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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Liter" und Kinder

keine unfertigen Geschöpfe, die absolutistisch regiert werden können, sondern
sie sind in ihrer jahrtausendalten vollberechtigter Kindcrkultnr ebenso vernünftig
wie wir Eltern in unsrer Welt. Immer muß man an die klare Wahrheit
denken, die schon in des jungen Goethe "Leiden des jungen Werther" ihre Worte
findet: "Meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich
ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte
sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden, wenn ich in dem Eigensinne
künftige Sündhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten
Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt Hinzuschlüpfen, erblicke
-- alles so unverdorben, so ganz --, immer, immer wiederhole ich dann die
goldnen Worte des Lehrers der Menschen: "Wenn ihr nicht werdet wie eins
von diesen!" . . . Und nun, mein Bester, sie, die unsersgleichen sind, die wir
als unsre Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. . . . Sie sollen
keinen Willen haben? -- Haben wir denn keinen? -- Und wo liegt das Vor¬
recht? -- Weil wir älter sind und gescheiter! -- Guter Gott in deinem Himmel,
alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und an welchen du
mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glauben
an ihn und hören ihn nicht -- das ist auch was Altes -- und bilden ihre
Kinder nach sich...."

Die Eltern dünken sich die Alten. In diesem Worte aber liegt ein ge¬
fährlicher Vorwurf. Denn Altern ist eine Arroganz oder eine Faulheit. Und
wer altert, dein gleiten die Kinder unter der Hand fort; der verliert das Recht,
seine Kinder zu erziehn und über sie zu richte". Unberechenbare Fluten, die
durch unser Dasein ziehn und mit schnellerm Tempo als in Väterzeiten Farbe
und Stärke und Richtung ändern, führen uns zu neuen materiellen Bedürfnissen,
wecken ungeahnte Energien, stellen neue Sehnsuchtsziele auf. Wir können in
unsern Wohnräumen wohl einmal stillaunig die Biedermeierzeit aufersteh" lassen,
aber ein Biedermeier rsclivivus würde sich auch nicht eine Stunde lang unsrer
Atmosphäre anzupassen vermögen. Und so -- wenn wir die Distanzen ver¬
ringern -- besteht ein fundamentaler Gegensatz der Lebensgewohnheiten und
Anschauungen zwischen der Generation von 1870 und uns. Und er wird be¬
steh" zwischen uns und der Menschheit, die jetzt uuter unsern Augen heran¬
wächst. Und doch bedürfen wieder die aufeinanderfolgenden Generationen ein¬
ander, denn die alte ist der Ackerboden, die junge ist die Frucht.

Aber die junge ist nicht das Privateigentum der alten. Die Eltern, die
ihre Kinder nicht versteh" lernen, verfallen der Vereinsamung -- oder, wo der
Eigenwille herrischer ist, geht das Haus in Flammen auf. Wir wissen, wie sie
immer gegeneinander aufgetreten sind, leidenschaftlich mit blinder Verkennung,
mit dem Eifern des Zorns oder auch sich preisgebend in bittrer Resignation:
der junge Hütten gegen den alten, der Sohn Luther gegen seinen Vater, der
Journalist Lessing gegen das ganze Elternhaus, der Kronprinz Fritz gegen den
König Friedrich Wilhelm. Und wer weiß, wieviele Tränen und wie tiefes


Grenzboten II 1907 11
Liter» und Kinder

keine unfertigen Geschöpfe, die absolutistisch regiert werden können, sondern
sie sind in ihrer jahrtausendalten vollberechtigter Kindcrkultnr ebenso vernünftig
wie wir Eltern in unsrer Welt. Immer muß man an die klare Wahrheit
denken, die schon in des jungen Goethe „Leiden des jungen Werther" ihre Worte
findet: „Meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich
ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte
sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden, wenn ich in dem Eigensinne
künftige Sündhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten
Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt Hinzuschlüpfen, erblicke
— alles so unverdorben, so ganz —, immer, immer wiederhole ich dann die
goldnen Worte des Lehrers der Menschen: »Wenn ihr nicht werdet wie eins
von diesen!« . . . Und nun, mein Bester, sie, die unsersgleichen sind, die wir
als unsre Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. . . . Sie sollen
keinen Willen haben? — Haben wir denn keinen? — Und wo liegt das Vor¬
recht? — Weil wir älter sind und gescheiter! — Guter Gott in deinem Himmel,
alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und an welchen du
mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glauben
an ihn und hören ihn nicht — das ist auch was Altes — und bilden ihre
Kinder nach sich...."

Die Eltern dünken sich die Alten. In diesem Worte aber liegt ein ge¬
fährlicher Vorwurf. Denn Altern ist eine Arroganz oder eine Faulheit. Und
wer altert, dein gleiten die Kinder unter der Hand fort; der verliert das Recht,
seine Kinder zu erziehn und über sie zu richte». Unberechenbare Fluten, die
durch unser Dasein ziehn und mit schnellerm Tempo als in Väterzeiten Farbe
und Stärke und Richtung ändern, führen uns zu neuen materiellen Bedürfnissen,
wecken ungeahnte Energien, stellen neue Sehnsuchtsziele auf. Wir können in
unsern Wohnräumen wohl einmal stillaunig die Biedermeierzeit aufersteh« lassen,
aber ein Biedermeier rsclivivus würde sich auch nicht eine Stunde lang unsrer
Atmosphäre anzupassen vermögen. Und so — wenn wir die Distanzen ver¬
ringern — besteht ein fundamentaler Gegensatz der Lebensgewohnheiten und
Anschauungen zwischen der Generation von 1870 und uns. Und er wird be¬
steh» zwischen uns und der Menschheit, die jetzt uuter unsern Augen heran¬
wächst. Und doch bedürfen wieder die aufeinanderfolgenden Generationen ein¬
ander, denn die alte ist der Ackerboden, die junge ist die Frucht.

Aber die junge ist nicht das Privateigentum der alten. Die Eltern, die
ihre Kinder nicht versteh» lernen, verfallen der Vereinsamung — oder, wo der
Eigenwille herrischer ist, geht das Haus in Flammen auf. Wir wissen, wie sie
immer gegeneinander aufgetreten sind, leidenschaftlich mit blinder Verkennung,
mit dem Eifern des Zorns oder auch sich preisgebend in bittrer Resignation:
der junge Hütten gegen den alten, der Sohn Luther gegen seinen Vater, der
Journalist Lessing gegen das ganze Elternhaus, der Kronprinz Fritz gegen den
König Friedrich Wilhelm. Und wer weiß, wieviele Tränen und wie tiefes


Grenzboten II 1907 11
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/89>, abgerufen am 06.02.2025.