
politische Hilfe und frische nationale Kraft zufließen. Und wie hilff- und schutz¬
bedürftig die Juden des Ostens sind, das hat noch die jüngste jüdische Leidens¬
geschichte zur Genüge bewiesen.

Aber „öffentlich-rechtlich" gesichert muß die Heimstätte sein; das Volk darf
dort nicht wieder, wie bisher, ans Schutz und Duldung angewiesen sein, sondern
es muß in faktischen und rechtlichem Besitz der Stätte sein. Faktisch, indem
es die Mehrheit der dortigen Bevölkerung bildet; rechtlich, indem ihm von dem
Souverän des Landes die Selbstverwaltung gewährleistet wird. Darum richtet
sich das Bemühen der Zionisten auf einer Charter, d. i. ein Kolonisations¬
privileg auf Grundlage der administrativen Autonomie. Durch Erteilung des
Charters soll das Land natürlich von seinem Souverän ebensowenig verschenkt
werden, wie etwa England Gebiete verschenkt hat, wenn es der südafrikanischen
Gesellschaft oder der Nigerkompagnie einen Charter gewährte. Und auch die
lokale Autonomie, die angestrebt wird, ist nichts Unerhörtes; denn einem christ¬
lichen Territorium am Libanon eignet schon dieses Recht der Selbstverwaltung
ebenso wie der Insel Samos, und doch gehören beide Gebiete loyal zum tür¬
kischen Reich.


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[0293] Zehn Jahre Zionismus „Wir sind ein Volk von geächteten Bettlern", und er analysiert die „sittliche Judennot" des Westens, die „bitterer ist als die leibliche", dahin: „Innerlich wird der emanzipierte Jude verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch lächerlich und für den höher gesinnten, ästhetischen Menschen abstoßend wie alles Unwahre." Die wichtigsten Leistungen jenes Kongresses waren die Schaffung des zio¬ nistischen Programms und der zionistischen Organisation. Das sogenannte Basler Programm lautet: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina." Es wurde nicht nur auf dem ersten Kongreß einstimmig angenommen, sondern es steht noch heute, nachdem der Zionismus sehr bedeutende Entwicklungsstadien durchgemacht hat, in unverändertem und unerschütterlichem Ansehen. Eine Ana¬ lysierung stellt deshalb am besten Mittel und Ziele der Bewegung ins Licht. Eine „Heimstätte" wird erstrebt, das heißt nicht: Es soll der Zerstreuung der Juden in allen Ländern durch die Begründung eines Staatswesens und eine nachfolgende Massenkolonisation ein Ende gemacht werden — in der Ver¬ wirklichung dieses Gedankens sieht der heutige Zionismus eine Utopie —, sondern das heißt: Es soll für einen Teil des Volkes eine Heimstätte geschaffen werden, aber eine solche Heimstätte und in einem solchen Lande, daß von ihr auf die Lage des ganzen Volkes, auch der zerstreuten Teile, eine Rückwirkung ausgehn kann. Durch diese Schaffung einer jüdischen Metropole wird die Aus¬ nahmestellung beseitigt, die die Juden in allen Ländern aus dem Grunde ein¬ nehmen, weil sie ohne nationales Zentrum und darum ohne Halt und ohne Schutz sind. In ihr kann sich das geistige Leben frei entfalten und das Bedürf¬ nis nach nationalem Leben erfüllen; von hier kann auch den zerstreuten Gliedern politische Hilfe und frische nationale Kraft zufließen. Und wie hilff- und schutz¬ bedürftig die Juden des Ostens sind, das hat noch die jüngste jüdische Leidens¬ geschichte zur Genüge bewiesen. Aber „öffentlich-rechtlich" gesichert muß die Heimstätte sein; das Volk darf dort nicht wieder, wie bisher, ans Schutz und Duldung angewiesen sein, sondern es muß in faktischen und rechtlichem Besitz der Stätte sein. Faktisch, indem es die Mehrheit der dortigen Bevölkerung bildet; rechtlich, indem ihm von dem Souverän des Landes die Selbstverwaltung gewährleistet wird. Darum richtet sich das Bemühen der Zionisten auf einer Charter, d. i. ein Kolonisations¬ privileg auf Grundlage der administrativen Autonomie. Durch Erteilung des Charters soll das Land natürlich von seinem Souverän ebensowenig verschenkt werden, wie etwa England Gebiete verschenkt hat, wenn es der südafrikanischen Gesellschaft oder der Nigerkompagnie einen Charter gewährte. Und auch die lokale Autonomie, die angestrebt wird, ist nichts Unerhörtes; denn einem christ¬ lichen Territorium am Libanon eignet schon dieses Recht der Selbstverwaltung ebenso wie der Insel Samos, und doch gehören beide Gebiete loyal zum tür¬ kischen Reich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/293>, abgerufen am 01.09.2024.