Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Sozialdemokratin und Gericht Männer und Frauen, weil ihnen das sittliche Bewußtsein, das Gewissen ge¬ Untersuchen wir aber auch die Fälle näher, die gleichwohl den Altschein Sozialdemokratin und Gericht Männer und Frauen, weil ihnen das sittliche Bewußtsein, das Gewissen ge¬ Untersuchen wir aber auch die Fälle näher, die gleichwohl den Altschein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302058"/> <fw type="header" place="top"> Sozialdemokratin und Gericht</fw><lb/> <p xml:id="ID_274" prev="#ID_273"> Männer und Frauen, weil ihnen das sittliche Bewußtsein, das Gewissen ge¬<lb/> blieben sind. Weiter ist aber auch die Hebung der wirtschaftlichen Lage allein<lb/> vielfach gar nicht imstande, den Anreiz zum Verbrechen zu mindern, sie ver¬<lb/> mehrt ihn im Gegenteil oft dann, wenn mit der wirtschaftlichen nicht die<lb/> Hebung der idealen Güter, wahrer Bildung und Sittlichkeit, Liebe zu Heimat<lb/> und Vaterland Hand in Hand geht. So hat gerade auch das Gegenteil der<lb/> wirtschaftlichen Not, so haben Reichtum und Üppigkeit ihre besondern Laster,<lb/> die nur zu oft auf die Bahn des Verbrechens führe». Wo das nun der Fall<lb/> ist, treten uus wieder ebenso bequem liegende wie in ihrer Allgemeinheit un¬<lb/> gerechte, aber arg verhetzende Schlagwörter in den Svzialistenblättern ent¬<lb/> gegen: Nun ja, die Kleinen hängt man, aber die Großen laßt man laufen,<lb/> bei den Kleinen ists Diebstahl, bei den Großen Kleptomanie, die Großen, die<lb/> Verbrechen begeh», werden schlimmstenfalls in einer Nervenheilanstalt angenehm<lb/> untergebracht, nach einiger Zeit läßt man sie wieder laufen! Und es sind<lb/> allerdings, das ist nicht zu leugnen, in der deutschen Strafrechtspflege auch<lb/> der jüngsten Zeit Beispiele vorgefallen, die solchem Gerede Nahrung gegeben<lb/> und den Anschein gerichtlicher Willkür erweckt haben. Diese Beispiele als<lb/> typisch, als charakteristisch für die ganze Rechtspflege hinzustellen, ist freilich<lb/> ungerecht, aber die große Masse des Volkes und dazu ein großer Teil der<lb/> Gebildeten tut es doch! Mau soll nur hören, in welcher Weise jetzt wieder<lb/> der Fall der Fürstin Wrede besprochen wird, wobei ich mir nicht im geringsten<lb/> eine Kritik der darin ergangnen Entscheidungen, deren Grundlagen sich meiner<lb/> Beurteilung vollständig entziehn, anmaße. Die Verallgemeinerung bleibt, das<lb/> muß betont werden, ungerecht. Man frage nur in den Strafanstalten, da ist<lb/> so mancher, herausgerissen aus bequemem und reichem Leben, der wegen des<lb/> trassern Gegensatzes zwischen einst und jetzt viel mehr leidet als die große<lb/> Zahl der Mitgefangnen, der mit seiner Vergehung um kein Haar anders be¬<lb/> handelt und beurteilt wurde als der geringste andre, ja dessen Zugehörigkeit<lb/> zu Besitz und Bildung — wie auch durchaus gerecht ist — erschwerend an¬<lb/> gesehen wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_275" next="#ID_276"> Untersuchen wir aber auch die Fälle näher, die gleichwohl den Altschein<lb/> ungerechter Begünstigung begüterter, vornehmer Personen bieten, so drängt<lb/> sich uns eine Beobachtung sofort auf. Der Richter ist in den Fällen der<lb/> Vergehung solcher Leute meist vor eine viel schwerere Aufgabe gestellt als in<lb/> den alltäglichen Fällen zum Beispiel des Diebstahls eines Unbemittelten.<lb/> Hier liegt die Ursache des Vergehens klar zutage, der Übeltäter wollte besitzen,<lb/> was er im Augenblick auf ehrlichem Wege nicht zu erlangen vermochte.<lb/> Gewiß prüft das Gericht auch hier das Vorhandensein der Verantwortlichkeit<lb/> für die Tat in der Person des Gesetzübertreters, die Frage, ob er geistig ge¬<lb/> sund ist, wo aber nicht besondre Zweifel auftauchen, ist diese Prüfung bald<lb/> erledigt. Im andern Falle fehlt oft ein ohne weiteres einleuchtender Beweg¬<lb/> grund für das Vergehen, Darauf fußt die Verteidigung, drängt mit allen<lb/> ihr zu Gebote stehenden Mitteln auf Untersuchung des Geisteszustandes, und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0070]
Sozialdemokratin und Gericht
Männer und Frauen, weil ihnen das sittliche Bewußtsein, das Gewissen ge¬
blieben sind. Weiter ist aber auch die Hebung der wirtschaftlichen Lage allein
vielfach gar nicht imstande, den Anreiz zum Verbrechen zu mindern, sie ver¬
mehrt ihn im Gegenteil oft dann, wenn mit der wirtschaftlichen nicht die
Hebung der idealen Güter, wahrer Bildung und Sittlichkeit, Liebe zu Heimat
und Vaterland Hand in Hand geht. So hat gerade auch das Gegenteil der
wirtschaftlichen Not, so haben Reichtum und Üppigkeit ihre besondern Laster,
die nur zu oft auf die Bahn des Verbrechens führe». Wo das nun der Fall
ist, treten uus wieder ebenso bequem liegende wie in ihrer Allgemeinheit un¬
gerechte, aber arg verhetzende Schlagwörter in den Svzialistenblättern ent¬
gegen: Nun ja, die Kleinen hängt man, aber die Großen laßt man laufen,
bei den Kleinen ists Diebstahl, bei den Großen Kleptomanie, die Großen, die
Verbrechen begeh», werden schlimmstenfalls in einer Nervenheilanstalt angenehm
untergebracht, nach einiger Zeit läßt man sie wieder laufen! Und es sind
allerdings, das ist nicht zu leugnen, in der deutschen Strafrechtspflege auch
der jüngsten Zeit Beispiele vorgefallen, die solchem Gerede Nahrung gegeben
und den Anschein gerichtlicher Willkür erweckt haben. Diese Beispiele als
typisch, als charakteristisch für die ganze Rechtspflege hinzustellen, ist freilich
ungerecht, aber die große Masse des Volkes und dazu ein großer Teil der
Gebildeten tut es doch! Mau soll nur hören, in welcher Weise jetzt wieder
der Fall der Fürstin Wrede besprochen wird, wobei ich mir nicht im geringsten
eine Kritik der darin ergangnen Entscheidungen, deren Grundlagen sich meiner
Beurteilung vollständig entziehn, anmaße. Die Verallgemeinerung bleibt, das
muß betont werden, ungerecht. Man frage nur in den Strafanstalten, da ist
so mancher, herausgerissen aus bequemem und reichem Leben, der wegen des
trassern Gegensatzes zwischen einst und jetzt viel mehr leidet als die große
Zahl der Mitgefangnen, der mit seiner Vergehung um kein Haar anders be¬
handelt und beurteilt wurde als der geringste andre, ja dessen Zugehörigkeit
zu Besitz und Bildung — wie auch durchaus gerecht ist — erschwerend an¬
gesehen wurde.
Untersuchen wir aber auch die Fälle näher, die gleichwohl den Altschein
ungerechter Begünstigung begüterter, vornehmer Personen bieten, so drängt
sich uns eine Beobachtung sofort auf. Der Richter ist in den Fällen der
Vergehung solcher Leute meist vor eine viel schwerere Aufgabe gestellt als in
den alltäglichen Fällen zum Beispiel des Diebstahls eines Unbemittelten.
Hier liegt die Ursache des Vergehens klar zutage, der Übeltäter wollte besitzen,
was er im Augenblick auf ehrlichem Wege nicht zu erlangen vermochte.
Gewiß prüft das Gericht auch hier das Vorhandensein der Verantwortlichkeit
für die Tat in der Person des Gesetzübertreters, die Frage, ob er geistig ge¬
sund ist, wo aber nicht besondre Zweifel auftauchen, ist diese Prüfung bald
erledigt. Im andern Falle fehlt oft ein ohne weiteres einleuchtender Beweg¬
grund für das Vergehen, Darauf fußt die Verteidigung, drängt mit allen
ihr zu Gebote stehenden Mitteln auf Untersuchung des Geisteszustandes, und
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