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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lidern und Kinder

Herzeleid auf den Blättern von tausend ungeschriebnen Familienchroniken liegt!
Die Nachwelt, die richtet, stellt sich ohne Bedenken auf die Seite der Söhne
und ruft mit Nietzsche dem Vater und der Mutter zu: "Nicht fort sollst du
dich pflanzen -- sondern hinauf!"

"Wir fabrizieren, sagt der englische Ästhetiker Nuskin, heute alles -- außer
wirklichen Menschen. Wir bleichen Baumwolle, Härten und veredeln Stahl,
raffinieren Zucker, formen Porzellan und drucken Bücher. Aber einen lebendigen
Geist zu raffinieren, zu reformieren, zu veredeln, das füllt nicht in unsre Profit¬
berechnungen." Welcher Vorwurf liegt darin! In keiner Zeit wird das Wort
Individualität mehr gebraucht als in unsrer. Aber in keiner war es mehr
Phrase. In keiner hat es weniger Individualitäten gegeben. Wir find so weit,
daß jede Originalität gesellschaftlich beinahe unmöglich geworden ist, und daß
man schlichte Herzlichkeit und frische Natürlichkeit höchstens in alten Romanen
noch erträglich findet. Wie eine starre, dicke Lavakruste liegt die Unwahrheit
des Lebens auf uns. Und wir fühlen es sogar nicht einmal. Nicht auswendig
soll euer Schmuck sein! predigt der Apostel Petrus; nicht in stolzen Kleidern,
in gezierten Haaren und in goldnen Ketten soll er bestehn -- "sondern der ver¬
borgne Mensch des Herzens, unverrückt, mit sanftem, stillem Geiste -- das ist
köstlich vor Gott". Laßt wenigstens die Kinder inwendige Menschen werden,
nicht Maskengesichter, Streber, Tabellenmenschen, sondern Charaktere!

So lange uns das Menschentum fehlt, bleibt unsre gerühmte Kultur eine
Barbarei. In der Ferne hören wir die mahnende Prophetenstimme Tolstojs.
Das vorige Jahrhundert war glücklicher. Wer die deutsche Jahrhundertaus-
stelluug in Berlin besucht hat, dem wird es überraschend gewesen sein, was für
Entdeckungen da in den Regionen der Porträtkunst der dreißiger Jahre zu
machen waren. Welche Fülle von Originalität und Individualität bei den
Malern und bei den Gemälden -- und dazu wieviel Treue und Schlichtheit
und wieviel Innigkeit und Innerlichkeit! Und ganz ähnliche Gedanken ranken
sich empor, wenn man in den Lebensbeschreibungen jener alten Tage blättert.
Goethes "Wahrheit und Dichtung" führt uns schon etwas zu weit zurück; aber
der Zufall hat mir drei andre Bücher vor kurzen? in freundlicher Eintracht
nebeneinander auf den Tisch gelegt. Sie haben den vollen Lebenshauch ein¬
gefangen, der durch ihre Jugend wehte, und tragen nun selbst ihr ruhiges Be¬
hagen in die Seele des Lesers hinein. Mau muß sie allen Müttern und
Vätern empfehlen, die Ellen Keys Buch oder "Die Kinderkultur" von Charlotte
Perkins Gilman nicht lieben oder nicht gleich auf Rousseau zurückgreifen wollen.
Es sind Wilhelm von Kügelgens, Ludwig Richters und Ernst Nietschels Me¬
moiren.

Nur der erste hatte einen wvhlbegüterten Weltmann zum Vater, der zweite
war der Sohn eines kleinen Kupferstechers und der dritte der Sohn eines Hand¬
werksmanns, der arm war wie eine Kirchenmaus. Es gab wohl viel Kou-
venienz damals, und würdige Förmlichkeit regelte den Verkehr der Gesellschaft,


Lidern und Kinder

Herzeleid auf den Blättern von tausend ungeschriebnen Familienchroniken liegt!
Die Nachwelt, die richtet, stellt sich ohne Bedenken auf die Seite der Söhne
und ruft mit Nietzsche dem Vater und der Mutter zu: „Nicht fort sollst du
dich pflanzen — sondern hinauf!"

„Wir fabrizieren, sagt der englische Ästhetiker Nuskin, heute alles — außer
wirklichen Menschen. Wir bleichen Baumwolle, Härten und veredeln Stahl,
raffinieren Zucker, formen Porzellan und drucken Bücher. Aber einen lebendigen
Geist zu raffinieren, zu reformieren, zu veredeln, das füllt nicht in unsre Profit¬
berechnungen." Welcher Vorwurf liegt darin! In keiner Zeit wird das Wort
Individualität mehr gebraucht als in unsrer. Aber in keiner war es mehr
Phrase. In keiner hat es weniger Individualitäten gegeben. Wir find so weit,
daß jede Originalität gesellschaftlich beinahe unmöglich geworden ist, und daß
man schlichte Herzlichkeit und frische Natürlichkeit höchstens in alten Romanen
noch erträglich findet. Wie eine starre, dicke Lavakruste liegt die Unwahrheit
des Lebens auf uns. Und wir fühlen es sogar nicht einmal. Nicht auswendig
soll euer Schmuck sein! predigt der Apostel Petrus; nicht in stolzen Kleidern,
in gezierten Haaren und in goldnen Ketten soll er bestehn — „sondern der ver¬
borgne Mensch des Herzens, unverrückt, mit sanftem, stillem Geiste — das ist
köstlich vor Gott". Laßt wenigstens die Kinder inwendige Menschen werden,
nicht Maskengesichter, Streber, Tabellenmenschen, sondern Charaktere!

So lange uns das Menschentum fehlt, bleibt unsre gerühmte Kultur eine
Barbarei. In der Ferne hören wir die mahnende Prophetenstimme Tolstojs.
Das vorige Jahrhundert war glücklicher. Wer die deutsche Jahrhundertaus-
stelluug in Berlin besucht hat, dem wird es überraschend gewesen sein, was für
Entdeckungen da in den Regionen der Porträtkunst der dreißiger Jahre zu
machen waren. Welche Fülle von Originalität und Individualität bei den
Malern und bei den Gemälden — und dazu wieviel Treue und Schlichtheit
und wieviel Innigkeit und Innerlichkeit! Und ganz ähnliche Gedanken ranken
sich empor, wenn man in den Lebensbeschreibungen jener alten Tage blättert.
Goethes „Wahrheit und Dichtung" führt uns schon etwas zu weit zurück; aber
der Zufall hat mir drei andre Bücher vor kurzen? in freundlicher Eintracht
nebeneinander auf den Tisch gelegt. Sie haben den vollen Lebenshauch ein¬
gefangen, der durch ihre Jugend wehte, und tragen nun selbst ihr ruhiges Be¬
hagen in die Seele des Lesers hinein. Mau muß sie allen Müttern und
Vätern empfehlen, die Ellen Keys Buch oder „Die Kinderkultur" von Charlotte
Perkins Gilman nicht lieben oder nicht gleich auf Rousseau zurückgreifen wollen.
Es sind Wilhelm von Kügelgens, Ludwig Richters und Ernst Nietschels Me¬
moiren.

Nur der erste hatte einen wvhlbegüterten Weltmann zum Vater, der zweite
war der Sohn eines kleinen Kupferstechers und der dritte der Sohn eines Hand¬
werksmanns, der arm war wie eine Kirchenmaus. Es gab wohl viel Kou-
venienz damals, und würdige Förmlichkeit regelte den Verkehr der Gesellschaft,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/90>, abgerufen am 06.02.2025.