Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Line Sommerfahrt in das Erzgebirge Geschäft flott, dann sind Tausende von Posamentierstühlen, Hunderte von Mühl¬ In Crcmzcihl verlassen wir den Zug, durchschreiten den hohen Viadukt, Line Sommerfahrt in das Erzgebirge Geschäft flott, dann sind Tausende von Posamentierstühlen, Hunderte von Mühl¬ In Crcmzcihl verlassen wir den Zug, durchschreiten den hohen Viadukt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0689" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302677"/> <fw type="header" place="top"> Line Sommerfahrt in das Erzgebirge</fw><lb/> <p xml:id="ID_2980" prev="#ID_2979"> Geschäft flott, dann sind Tausende von Posamentierstühlen, Hunderte von Mühl¬<lb/> stühlen und Chenillemaschinen im Gange. Im Jahre 1863 hat ein Annaberger<lb/> Geschäft für 600000 Mark umgesetzt. Der Jahresexport nach den Vereinigten<lb/> Staaten von Nordamerika (Konsulat in Annaberg) beträgt ungefähr 5^ Millionen<lb/> Mark. Annaberg hat über 100 Posamenten- und Spitzenhandlungen; Buchholz<lb/> 100 Posamentenfabrikanten und Verleger. In Annaberg wohnen über 600, in<lb/> Buchholz über 450 Posamentierer. Je nach der herrschenden Mode werden fast<lb/> auf dem ganzen Gebirge durch Frauen- und Kinderhände Zwirn-, Woll- oder<lb/> Seidenspitzen geklöppelt. Freilich ist der Verdienst der Klöpplerinnen sehr gering,<lb/> aber dennoch mögen manchmal im Annaberg-Vuchholzer Bezirk 20000 Klöppel¬<lb/> kissen in Tätigkeit sein. Aber auch andre Geschäftszweige sind vertreten, sodaß<lb/> bei gänzlichen Modeveränderungen allgemeine Notstünde nicht mehr aufkommen<lb/> können, zum Beispiel Kartonagenfabriken, die Pappkartons von den einfachsten<lb/> Apothekerschüchtelchen bis zu den feinsten Bonbonnieren und Ostereiern ver¬<lb/> fertigen, und Präganstalten, die aus Gold- und Silberpapier Sargverzierungen<lb/> und aus Silber- und Papierkanevas tausenderlei Unterlagen zu Stickereien vom<lb/> Buchzeichen bis zum Lampenteller und -schirme verfertigen. Andre Geschäfte<lb/> versenden Kränze von Moos und trocknen Blumen oder fertigen auf eigenartigen<lb/> Stühlen Perlengewebe für Etuis und Portefeuilles an als Ersatz für kostspielige<lb/> Stickereien.</p><lb/> <p xml:id="ID_2981" next="#ID_2982"> In Crcmzcihl verlassen wir den Zug, durchschreiten den hohen Viadukt,<lb/> auf dem die Annaberg-Weiperter Bahn von dem linken nach dem rechten<lb/> Talhang geht, und wandern durch den freundlichen Ort nach dem sich daran<lb/> anschließenden Neudorf, einer reich belebten Ortschaft, die Ackerbau und Industrie<lb/> treibt. „Aus dem Griiu der umgebenden zahlreichen Obstbäume heraus", so schreibt<lb/> Süßmilch-Hörnig in seinem »Erzgebirge«, „dann bis zum höchsten Gebirgskamm<lb/> hinauf, und wo es irgend angeht, selbst auf diesem noch kennzeichnet sich das<lb/> Streben, eine Baumgruppe, einen Baum oder mindestens einen grünen Strauch<lb/> zunächst des Hauses zu haben — über Hecken und Gurten blicken die freund¬<lb/> lichen Häuser mit ihren weißen Mauern und silbergraublitzcnden, schiefergedeckten<lb/> Dächern. Die je nach persönlichem Geschmack schwarz oder braun, manchmal auch<lb/> rot oder blau gestrichnen Balken stechen wie ein Netz von den grell-weiß ge¬<lb/> färbten Zwischenräumen ab, in denen die Fenster mit ihren kleinen Schößchen<lb/> und halben Scheiben leuchtend hervortreten. Eines nach dem andern, zuweilen<lb/> eine Reihe, zuweilen ein großer Trupp werden sichtbar; an den Fenster grünen<lb/> und blühen Blumenstöcke überall, auch da, wo man keinen Garten am Hause<lb/> oder vor demselben besitzt. Freundliche Mädcheuköpfe zeigen sich hinter den<lb/> Scheiben, einen flüchtigen Blick nach der Straße werfend, während die fleißigen<lb/> Hände emsig und unablässig bei der Arbeit bleiben. Heitere Kinder spielen vor<lb/> den Türen, ein bellender Hund kläfft uns an, während die Hühner gackernd<lb/> über den Zaun flüchten und die Gänse nach dem Bach eilen; Wagen mit statt¬<lb/> lichem Zugvieh ziehen die Dorfstraße einher; die rauchenden Essen lassen ihren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0689]
Line Sommerfahrt in das Erzgebirge
Geschäft flott, dann sind Tausende von Posamentierstühlen, Hunderte von Mühl¬
stühlen und Chenillemaschinen im Gange. Im Jahre 1863 hat ein Annaberger
Geschäft für 600000 Mark umgesetzt. Der Jahresexport nach den Vereinigten
Staaten von Nordamerika (Konsulat in Annaberg) beträgt ungefähr 5^ Millionen
Mark. Annaberg hat über 100 Posamenten- und Spitzenhandlungen; Buchholz
100 Posamentenfabrikanten und Verleger. In Annaberg wohnen über 600, in
Buchholz über 450 Posamentierer. Je nach der herrschenden Mode werden fast
auf dem ganzen Gebirge durch Frauen- und Kinderhände Zwirn-, Woll- oder
Seidenspitzen geklöppelt. Freilich ist der Verdienst der Klöpplerinnen sehr gering,
aber dennoch mögen manchmal im Annaberg-Vuchholzer Bezirk 20000 Klöppel¬
kissen in Tätigkeit sein. Aber auch andre Geschäftszweige sind vertreten, sodaß
bei gänzlichen Modeveränderungen allgemeine Notstünde nicht mehr aufkommen
können, zum Beispiel Kartonagenfabriken, die Pappkartons von den einfachsten
Apothekerschüchtelchen bis zu den feinsten Bonbonnieren und Ostereiern ver¬
fertigen, und Präganstalten, die aus Gold- und Silberpapier Sargverzierungen
und aus Silber- und Papierkanevas tausenderlei Unterlagen zu Stickereien vom
Buchzeichen bis zum Lampenteller und -schirme verfertigen. Andre Geschäfte
versenden Kränze von Moos und trocknen Blumen oder fertigen auf eigenartigen
Stühlen Perlengewebe für Etuis und Portefeuilles an als Ersatz für kostspielige
Stickereien.
In Crcmzcihl verlassen wir den Zug, durchschreiten den hohen Viadukt,
auf dem die Annaberg-Weiperter Bahn von dem linken nach dem rechten
Talhang geht, und wandern durch den freundlichen Ort nach dem sich daran
anschließenden Neudorf, einer reich belebten Ortschaft, die Ackerbau und Industrie
treibt. „Aus dem Griiu der umgebenden zahlreichen Obstbäume heraus", so schreibt
Süßmilch-Hörnig in seinem »Erzgebirge«, „dann bis zum höchsten Gebirgskamm
hinauf, und wo es irgend angeht, selbst auf diesem noch kennzeichnet sich das
Streben, eine Baumgruppe, einen Baum oder mindestens einen grünen Strauch
zunächst des Hauses zu haben — über Hecken und Gurten blicken die freund¬
lichen Häuser mit ihren weißen Mauern und silbergraublitzcnden, schiefergedeckten
Dächern. Die je nach persönlichem Geschmack schwarz oder braun, manchmal auch
rot oder blau gestrichnen Balken stechen wie ein Netz von den grell-weiß ge¬
färbten Zwischenräumen ab, in denen die Fenster mit ihren kleinen Schößchen
und halben Scheiben leuchtend hervortreten. Eines nach dem andern, zuweilen
eine Reihe, zuweilen ein großer Trupp werden sichtbar; an den Fenster grünen
und blühen Blumenstöcke überall, auch da, wo man keinen Garten am Hause
oder vor demselben besitzt. Freundliche Mädcheuköpfe zeigen sich hinter den
Scheiben, einen flüchtigen Blick nach der Straße werfend, während die fleißigen
Hände emsig und unablässig bei der Arbeit bleiben. Heitere Kinder spielen vor
den Türen, ein bellender Hund kläfft uns an, während die Hühner gackernd
über den Zaun flüchten und die Gänse nach dem Bach eilen; Wagen mit statt¬
lichem Zugvieh ziehen die Dorfstraße einher; die rauchenden Essen lassen ihren
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