Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.Deutscher Norden und Süden kreuzen müssen. Kann man sich da verwundern, wenn Verstimmungen Platz Daß die energische und schonungslose Führung des wirtschaftlichen Ver¬ Aber von alledem abgesehen, der Süden stöhnt nicht nur unter der gesell¬ Deutscher Norden und Süden kreuzen müssen. Kann man sich da verwundern, wenn Verstimmungen Platz Daß die energische und schonungslose Führung des wirtschaftlichen Ver¬ Aber von alledem abgesehen, der Süden stöhnt nicht nur unter der gesell¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302966"/> <fw type="header" place="top"> Deutscher Norden und Süden</fw><lb/> <p xml:id="ID_1074" prev="#ID_1073"> kreuzen müssen. Kann man sich da verwundern, wenn Verstimmungen Platz<lb/> greifen? Und doch werden sich die Süddeutschen nicht für die zu Unrecht<lb/> unterliegenden halten dürfen. Sogar angenommen, sie hätten im übrigen den<lb/> andern deutschen Stämmen vieles voraus, dieser einen Gabe der harten, uner¬<lb/> bittlichen Auffassung des Lebens ermangeln sie eben, und es hilft ihnen nichts,<lb/> daß sie sich auf unleugbare Auswüchse dieser kräftigem, robustem niederdeutschen<lb/> Art berufen können.</p><lb/> <p xml:id="ID_1075"> Daß die energische und schonungslose Führung des wirtschaftlichen Ver¬<lb/> kehrs auch ihre Auswüchse zeitigt, gehört zu den Unvermeidlichkeiten auf<lb/> unserm unvollkommnen Planeten. Namentlich Berlin und Hamburg zeichnen<lb/> sich in dieser Hinsicht aus. In die Fallen der von hier ausgehenden Tricks,<lb/> Bluffs und sonstigen Gerissenheiten gehen die Provinzialen, aber nicht nur<lb/> die des Südens, sondern auch die einheimischen fast immer als arglose und<lb/> rettungslose Opfer. Aber diese Plätze mit ihrem weltstädtischen Durcheinander<lb/> von hunderterlei Rasseelementen und allen möglichen Existenzen und besonders<lb/> mit ihrem starken Bestandteil jüdischer Bevölkerung, das dem Ganzen ein<lb/> eigenartiges Gepräge geschäftlicher Agilität verleiht, können nicht als typische<lb/> Träger norddeutscher Stammeseigentümlichkeit betrachtet werden, wie es leider<lb/> zum Schaden des Nordens sehr häufig der Fall ist. Namentlich Berlin<lb/> muß ein großes Teil der Unbeliebtheit des Preußentums auf sein Konto<lb/> nehmen. Denn der Berliner und gerade der Berliner, den wir soeben ge¬<lb/> zeichnet haben, und nicht der provinziale Preuße ist es, der zum Vergnügen<lb/> und von Geschäfts wegen das obere Deutschland alljährlich in großen Scharen<lb/> bereist, während sich hinwiederum die Exkursionen des Südens zumeist auf<lb/> Berlin beschränken oder höchstens bis zu den Stationen Hamburg und Helgo¬<lb/> land weiter wagen. Eichen hat gewiß Recht, wenn er den Süddeutschen eine<lb/> bessere Meinung von ihren niederdeutschen Volksgenossen beizubringen glaubt,<lb/> indem er sie ihnen „im Hausgewande", das heißt in ihrer provinzialen Boden¬<lb/> ständigkeit und UnVerdorbenheit vorführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1076" next="#ID_1077"> Aber von alledem abgesehen, der Süden stöhnt nicht nur unter der gesell¬<lb/> schaftlichen und geschäftlichen, sondern auch unter der politischen Überlegenheit<lb/> des Nordens. Das ist auch wieder sehr begreiflich. Dem Süden fehlen die<lb/> Qualitäten zur Errichtung fester und unerschütterlicher Staatsgefüge. Er hat<lb/> auch zum Staatsbürger kein sonderliches Talent, und seiner leichten Unlust<lb/> zum Untertanen steht geradezu eine Untertanenwonne des Nordens gegenüber.<lb/> Er haßt und befehdet den Staat nicht, aber er trägt ihn, wie man etwas<lb/> Unausweichliches, eine Last trägt. Vom norddeutschen Staatskörper ließe sich<lb/> vielleicht aussagen, daß die Menschen, die ihn als kristallische Einheiten bilden,<lb/> das Gesicht nach dem Staatskern gerichtet haben; im Süden haben die Kristalle<lb/> die Richtung nach außen. Der süddeutsche Affekts- und Stimmungsmensch<lb/> taugt nicht zum politischen Mauerstein, der sich ohne Bekundung eines eigen¬<lb/> willigen Lebens aufnehmen und einfügen läßt, wo und wann man will. Zur<lb/> Entstehung widerstandsfähiger, wohlorganisierter Gemeinschaften ist es aber<lb/> nötig, daß sich die Glieder und Atome ohne individuellen Willen dem Zweck<lb/> des Ganzen und dem Kommando der Leitung unterordnen, verwendungsbereit<lb/> für jeden Platz und für jede Verrichtung. Ein solcher Hang und Hunger zum<lb/> Dienen ist dem Süden nicht eigen. Am wenigsten findet man ihn bei den<lb/> Franken, die mit ihren entfernten Verwandten, den Franzosen, von jeher für<lb/> Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schwärmten, die eine Menge kleiner und<lb/> kleinster, ehemals freier Reichsstädte aufweisen können, die immer eine gewisse</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0264]
Deutscher Norden und Süden
kreuzen müssen. Kann man sich da verwundern, wenn Verstimmungen Platz
greifen? Und doch werden sich die Süddeutschen nicht für die zu Unrecht
unterliegenden halten dürfen. Sogar angenommen, sie hätten im übrigen den
andern deutschen Stämmen vieles voraus, dieser einen Gabe der harten, uner¬
bittlichen Auffassung des Lebens ermangeln sie eben, und es hilft ihnen nichts,
daß sie sich auf unleugbare Auswüchse dieser kräftigem, robustem niederdeutschen
Art berufen können.
Daß die energische und schonungslose Führung des wirtschaftlichen Ver¬
kehrs auch ihre Auswüchse zeitigt, gehört zu den Unvermeidlichkeiten auf
unserm unvollkommnen Planeten. Namentlich Berlin und Hamburg zeichnen
sich in dieser Hinsicht aus. In die Fallen der von hier ausgehenden Tricks,
Bluffs und sonstigen Gerissenheiten gehen die Provinzialen, aber nicht nur
die des Südens, sondern auch die einheimischen fast immer als arglose und
rettungslose Opfer. Aber diese Plätze mit ihrem weltstädtischen Durcheinander
von hunderterlei Rasseelementen und allen möglichen Existenzen und besonders
mit ihrem starken Bestandteil jüdischer Bevölkerung, das dem Ganzen ein
eigenartiges Gepräge geschäftlicher Agilität verleiht, können nicht als typische
Träger norddeutscher Stammeseigentümlichkeit betrachtet werden, wie es leider
zum Schaden des Nordens sehr häufig der Fall ist. Namentlich Berlin
muß ein großes Teil der Unbeliebtheit des Preußentums auf sein Konto
nehmen. Denn der Berliner und gerade der Berliner, den wir soeben ge¬
zeichnet haben, und nicht der provinziale Preuße ist es, der zum Vergnügen
und von Geschäfts wegen das obere Deutschland alljährlich in großen Scharen
bereist, während sich hinwiederum die Exkursionen des Südens zumeist auf
Berlin beschränken oder höchstens bis zu den Stationen Hamburg und Helgo¬
land weiter wagen. Eichen hat gewiß Recht, wenn er den Süddeutschen eine
bessere Meinung von ihren niederdeutschen Volksgenossen beizubringen glaubt,
indem er sie ihnen „im Hausgewande", das heißt in ihrer provinzialen Boden¬
ständigkeit und UnVerdorbenheit vorführt.
Aber von alledem abgesehen, der Süden stöhnt nicht nur unter der gesell¬
schaftlichen und geschäftlichen, sondern auch unter der politischen Überlegenheit
des Nordens. Das ist auch wieder sehr begreiflich. Dem Süden fehlen die
Qualitäten zur Errichtung fester und unerschütterlicher Staatsgefüge. Er hat
auch zum Staatsbürger kein sonderliches Talent, und seiner leichten Unlust
zum Untertanen steht geradezu eine Untertanenwonne des Nordens gegenüber.
Er haßt und befehdet den Staat nicht, aber er trägt ihn, wie man etwas
Unausweichliches, eine Last trägt. Vom norddeutschen Staatskörper ließe sich
vielleicht aussagen, daß die Menschen, die ihn als kristallische Einheiten bilden,
das Gesicht nach dem Staatskern gerichtet haben; im Süden haben die Kristalle
die Richtung nach außen. Der süddeutsche Affekts- und Stimmungsmensch
taugt nicht zum politischen Mauerstein, der sich ohne Bekundung eines eigen¬
willigen Lebens aufnehmen und einfügen läßt, wo und wann man will. Zur
Entstehung widerstandsfähiger, wohlorganisierter Gemeinschaften ist es aber
nötig, daß sich die Glieder und Atome ohne individuellen Willen dem Zweck
des Ganzen und dem Kommando der Leitung unterordnen, verwendungsbereit
für jeden Platz und für jede Verrichtung. Ein solcher Hang und Hunger zum
Dienen ist dem Süden nicht eigen. Am wenigsten findet man ihn bei den
Franken, die mit ihren entfernten Verwandten, den Franzosen, von jeher für
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schwärmten, die eine Menge kleiner und
kleinster, ehemals freier Reichsstädte aufweisen können, die immer eine gewisse
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