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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Russische Briefe

von andern Kritikern des Gesetzes habe ich die Gouvernements nach Wirtschafts¬
gebieten geordnet, wie sie gewöhnlich nur volkswirtschaftlichen Betrachtungen
zugrunde liegen. Diese Einteilung hat den Vorteil, daß daran gezeigt werden
kann, wo die größten Gefahren für Nußland in sozialer Beziehung vorhanden
sind, und wo die Regierung durch ein besonders energisches Vorgehen glaubt
die revolutionäre Entwicklung aufhalten zu können. Bei oberflächlicher Durch¬
sicht der Gouvernements, wie sie im Gesetz aufgeführt sind, läßt sich zunächst
feststellen, daß die Zahl der bäuerlichen Wahlmänner im allgemeinen verringert,
die der grundherrlichen vergrößert worden ist. Die Zahl der städtischen Wcchl-
münner ist in einzelnen Gegenden vergrößert, in andern wieder verringert worden.
Die Gesamtzahl aller Wahlmänner hat sich in dem behandelten Gebiet um rund 720
verringert oder um durchschnittlich 14 auf jedes Gouvernement. Bei der Größe
dieser Verwaltungseinheiten könnte es somit scheinen, daß die kleine Verminderung
kaum politisch auszubeuten sei, da sie sich in jedem Gebiet auf etwa 150 bis
300 Wahlversammlungen verteilen würde. Etwas anders wird dagegen das
Bild, sobald wir uns die Gouvernements nach Wirtschaftsgebieten zusammen¬
stellen und in diesem neuen Rahmen jedes Gouvernement einzeln betrachten.
Da fällt uns zunächst auf, daß einzelne Gebiete (Ur. I, VII, VIII, IX) sogar
eine, wenn auch geringe Vermehrung der Wahlmünner überhaupt aufzuweisen
haben. Sie umfassen den Nordwesten und Westen des Reichs ohne Polen
sowie das Zentrum um Moskau. Im Westen teilen sich in die Vermehrung
Großgrundbesitz und Städte. Im Zentrum geht fast die gesamte Vermehrung
auf den Großgrundbesitz über, der obendrein noch neben den 89 Wahlmänner¬
mandaten von den Bauern 11 von den Städten übernommen hat, mithin um
106 gestärkt erscheint.

Im ganzen Ostgebiet (II, III, IV der Tabelle) vom Kaspischen bis zum
Weißen Meer schwankt die Verringerung der Zahl der bäuerlichen Wahlmünner
zwischen Zweidrittel bis Fünfsechstel gegen die frühere Zahl. Im Gouvernement
Wjatka, das dreizehn Sozialisten") in die zweite Reichsduma geschickt hat, ist
die Zahl der Wahlmänner von 148 auf 23 herabgesetzt worden. Im ganzen
Schwarzerdegebiet (V, VI, IX, XII der Tabelle) beträgt die Verminderung die
Hälfte bis Zweidrittel. Hierneben erscheint die Zahl der gutsherrlichen Wahl¬
männer zurückgeblieben. Sie ist meist nur um ein Drittel, vielfach aber auch um
das Doppelte gestiegen, so in Archangelsk von 13 auf 26, im Dongebiet von 47
auf 79, in Wladimir von 18 auf 38, in Moskau von 13 auf 42, in Stawropol
von 6 auf 24 usw.

Doch nicht genug. Um den Großgrundbesitzern, das heißt in Rußland dem
Adel unter allen Umständen das Übergewicht bei der Wahl der Abgeordneten
zu sichern, ist die Zahl ihrer Wahlmänner meist so hoch festgesetzt, daß die Summe



*) Es sind meist Sozialrevolutionäre gewesen; in der Tabelle sind als Sozialisten aufge-
lührt: Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten, Arbeitsgruppe und Bauernbund.
Russische Briefe

von andern Kritikern des Gesetzes habe ich die Gouvernements nach Wirtschafts¬
gebieten geordnet, wie sie gewöhnlich nur volkswirtschaftlichen Betrachtungen
zugrunde liegen. Diese Einteilung hat den Vorteil, daß daran gezeigt werden
kann, wo die größten Gefahren für Nußland in sozialer Beziehung vorhanden
sind, und wo die Regierung durch ein besonders energisches Vorgehen glaubt
die revolutionäre Entwicklung aufhalten zu können. Bei oberflächlicher Durch¬
sicht der Gouvernements, wie sie im Gesetz aufgeführt sind, läßt sich zunächst
feststellen, daß die Zahl der bäuerlichen Wahlmänner im allgemeinen verringert,
die der grundherrlichen vergrößert worden ist. Die Zahl der städtischen Wcchl-
münner ist in einzelnen Gegenden vergrößert, in andern wieder verringert worden.
Die Gesamtzahl aller Wahlmänner hat sich in dem behandelten Gebiet um rund 720
verringert oder um durchschnittlich 14 auf jedes Gouvernement. Bei der Größe
dieser Verwaltungseinheiten könnte es somit scheinen, daß die kleine Verminderung
kaum politisch auszubeuten sei, da sie sich in jedem Gebiet auf etwa 150 bis
300 Wahlversammlungen verteilen würde. Etwas anders wird dagegen das
Bild, sobald wir uns die Gouvernements nach Wirtschaftsgebieten zusammen¬
stellen und in diesem neuen Rahmen jedes Gouvernement einzeln betrachten.
Da fällt uns zunächst auf, daß einzelne Gebiete (Ur. I, VII, VIII, IX) sogar
eine, wenn auch geringe Vermehrung der Wahlmünner überhaupt aufzuweisen
haben. Sie umfassen den Nordwesten und Westen des Reichs ohne Polen
sowie das Zentrum um Moskau. Im Westen teilen sich in die Vermehrung
Großgrundbesitz und Städte. Im Zentrum geht fast die gesamte Vermehrung
auf den Großgrundbesitz über, der obendrein noch neben den 89 Wahlmänner¬
mandaten von den Bauern 11 von den Städten übernommen hat, mithin um
106 gestärkt erscheint.

Im ganzen Ostgebiet (II, III, IV der Tabelle) vom Kaspischen bis zum
Weißen Meer schwankt die Verringerung der Zahl der bäuerlichen Wahlmünner
zwischen Zweidrittel bis Fünfsechstel gegen die frühere Zahl. Im Gouvernement
Wjatka, das dreizehn Sozialisten") in die zweite Reichsduma geschickt hat, ist
die Zahl der Wahlmänner von 148 auf 23 herabgesetzt worden. Im ganzen
Schwarzerdegebiet (V, VI, IX, XII der Tabelle) beträgt die Verminderung die
Hälfte bis Zweidrittel. Hierneben erscheint die Zahl der gutsherrlichen Wahl¬
männer zurückgeblieben. Sie ist meist nur um ein Drittel, vielfach aber auch um
das Doppelte gestiegen, so in Archangelsk von 13 auf 26, im Dongebiet von 47
auf 79, in Wladimir von 18 auf 38, in Moskau von 13 auf 42, in Stawropol
von 6 auf 24 usw.

Doch nicht genug. Um den Großgrundbesitzern, das heißt in Rußland dem
Adel unter allen Umständen das Übergewicht bei der Wahl der Abgeordneten
zu sichern, ist die Zahl ihrer Wahlmänner meist so hoch festgesetzt, daß die Summe



*) Es sind meist Sozialrevolutionäre gewesen; in der Tabelle sind als Sozialisten aufge-
lührt: Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten, Arbeitsgruppe und Bauernbund.
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[0285] Russische Briefe von andern Kritikern des Gesetzes habe ich die Gouvernements nach Wirtschafts¬ gebieten geordnet, wie sie gewöhnlich nur volkswirtschaftlichen Betrachtungen zugrunde liegen. Diese Einteilung hat den Vorteil, daß daran gezeigt werden kann, wo die größten Gefahren für Nußland in sozialer Beziehung vorhanden sind, und wo die Regierung durch ein besonders energisches Vorgehen glaubt die revolutionäre Entwicklung aufhalten zu können. Bei oberflächlicher Durch¬ sicht der Gouvernements, wie sie im Gesetz aufgeführt sind, läßt sich zunächst feststellen, daß die Zahl der bäuerlichen Wahlmänner im allgemeinen verringert, die der grundherrlichen vergrößert worden ist. Die Zahl der städtischen Wcchl- münner ist in einzelnen Gegenden vergrößert, in andern wieder verringert worden. Die Gesamtzahl aller Wahlmänner hat sich in dem behandelten Gebiet um rund 720 verringert oder um durchschnittlich 14 auf jedes Gouvernement. Bei der Größe dieser Verwaltungseinheiten könnte es somit scheinen, daß die kleine Verminderung kaum politisch auszubeuten sei, da sie sich in jedem Gebiet auf etwa 150 bis 300 Wahlversammlungen verteilen würde. Etwas anders wird dagegen das Bild, sobald wir uns die Gouvernements nach Wirtschaftsgebieten zusammen¬ stellen und in diesem neuen Rahmen jedes Gouvernement einzeln betrachten. Da fällt uns zunächst auf, daß einzelne Gebiete (Ur. I, VII, VIII, IX) sogar eine, wenn auch geringe Vermehrung der Wahlmünner überhaupt aufzuweisen haben. Sie umfassen den Nordwesten und Westen des Reichs ohne Polen sowie das Zentrum um Moskau. Im Westen teilen sich in die Vermehrung Großgrundbesitz und Städte. Im Zentrum geht fast die gesamte Vermehrung auf den Großgrundbesitz über, der obendrein noch neben den 89 Wahlmänner¬ mandaten von den Bauern 11 von den Städten übernommen hat, mithin um 106 gestärkt erscheint. Im ganzen Ostgebiet (II, III, IV der Tabelle) vom Kaspischen bis zum Weißen Meer schwankt die Verringerung der Zahl der bäuerlichen Wahlmünner zwischen Zweidrittel bis Fünfsechstel gegen die frühere Zahl. Im Gouvernement Wjatka, das dreizehn Sozialisten") in die zweite Reichsduma geschickt hat, ist die Zahl der Wahlmänner von 148 auf 23 herabgesetzt worden. Im ganzen Schwarzerdegebiet (V, VI, IX, XII der Tabelle) beträgt die Verminderung die Hälfte bis Zweidrittel. Hierneben erscheint die Zahl der gutsherrlichen Wahl¬ männer zurückgeblieben. Sie ist meist nur um ein Drittel, vielfach aber auch um das Doppelte gestiegen, so in Archangelsk von 13 auf 26, im Dongebiet von 47 auf 79, in Wladimir von 18 auf 38, in Moskau von 13 auf 42, in Stawropol von 6 auf 24 usw. Doch nicht genug. Um den Großgrundbesitzern, das heißt in Rußland dem Adel unter allen Umständen das Übergewicht bei der Wahl der Abgeordneten zu sichern, ist die Zahl ihrer Wahlmänner meist so hoch festgesetzt, daß die Summe *) Es sind meist Sozialrevolutionäre gewesen; in der Tabelle sind als Sozialisten aufge- lührt: Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten, Arbeitsgruppe und Bauernbund.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/285>, abgerufen am 01.09.2024.