Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zukunft Ägyptens

im Nahen Osten erhalten. England aber hat nur Interesse an der Erhaltung
des Friedens und ist deshalb mit der deutschen Politik völlig einverstanden.
Die weitere Ausdehnung der österreichischen Macht längs der Südküste der
Balkanhalbinsel würde die beste Lösung der orientalischen Frage sein. Sie ver¬
langt aber zum Erfolg, daß jede plötzliche Umstürzung der türkischen Herrschaft
in Europa unbedingt vermieden wird. Dieses Ziel verfolgt Deutschlands Politik
in der orientalischen Frage, und aus diesem Bestreben erklären sich, nach Dicey,
viele von den scheinbaren innern Widersprüchen der deutschen Staatskunst.

Die orientalische Frage selbst arbeitet in sich auf ihre Lösung hin. Das
wichtigste dabei ist, wer der Nachfolger in der Herrschaft in Konstantinopel, am
Bosporus und an den Dardanellen wird. Je langsamer der Prozeß der Zer¬
setzung, desto besser für England, als den Freund des Friedens. Der Sieger
im innern Kampf in Rußland aber wird voraussichtlich bald einen Krieg an¬
fangen, um endgiltig die türkische Herrschaft in Europa zu vernichten. So wird
wohl in nicht zu ferner Zeit die orientalische Frage am Vorabend einer Lösung
stehen. Dann aber werden die Beziehungen Englands zu Ägypten zur Er¬
örterung gestellt werden, und England wird, sehr gegen seinen Willen, gezwungen
werden, sich klar auszusprechen, ob es ein Protektorat über Ägypten erklären,
oder ob es einen Zeitpunkt für die Räumung dieses Landes durch seine Truppen
endgiltig festsetzen will.

Daß die Absicht, Ägypten zu einem günstig erscheinenden Zeitpunkt zu
räumen, sehr im Gegensatz zu Diceys bestimmtem Verlangen nach einem offen
ausgesprochnen britischen Protektorat über Ägypten und ebenso im Gegensatz
zu der öffentlichen Meinung in Europa, die in Englands Verhalten zu Ägypten
nur einen weitern Ausfluß der "Politik des perfiden Albion" zu erkennen
glaubt, in England zumal auf feiten der Regierung immer ehrlich bestanden
habe und noch bestehe, behauptet der Verfasser unsers Buches ganz bestimmt.
Habe trotzdem England seine Truppen seither nicht zurückgezogen, so habe das
seinen Grund darin, daß dieser Schritt das Zeichen zu innern Unruhen im
Nilland geben und nur eine erneute Besetzung dieses Gebietes durch eine andre
europäische Macht, z. B. Frankreich, nötig machen würde.

Als unter der Negierung Lord Salisburys im Jahre 1885 ein Vertrag
zwischen England und der Türkei, der den Rückzug der britischen Truppen aus
Ägypten und die Aufrechterhaltung der Ordnung durch türkische Truppen in
jenem Lande zum Gegenstand hatte, von Englands Vertreter schon unterzeichnet
war, verhinderte Frankreich durch diplomatische Vorstellungen in Konstantinopel
das Zustandekommen des Vertrages.

Als dann während der ersten Zeiten des Burenkrieges der Glaube an eine
Niederlage Englands allgemein verbreitet war, zeigten sich die meisten Kontinental¬
mächte den Anstrengungen Frankreichs, Englands Vorherrschaft in Ägypten zu
brechen, geneigt; nur die Weigerung Deutschlands, an einer internationalen
Konferenz zur Regelung der Beziehungen zwischen England und Frankreich teil-


Die Zukunft Ägyptens

im Nahen Osten erhalten. England aber hat nur Interesse an der Erhaltung
des Friedens und ist deshalb mit der deutschen Politik völlig einverstanden.
Die weitere Ausdehnung der österreichischen Macht längs der Südküste der
Balkanhalbinsel würde die beste Lösung der orientalischen Frage sein. Sie ver¬
langt aber zum Erfolg, daß jede plötzliche Umstürzung der türkischen Herrschaft
in Europa unbedingt vermieden wird. Dieses Ziel verfolgt Deutschlands Politik
in der orientalischen Frage, und aus diesem Bestreben erklären sich, nach Dicey,
viele von den scheinbaren innern Widersprüchen der deutschen Staatskunst.

Die orientalische Frage selbst arbeitet in sich auf ihre Lösung hin. Das
wichtigste dabei ist, wer der Nachfolger in der Herrschaft in Konstantinopel, am
Bosporus und an den Dardanellen wird. Je langsamer der Prozeß der Zer¬
setzung, desto besser für England, als den Freund des Friedens. Der Sieger
im innern Kampf in Rußland aber wird voraussichtlich bald einen Krieg an¬
fangen, um endgiltig die türkische Herrschaft in Europa zu vernichten. So wird
wohl in nicht zu ferner Zeit die orientalische Frage am Vorabend einer Lösung
stehen. Dann aber werden die Beziehungen Englands zu Ägypten zur Er¬
örterung gestellt werden, und England wird, sehr gegen seinen Willen, gezwungen
werden, sich klar auszusprechen, ob es ein Protektorat über Ägypten erklären,
oder ob es einen Zeitpunkt für die Räumung dieses Landes durch seine Truppen
endgiltig festsetzen will.

Daß die Absicht, Ägypten zu einem günstig erscheinenden Zeitpunkt zu
räumen, sehr im Gegensatz zu Diceys bestimmtem Verlangen nach einem offen
ausgesprochnen britischen Protektorat über Ägypten und ebenso im Gegensatz
zu der öffentlichen Meinung in Europa, die in Englands Verhalten zu Ägypten
nur einen weitern Ausfluß der „Politik des perfiden Albion" zu erkennen
glaubt, in England zumal auf feiten der Regierung immer ehrlich bestanden
habe und noch bestehe, behauptet der Verfasser unsers Buches ganz bestimmt.
Habe trotzdem England seine Truppen seither nicht zurückgezogen, so habe das
seinen Grund darin, daß dieser Schritt das Zeichen zu innern Unruhen im
Nilland geben und nur eine erneute Besetzung dieses Gebietes durch eine andre
europäische Macht, z. B. Frankreich, nötig machen würde.

Als unter der Negierung Lord Salisburys im Jahre 1885 ein Vertrag
zwischen England und der Türkei, der den Rückzug der britischen Truppen aus
Ägypten und die Aufrechterhaltung der Ordnung durch türkische Truppen in
jenem Lande zum Gegenstand hatte, von Englands Vertreter schon unterzeichnet
war, verhinderte Frankreich durch diplomatische Vorstellungen in Konstantinopel
das Zustandekommen des Vertrages.

Als dann während der ersten Zeiten des Burenkrieges der Glaube an eine
Niederlage Englands allgemein verbreitet war, zeigten sich die meisten Kontinental¬
mächte den Anstrengungen Frankreichs, Englands Vorherrschaft in Ägypten zu
brechen, geneigt; nur die Weigerung Deutschlands, an einer internationalen
Konferenz zur Regelung der Beziehungen zwischen England und Frankreich teil-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0662" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302650"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zukunft Ägyptens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2890" prev="#ID_2889"> im Nahen Osten erhalten. England aber hat nur Interesse an der Erhaltung<lb/>
des Friedens und ist deshalb mit der deutschen Politik völlig einverstanden.<lb/>
Die weitere Ausdehnung der österreichischen Macht längs der Südküste der<lb/>
Balkanhalbinsel würde die beste Lösung der orientalischen Frage sein. Sie ver¬<lb/>
langt aber zum Erfolg, daß jede plötzliche Umstürzung der türkischen Herrschaft<lb/>
in Europa unbedingt vermieden wird. Dieses Ziel verfolgt Deutschlands Politik<lb/>
in der orientalischen Frage, und aus diesem Bestreben erklären sich, nach Dicey,<lb/>
viele von den scheinbaren innern Widersprüchen der deutschen Staatskunst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2891"> Die orientalische Frage selbst arbeitet in sich auf ihre Lösung hin. Das<lb/>
wichtigste dabei ist, wer der Nachfolger in der Herrschaft in Konstantinopel, am<lb/>
Bosporus und an den Dardanellen wird. Je langsamer der Prozeß der Zer¬<lb/>
setzung, desto besser für England, als den Freund des Friedens. Der Sieger<lb/>
im innern Kampf in Rußland aber wird voraussichtlich bald einen Krieg an¬<lb/>
fangen, um endgiltig die türkische Herrschaft in Europa zu vernichten. So wird<lb/>
wohl in nicht zu ferner Zeit die orientalische Frage am Vorabend einer Lösung<lb/>
stehen. Dann aber werden die Beziehungen Englands zu Ägypten zur Er¬<lb/>
örterung gestellt werden, und England wird, sehr gegen seinen Willen, gezwungen<lb/>
werden, sich klar auszusprechen, ob es ein Protektorat über Ägypten erklären,<lb/>
oder ob es einen Zeitpunkt für die Räumung dieses Landes durch seine Truppen<lb/>
endgiltig festsetzen will.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2892"> Daß die Absicht, Ägypten zu einem günstig erscheinenden Zeitpunkt zu<lb/>
räumen, sehr im Gegensatz zu Diceys bestimmtem Verlangen nach einem offen<lb/>
ausgesprochnen britischen Protektorat über Ägypten und ebenso im Gegensatz<lb/>
zu der öffentlichen Meinung in Europa, die in Englands Verhalten zu Ägypten<lb/>
nur einen weitern Ausfluß der &#x201E;Politik des perfiden Albion" zu erkennen<lb/>
glaubt, in England zumal auf feiten der Regierung immer ehrlich bestanden<lb/>
habe und noch bestehe, behauptet der Verfasser unsers Buches ganz bestimmt.<lb/>
Habe trotzdem England seine Truppen seither nicht zurückgezogen, so habe das<lb/>
seinen Grund darin, daß dieser Schritt das Zeichen zu innern Unruhen im<lb/>
Nilland geben und nur eine erneute Besetzung dieses Gebietes durch eine andre<lb/>
europäische Macht, z. B. Frankreich, nötig machen würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2893"> Als unter der Negierung Lord Salisburys im Jahre 1885 ein Vertrag<lb/>
zwischen England und der Türkei, der den Rückzug der britischen Truppen aus<lb/>
Ägypten und die Aufrechterhaltung der Ordnung durch türkische Truppen in<lb/>
jenem Lande zum Gegenstand hatte, von Englands Vertreter schon unterzeichnet<lb/>
war, verhinderte Frankreich durch diplomatische Vorstellungen in Konstantinopel<lb/>
das Zustandekommen des Vertrages.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2894" next="#ID_2895"> Als dann während der ersten Zeiten des Burenkrieges der Glaube an eine<lb/>
Niederlage Englands allgemein verbreitet war, zeigten sich die meisten Kontinental¬<lb/>
mächte den Anstrengungen Frankreichs, Englands Vorherrschaft in Ägypten zu<lb/>
brechen, geneigt; nur die Weigerung Deutschlands, an einer internationalen<lb/>
Konferenz zur Regelung der Beziehungen zwischen England und Frankreich teil-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0662] Die Zukunft Ägyptens im Nahen Osten erhalten. England aber hat nur Interesse an der Erhaltung des Friedens und ist deshalb mit der deutschen Politik völlig einverstanden. Die weitere Ausdehnung der österreichischen Macht längs der Südküste der Balkanhalbinsel würde die beste Lösung der orientalischen Frage sein. Sie ver¬ langt aber zum Erfolg, daß jede plötzliche Umstürzung der türkischen Herrschaft in Europa unbedingt vermieden wird. Dieses Ziel verfolgt Deutschlands Politik in der orientalischen Frage, und aus diesem Bestreben erklären sich, nach Dicey, viele von den scheinbaren innern Widersprüchen der deutschen Staatskunst. Die orientalische Frage selbst arbeitet in sich auf ihre Lösung hin. Das wichtigste dabei ist, wer der Nachfolger in der Herrschaft in Konstantinopel, am Bosporus und an den Dardanellen wird. Je langsamer der Prozeß der Zer¬ setzung, desto besser für England, als den Freund des Friedens. Der Sieger im innern Kampf in Rußland aber wird voraussichtlich bald einen Krieg an¬ fangen, um endgiltig die türkische Herrschaft in Europa zu vernichten. So wird wohl in nicht zu ferner Zeit die orientalische Frage am Vorabend einer Lösung stehen. Dann aber werden die Beziehungen Englands zu Ägypten zur Er¬ örterung gestellt werden, und England wird, sehr gegen seinen Willen, gezwungen werden, sich klar auszusprechen, ob es ein Protektorat über Ägypten erklären, oder ob es einen Zeitpunkt für die Räumung dieses Landes durch seine Truppen endgiltig festsetzen will. Daß die Absicht, Ägypten zu einem günstig erscheinenden Zeitpunkt zu räumen, sehr im Gegensatz zu Diceys bestimmtem Verlangen nach einem offen ausgesprochnen britischen Protektorat über Ägypten und ebenso im Gegensatz zu der öffentlichen Meinung in Europa, die in Englands Verhalten zu Ägypten nur einen weitern Ausfluß der „Politik des perfiden Albion" zu erkennen glaubt, in England zumal auf feiten der Regierung immer ehrlich bestanden habe und noch bestehe, behauptet der Verfasser unsers Buches ganz bestimmt. Habe trotzdem England seine Truppen seither nicht zurückgezogen, so habe das seinen Grund darin, daß dieser Schritt das Zeichen zu innern Unruhen im Nilland geben und nur eine erneute Besetzung dieses Gebietes durch eine andre europäische Macht, z. B. Frankreich, nötig machen würde. Als unter der Negierung Lord Salisburys im Jahre 1885 ein Vertrag zwischen England und der Türkei, der den Rückzug der britischen Truppen aus Ägypten und die Aufrechterhaltung der Ordnung durch türkische Truppen in jenem Lande zum Gegenstand hatte, von Englands Vertreter schon unterzeichnet war, verhinderte Frankreich durch diplomatische Vorstellungen in Konstantinopel das Zustandekommen des Vertrages. Als dann während der ersten Zeiten des Burenkrieges der Glaube an eine Niederlage Englands allgemein verbreitet war, zeigten sich die meisten Kontinental¬ mächte den Anstrengungen Frankreichs, Englands Vorherrschaft in Ägypten zu brechen, geneigt; nur die Weigerung Deutschlands, an einer internationalen Konferenz zur Regelung der Beziehungen zwischen England und Frankreich teil-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/662
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/662>, abgerufen am 06.02.2025.