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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zehn Jahre Zionismus

Ausmerzung alles Jüdischen und das "Untertauchen in die Völkerwelt", sei es
durch die Leugnung einer Solidarität der jüdischen Interessen, sei es durch die
Errichtung hoher Grenzpfühle gegen die Not und Rückständigkeit des östlichen
Judentums --, ist längst als ein Irrtum erkannt worden. Das jüdische Volk
kann gar nicht verschwinden, selbst wenn es wollte, das zeigt das unwürdige
Assimilantentum des Westens; aber es will auch gar nicht verschwinden, das
zeigen die Verhältnisse des Ostens. Herzl und seine Freunde ließen sich also
durch das Geschrei und die Verdächtigungen des Reformjudentums und der
liberalen Rabbiner nicht irre machen, sondern sie fuhren in der Schilderhebung
des Jüdischen fort. Sie schufen sich zur publizistischen Vertretung ihrer Ideen
im Juni 1897 ein Wochenblatt, "Die Welt". "Dieses Blatt ist ein Juden¬
blatt. Wir nehmen das Wort auf, das ein Schimpf sein soll, und wollen daraus
ein Wort der Ehre machen", so verkündete es mit unerhörtem Freimut. "Die
Welt" ist noch heute das Zentralorgan der zionistischen Bewegung, und es ist,
ganz abgesehen von seiner Bedeutung für die Organisation, auch für den ein
interessantes und überraschendes Dokument, der vom Judentum nur das charakter¬
lose Schacherwesen und den liberalen Durchschnittsjudeu unsrer Tage kennt.
Denn es stellt dem Materialismus den Idealismus, der mammonistischen Auf¬
fassung die selbstlose großartige Arbeit, der Assimilation die Pflege jüdischer
Kultur, der Judenfeindschaft den Judenstolz entgegen und übt nach allen Seiten,
nicht zuletzt gegen die Schwächen der eignen Volksart, eme herbe und freimütige
Kritik.

Schon die erste Nummer der neuen Wochenschrift kündigte die Einberufung
eines Zionistenkongresses an, und am 29. August 1897 wurde unter Anwesen¬
heit von 204 Delegierten der erste Kongreß in Basel eröffnet, wo die Zivilisten
in der Folge immer eine gastliche Aufnahme gefunden haben. Die Zahl jener
Delegierten hat sich auf den bisherigen sieben Kongressen um mehr als das
dreifache gesteigert; sie vertreten heute etwa 200000 organisierte Zivilisten.

Dieser erste Kongreß bildet einen Merkstein in der Geschichte des Zionis¬
mus, vielleicht auch einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte überhaupt;
denn er proklamierte durch seine Zusammensetzung aus allen Ländern und Kultur¬
kreisen wie durch sein Programm die Solidarität der jüdisch-nationalen Inter¬
essen, und er schuf zugleich diesen Interessen die erste und einzige Tribüne, die
das jüdische Volk bisher gefunden hat. Die Kongresse sind das Parlament ge¬
worden, auf dem das Problem der heimatlosen Rasse unter steigender Aufmerk¬
samkeit der europäischen Öffentlichkeit, nicht immer ohne Leidenschaft und Sturm,
aber stets mit Ernst und Größe, behandelt wird.

Schon der erste Kongreß vereinte die Summe der Intelligenz, die das Kapital
der Zionisten bildet; manches feine Wort wurde gesprochen. So definiert
Herzl den von der Bewegung ausgehenden Nationalisierungsprozeß: "Der Zio¬
nismus ist die Heimkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland."
Oder Max Nordau faßt die Judcnnot des Ostens in dem Wort zusammen:


Zehn Jahre Zionismus

Ausmerzung alles Jüdischen und das „Untertauchen in die Völkerwelt", sei es
durch die Leugnung einer Solidarität der jüdischen Interessen, sei es durch die
Errichtung hoher Grenzpfühle gegen die Not und Rückständigkeit des östlichen
Judentums —, ist längst als ein Irrtum erkannt worden. Das jüdische Volk
kann gar nicht verschwinden, selbst wenn es wollte, das zeigt das unwürdige
Assimilantentum des Westens; aber es will auch gar nicht verschwinden, das
zeigen die Verhältnisse des Ostens. Herzl und seine Freunde ließen sich also
durch das Geschrei und die Verdächtigungen des Reformjudentums und der
liberalen Rabbiner nicht irre machen, sondern sie fuhren in der Schilderhebung
des Jüdischen fort. Sie schufen sich zur publizistischen Vertretung ihrer Ideen
im Juni 1897 ein Wochenblatt, „Die Welt". „Dieses Blatt ist ein Juden¬
blatt. Wir nehmen das Wort auf, das ein Schimpf sein soll, und wollen daraus
ein Wort der Ehre machen", so verkündete es mit unerhörtem Freimut. „Die
Welt" ist noch heute das Zentralorgan der zionistischen Bewegung, und es ist,
ganz abgesehen von seiner Bedeutung für die Organisation, auch für den ein
interessantes und überraschendes Dokument, der vom Judentum nur das charakter¬
lose Schacherwesen und den liberalen Durchschnittsjudeu unsrer Tage kennt.
Denn es stellt dem Materialismus den Idealismus, der mammonistischen Auf¬
fassung die selbstlose großartige Arbeit, der Assimilation die Pflege jüdischer
Kultur, der Judenfeindschaft den Judenstolz entgegen und übt nach allen Seiten,
nicht zuletzt gegen die Schwächen der eignen Volksart, eme herbe und freimütige
Kritik.

Schon die erste Nummer der neuen Wochenschrift kündigte die Einberufung
eines Zionistenkongresses an, und am 29. August 1897 wurde unter Anwesen¬
heit von 204 Delegierten der erste Kongreß in Basel eröffnet, wo die Zivilisten
in der Folge immer eine gastliche Aufnahme gefunden haben. Die Zahl jener
Delegierten hat sich auf den bisherigen sieben Kongressen um mehr als das
dreifache gesteigert; sie vertreten heute etwa 200000 organisierte Zivilisten.

Dieser erste Kongreß bildet einen Merkstein in der Geschichte des Zionis¬
mus, vielleicht auch einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte überhaupt;
denn er proklamierte durch seine Zusammensetzung aus allen Ländern und Kultur¬
kreisen wie durch sein Programm die Solidarität der jüdisch-nationalen Inter¬
essen, und er schuf zugleich diesen Interessen die erste und einzige Tribüne, die
das jüdische Volk bisher gefunden hat. Die Kongresse sind das Parlament ge¬
worden, auf dem das Problem der heimatlosen Rasse unter steigender Aufmerk¬
samkeit der europäischen Öffentlichkeit, nicht immer ohne Leidenschaft und Sturm,
aber stets mit Ernst und Größe, behandelt wird.

Schon der erste Kongreß vereinte die Summe der Intelligenz, die das Kapital
der Zionisten bildet; manches feine Wort wurde gesprochen. So definiert
Herzl den von der Bewegung ausgehenden Nationalisierungsprozeß: „Der Zio¬
nismus ist die Heimkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland."
Oder Max Nordau faßt die Judcnnot des Ostens in dem Wort zusammen:


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[0292] Zehn Jahre Zionismus Ausmerzung alles Jüdischen und das „Untertauchen in die Völkerwelt", sei es durch die Leugnung einer Solidarität der jüdischen Interessen, sei es durch die Errichtung hoher Grenzpfühle gegen die Not und Rückständigkeit des östlichen Judentums —, ist längst als ein Irrtum erkannt worden. Das jüdische Volk kann gar nicht verschwinden, selbst wenn es wollte, das zeigt das unwürdige Assimilantentum des Westens; aber es will auch gar nicht verschwinden, das zeigen die Verhältnisse des Ostens. Herzl und seine Freunde ließen sich also durch das Geschrei und die Verdächtigungen des Reformjudentums und der liberalen Rabbiner nicht irre machen, sondern sie fuhren in der Schilderhebung des Jüdischen fort. Sie schufen sich zur publizistischen Vertretung ihrer Ideen im Juni 1897 ein Wochenblatt, „Die Welt". „Dieses Blatt ist ein Juden¬ blatt. Wir nehmen das Wort auf, das ein Schimpf sein soll, und wollen daraus ein Wort der Ehre machen", so verkündete es mit unerhörtem Freimut. „Die Welt" ist noch heute das Zentralorgan der zionistischen Bewegung, und es ist, ganz abgesehen von seiner Bedeutung für die Organisation, auch für den ein interessantes und überraschendes Dokument, der vom Judentum nur das charakter¬ lose Schacherwesen und den liberalen Durchschnittsjudeu unsrer Tage kennt. Denn es stellt dem Materialismus den Idealismus, der mammonistischen Auf¬ fassung die selbstlose großartige Arbeit, der Assimilation die Pflege jüdischer Kultur, der Judenfeindschaft den Judenstolz entgegen und übt nach allen Seiten, nicht zuletzt gegen die Schwächen der eignen Volksart, eme herbe und freimütige Kritik. Schon die erste Nummer der neuen Wochenschrift kündigte die Einberufung eines Zionistenkongresses an, und am 29. August 1897 wurde unter Anwesen¬ heit von 204 Delegierten der erste Kongreß in Basel eröffnet, wo die Zivilisten in der Folge immer eine gastliche Aufnahme gefunden haben. Die Zahl jener Delegierten hat sich auf den bisherigen sieben Kongressen um mehr als das dreifache gesteigert; sie vertreten heute etwa 200000 organisierte Zivilisten. Dieser erste Kongreß bildet einen Merkstein in der Geschichte des Zionis¬ mus, vielleicht auch einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte überhaupt; denn er proklamierte durch seine Zusammensetzung aus allen Ländern und Kultur¬ kreisen wie durch sein Programm die Solidarität der jüdisch-nationalen Inter¬ essen, und er schuf zugleich diesen Interessen die erste und einzige Tribüne, die das jüdische Volk bisher gefunden hat. Die Kongresse sind das Parlament ge¬ worden, auf dem das Problem der heimatlosen Rasse unter steigender Aufmerk¬ samkeit der europäischen Öffentlichkeit, nicht immer ohne Leidenschaft und Sturm, aber stets mit Ernst und Größe, behandelt wird. Schon der erste Kongreß vereinte die Summe der Intelligenz, die das Kapital der Zionisten bildet; manches feine Wort wurde gesprochen. So definiert Herzl den von der Bewegung ausgehenden Nationalisierungsprozeß: „Der Zio¬ nismus ist die Heimkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland." Oder Max Nordau faßt die Judcnnot des Ostens in dem Wort zusammen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/292>, abgerufen am 01.09.2024.