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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

auf die äußere Form einwirken, indem sie den Erzähler zu immer lebendigerer,
eindrucksvollerer Darstellung aufreizt. Und in Wahrheit ist das primitive Märchen
lebendiger, anschaulicher, wenn man so sagen könnte, aktueller als das Märchen
der Kulturvölker. Es fehlt ihm durchaus der epische Fluß, aber auch Ordnung
und Zusammenhang.

Nun überträgt sich aber auch die innere Teilnahme der Erzähler wie der
Hörer -- die, wie gesagt, immer aufeinander einwirken -- auf die handelnden
Personen, und zwar in der Form, daß sich beide mit dem Helden identifizieren,
sich unbewußt an seiue Stelle träumen und so seine Erlebnisse und Gefahren
gleichsam als eigne mitempfinden. So wird das ganze Gebiet der selbstischen
Gefühle lebendig, die dann in die Person des Helden überfließen und auf ihn
alle Liebe und alles unmittelbare Interesse vereinigen, während sich auf das
böse, widerstreitende Prinzip aller Haß und alle Abscheu häuft. Dies führt
nun unmerklich dazu, daß die guten Seiten des Helden wie die bösen des
Gegenspielers im Extrem dargestellt werden. Wenn sich nun Erzähler und
Hörer mit dem Helden identifizieren, so führt die Losbindung des Mit- und
des Selbstgefühls dazu, daß der Hörer am Ende nach einem Lustgefühl ver¬
langt, das nur durch den endlichen Sieg des Helden hervorgerufen werden kann.
Deshalb ist es zu einem Prinzip des Märchens geworden, und zwar von An¬
fang her, daß es immer einen glücklichen Ausgang hat.

Und noch ein andres ist hier zu beachten. Wenn der Erzähler diese Ge¬
meinsamkeit der Stimmung, die ihm so notwendig ist, herbeiführen will, so muß
er für spannende Darstellung sorgen. Der langweilige Erzähler ist bald allein.
Deshalb ist die Spannung, die das Hauptwesen der Märchentechnik ausmacht,
ebenfalls vom Ursprung an eine der bedeutendsten technischen Bestandteile des
Märchens.

In der innern Teilnahme an dem Geschick des Helden liegt nun schon
ein ethisches Prinzip verborgen, und dem müssen nun noch einige Worte ge¬
widmet werden, weil das Ethische im Werdegange des Märchens eine bedeutende
Rolle spielt. Natürlich ist im ersten Ursprung die Erzählung noch nicht ethisch
im eigentlichen Sinne des Wortes. Das Wertungsvermögen des Primitiven
erhebt sich kaum über die Bewunderung des Kraftvollen im rein physischen
Sinne und des überlegnen Verstandes oder Witzes. Das Gute ist ihm identisch
mit dem nutzbringenden, das Böse mit dem schadenbringenden. Auf dieser
sinnlich eudämonistischen Stufe steht zum Beispiel das schon angeführte Papua-
mürchen vom bestraften Selbstsüchtigen. Hier kollidiert die Selbstsucht des
besitzesfrohen Familienvaters mit dem ebenso selbstsüchtigen Begehruugstriebe der
Familie. Bei höherstehenden Naturvölkern jedoch entwickeln sich bald sittliche
Beziehungen der Einzelnen zueinander und zu der Gemeinschaft. Brauch und
Sitte erhalten ethischen Wert. Sittlich ist die Übereinstimmung mit den For¬
derungen der Stammessitte, unsittlich der Widerspruch dagegen. Jener versteht
sich von selbst, dieser wird geahndet. Hier fließt nun schon eine reiche Quelle


Zum Ursprung des Märchens

auf die äußere Form einwirken, indem sie den Erzähler zu immer lebendigerer,
eindrucksvollerer Darstellung aufreizt. Und in Wahrheit ist das primitive Märchen
lebendiger, anschaulicher, wenn man so sagen könnte, aktueller als das Märchen
der Kulturvölker. Es fehlt ihm durchaus der epische Fluß, aber auch Ordnung
und Zusammenhang.

Nun überträgt sich aber auch die innere Teilnahme der Erzähler wie der
Hörer — die, wie gesagt, immer aufeinander einwirken — auf die handelnden
Personen, und zwar in der Form, daß sich beide mit dem Helden identifizieren,
sich unbewußt an seiue Stelle träumen und so seine Erlebnisse und Gefahren
gleichsam als eigne mitempfinden. So wird das ganze Gebiet der selbstischen
Gefühle lebendig, die dann in die Person des Helden überfließen und auf ihn
alle Liebe und alles unmittelbare Interesse vereinigen, während sich auf das
böse, widerstreitende Prinzip aller Haß und alle Abscheu häuft. Dies führt
nun unmerklich dazu, daß die guten Seiten des Helden wie die bösen des
Gegenspielers im Extrem dargestellt werden. Wenn sich nun Erzähler und
Hörer mit dem Helden identifizieren, so führt die Losbindung des Mit- und
des Selbstgefühls dazu, daß der Hörer am Ende nach einem Lustgefühl ver¬
langt, das nur durch den endlichen Sieg des Helden hervorgerufen werden kann.
Deshalb ist es zu einem Prinzip des Märchens geworden, und zwar von An¬
fang her, daß es immer einen glücklichen Ausgang hat.

Und noch ein andres ist hier zu beachten. Wenn der Erzähler diese Ge¬
meinsamkeit der Stimmung, die ihm so notwendig ist, herbeiführen will, so muß
er für spannende Darstellung sorgen. Der langweilige Erzähler ist bald allein.
Deshalb ist die Spannung, die das Hauptwesen der Märchentechnik ausmacht,
ebenfalls vom Ursprung an eine der bedeutendsten technischen Bestandteile des
Märchens.

In der innern Teilnahme an dem Geschick des Helden liegt nun schon
ein ethisches Prinzip verborgen, und dem müssen nun noch einige Worte ge¬
widmet werden, weil das Ethische im Werdegange des Märchens eine bedeutende
Rolle spielt. Natürlich ist im ersten Ursprung die Erzählung noch nicht ethisch
im eigentlichen Sinne des Wortes. Das Wertungsvermögen des Primitiven
erhebt sich kaum über die Bewunderung des Kraftvollen im rein physischen
Sinne und des überlegnen Verstandes oder Witzes. Das Gute ist ihm identisch
mit dem nutzbringenden, das Böse mit dem schadenbringenden. Auf dieser
sinnlich eudämonistischen Stufe steht zum Beispiel das schon angeführte Papua-
mürchen vom bestraften Selbstsüchtigen. Hier kollidiert die Selbstsucht des
besitzesfrohen Familienvaters mit dem ebenso selbstsüchtigen Begehruugstriebe der
Familie. Bei höherstehenden Naturvölkern jedoch entwickeln sich bald sittliche
Beziehungen der Einzelnen zueinander und zu der Gemeinschaft. Brauch und
Sitte erhalten ethischen Wert. Sittlich ist die Übereinstimmung mit den For¬
derungen der Stammessitte, unsittlich der Widerspruch dagegen. Jener versteht
sich von selbst, dieser wird geahndet. Hier fließt nun schon eine reiche Quelle


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[0150] Zum Ursprung des Märchens auf die äußere Form einwirken, indem sie den Erzähler zu immer lebendigerer, eindrucksvollerer Darstellung aufreizt. Und in Wahrheit ist das primitive Märchen lebendiger, anschaulicher, wenn man so sagen könnte, aktueller als das Märchen der Kulturvölker. Es fehlt ihm durchaus der epische Fluß, aber auch Ordnung und Zusammenhang. Nun überträgt sich aber auch die innere Teilnahme der Erzähler wie der Hörer — die, wie gesagt, immer aufeinander einwirken — auf die handelnden Personen, und zwar in der Form, daß sich beide mit dem Helden identifizieren, sich unbewußt an seiue Stelle träumen und so seine Erlebnisse und Gefahren gleichsam als eigne mitempfinden. So wird das ganze Gebiet der selbstischen Gefühle lebendig, die dann in die Person des Helden überfließen und auf ihn alle Liebe und alles unmittelbare Interesse vereinigen, während sich auf das böse, widerstreitende Prinzip aller Haß und alle Abscheu häuft. Dies führt nun unmerklich dazu, daß die guten Seiten des Helden wie die bösen des Gegenspielers im Extrem dargestellt werden. Wenn sich nun Erzähler und Hörer mit dem Helden identifizieren, so führt die Losbindung des Mit- und des Selbstgefühls dazu, daß der Hörer am Ende nach einem Lustgefühl ver¬ langt, das nur durch den endlichen Sieg des Helden hervorgerufen werden kann. Deshalb ist es zu einem Prinzip des Märchens geworden, und zwar von An¬ fang her, daß es immer einen glücklichen Ausgang hat. Und noch ein andres ist hier zu beachten. Wenn der Erzähler diese Ge¬ meinsamkeit der Stimmung, die ihm so notwendig ist, herbeiführen will, so muß er für spannende Darstellung sorgen. Der langweilige Erzähler ist bald allein. Deshalb ist die Spannung, die das Hauptwesen der Märchentechnik ausmacht, ebenfalls vom Ursprung an eine der bedeutendsten technischen Bestandteile des Märchens. In der innern Teilnahme an dem Geschick des Helden liegt nun schon ein ethisches Prinzip verborgen, und dem müssen nun noch einige Worte ge¬ widmet werden, weil das Ethische im Werdegange des Märchens eine bedeutende Rolle spielt. Natürlich ist im ersten Ursprung die Erzählung noch nicht ethisch im eigentlichen Sinne des Wortes. Das Wertungsvermögen des Primitiven erhebt sich kaum über die Bewunderung des Kraftvollen im rein physischen Sinne und des überlegnen Verstandes oder Witzes. Das Gute ist ihm identisch mit dem nutzbringenden, das Böse mit dem schadenbringenden. Auf dieser sinnlich eudämonistischen Stufe steht zum Beispiel das schon angeführte Papua- mürchen vom bestraften Selbstsüchtigen. Hier kollidiert die Selbstsucht des besitzesfrohen Familienvaters mit dem ebenso selbstsüchtigen Begehruugstriebe der Familie. Bei höherstehenden Naturvölkern jedoch entwickeln sich bald sittliche Beziehungen der Einzelnen zueinander und zu der Gemeinschaft. Brauch und Sitte erhalten ethischen Wert. Sittlich ist die Übereinstimmung mit den For¬ derungen der Stammessitte, unsittlich der Widerspruch dagegen. Jener versteht sich von selbst, dieser wird geahndet. Hier fließt nun schon eine reiche Quelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/150>, abgerufen am 01.09.2024.