Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Hans von Kleist-Retzow Kirche im Kulturkampf behandelt hat. Zu den Ursachen gehört auch die wirt¬ Hans von Kleist-Retzow Kirche im Kulturkampf behandelt hat. Zu den Ursachen gehört auch die wirt¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0627" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302615"/> <fw type="header" place="top"> Hans von Kleist-Retzow</fw><lb/> <p xml:id="ID_2660" prev="#ID_2659" next="#ID_2661"> Kirche im Kulturkampf behandelt hat. Zu den Ursachen gehört auch die wirt¬<lb/> schaftliche Entwicklung, die den Unterschied zwischen Arm und Reich immer<lb/> klaffender macht, die Ordnung des Handwerks, die Zucht in der Werkstatt auf¬<lb/> löst; und es gehört dazu die Lockerung der Sitten durch das Übermaß der<lb/> Schänkstätten. 'die Freigebung der sittenlosen Tingeltangel." Am 17. September<lb/> sprach er nach Bismarck, und nicht weniger wirkungsvoll als dieser. Er<lb/> begann: „Der Herr Abgeordnete Hänel verlangt von uns Klarheit. Ich hoffe,<lb/> er soll von mir Klarheit bekommen." Hänel hatte sich auf Luther berufen;<lb/> Kleist berief sich auf Luthers gewaltigen Kampfesruf gegen die aufrührerischen<lb/> Bauern. Die ganze Sozialdemokratie sei nichts andres als Vorbereitung des<lb/> Hochverrats, Untergrabung der Fundamente des Staates. Bebel verlangte,<lb/> daß Kleist zur Ordnung gerufen werde. Forckenbeck tat es nicht. Der Reichs¬<lb/> kanzler aber stieg herab zu dem alten Freunde und reichte ihm die Hand.<lb/> Damit war die Versöhnung öffentlich vollzogen. Bismarcks Haus blieb ihm<lb/> jedoch vorläufig noch verschlossen; auch Johanna durfte nicht mit dem Ohm<lb/> Verkehren. Und als schließlich doch der gesellige Verkehr wiederhergestellt<lb/> wurde, blieben beide zurückhaltend und mieden vorsichtig politische Gespräche.<lb/> Kleist hat dann weiter im preußischen Herrenhause wie im Reichstage sehr er¬<lb/> folgreich an der Gesetzgebung mitgewirkt. Einigemal kam es noch zu Kollisionen,<lb/> Ma Beispiel in der Frage der Sonntagsruhe, wo sich Kleist nicht scheute, von<lb/> Bismarcks Papierfabrik zu sprechen. Meistens jedoch konnten sie zusammen-<lb/> gehn. da ja der Kanzler eine Rechtsschweukuug vollzogen hatte. Die Sozial¬<lb/> politik, die innere Kolonisation in Verbindung mit der Poleupolitik hat Kleist<lb/> eifrig unterstützt. Die Maßregeln zum Schutze des Handwerks, das Gesetz<lb/> gegen den Wucher förderte er mit Begeisterung. Er zuerst hat die Entlastung<lb/> des überbürdeten Reichskanzlers durch die Schaffung eines Reichsfinanzamts<lb/> angeregt, und einmal — die Sache ist noch nicht aufgeklärt — scheint er<lb/> Bismarck als Handlanger gedient zu haben. Bei der Neuorganisation der<lb/> Landgemeindeordnnng im Jahre 1881 wollte der Minister des Innern, Graf<lb/> Botho zu Eulenburg, die Aufsicht über die Verwaltung der Landgemeinden<lb/> dem Kreisausschuß übertragen. Kleist erklärte das mit großer Heftigkeit für<lb/> „Nonsens"; die Aufsicht dürfe kein andrer als der Landrat führen. Eulenburg<lb/> verteidigte seinen Entwurf. Darauf erhob sich der durch diese eine nicht eben<lb/> sehr schwierige Leistung einigermaßen berühmt gewordne Geheimrat Rommel<lb/> (man bildete aus seinem Namen das Verbum rommeln) und verlas die Er¬<lb/> klärung Bismarcks gegen den Minister, die dessen sofortigen Rücktritt zur Folge<lb/> hatte. Kleist war vielleicht der temperamentvollste aller deutschen Parlamentarier<lb/> seiner Zeit. Die Frankfurter Zeitung schrieb in dem Nekrolog auf ihn: „Wer<lb/> ihn in den letzten Jahren reden sah und hörte, der mußte an die Schilderung<lb/> denken, die Freiligrath in seinem Gedichte »Moostee« von den isländischen<lb/> Vulkanen entwirft, deren Glut unter Schnee lodert." Und sein Biograph<lb/> schreibt: „Ist manchem großen Parlamentarier, wie dem Freiherrn Georg</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0627]
Hans von Kleist-Retzow
Kirche im Kulturkampf behandelt hat. Zu den Ursachen gehört auch die wirt¬
schaftliche Entwicklung, die den Unterschied zwischen Arm und Reich immer
klaffender macht, die Ordnung des Handwerks, die Zucht in der Werkstatt auf¬
löst; und es gehört dazu die Lockerung der Sitten durch das Übermaß der
Schänkstätten. 'die Freigebung der sittenlosen Tingeltangel." Am 17. September
sprach er nach Bismarck, und nicht weniger wirkungsvoll als dieser. Er
begann: „Der Herr Abgeordnete Hänel verlangt von uns Klarheit. Ich hoffe,
er soll von mir Klarheit bekommen." Hänel hatte sich auf Luther berufen;
Kleist berief sich auf Luthers gewaltigen Kampfesruf gegen die aufrührerischen
Bauern. Die ganze Sozialdemokratie sei nichts andres als Vorbereitung des
Hochverrats, Untergrabung der Fundamente des Staates. Bebel verlangte,
daß Kleist zur Ordnung gerufen werde. Forckenbeck tat es nicht. Der Reichs¬
kanzler aber stieg herab zu dem alten Freunde und reichte ihm die Hand.
Damit war die Versöhnung öffentlich vollzogen. Bismarcks Haus blieb ihm
jedoch vorläufig noch verschlossen; auch Johanna durfte nicht mit dem Ohm
Verkehren. Und als schließlich doch der gesellige Verkehr wiederhergestellt
wurde, blieben beide zurückhaltend und mieden vorsichtig politische Gespräche.
Kleist hat dann weiter im preußischen Herrenhause wie im Reichstage sehr er¬
folgreich an der Gesetzgebung mitgewirkt. Einigemal kam es noch zu Kollisionen,
Ma Beispiel in der Frage der Sonntagsruhe, wo sich Kleist nicht scheute, von
Bismarcks Papierfabrik zu sprechen. Meistens jedoch konnten sie zusammen-
gehn. da ja der Kanzler eine Rechtsschweukuug vollzogen hatte. Die Sozial¬
politik, die innere Kolonisation in Verbindung mit der Poleupolitik hat Kleist
eifrig unterstützt. Die Maßregeln zum Schutze des Handwerks, das Gesetz
gegen den Wucher förderte er mit Begeisterung. Er zuerst hat die Entlastung
des überbürdeten Reichskanzlers durch die Schaffung eines Reichsfinanzamts
angeregt, und einmal — die Sache ist noch nicht aufgeklärt — scheint er
Bismarck als Handlanger gedient zu haben. Bei der Neuorganisation der
Landgemeindeordnnng im Jahre 1881 wollte der Minister des Innern, Graf
Botho zu Eulenburg, die Aufsicht über die Verwaltung der Landgemeinden
dem Kreisausschuß übertragen. Kleist erklärte das mit großer Heftigkeit für
„Nonsens"; die Aufsicht dürfe kein andrer als der Landrat führen. Eulenburg
verteidigte seinen Entwurf. Darauf erhob sich der durch diese eine nicht eben
sehr schwierige Leistung einigermaßen berühmt gewordne Geheimrat Rommel
(man bildete aus seinem Namen das Verbum rommeln) und verlas die Er¬
klärung Bismarcks gegen den Minister, die dessen sofortigen Rücktritt zur Folge
hatte. Kleist war vielleicht der temperamentvollste aller deutschen Parlamentarier
seiner Zeit. Die Frankfurter Zeitung schrieb in dem Nekrolog auf ihn: „Wer
ihn in den letzten Jahren reden sah und hörte, der mußte an die Schilderung
denken, die Freiligrath in seinem Gedichte »Moostee« von den isländischen
Vulkanen entwirft, deren Glut unter Schnee lodert." Und sein Biograph
schreibt: „Ist manchem großen Parlamentarier, wie dem Freiherrn Georg
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