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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Hans von Aleist-Retzow

lutherischen Stil -- zog seinen Schwager Heinrich Puttkamer und dessen
Gattin Luitgarde hinein; diese endlich gewann ihren Stiefvater, Haus Jürgen
von Kleist-Retzow auf Kieckow, der sich schon vorher ernsthaft mit religiösen
Dingen beschäftigt, aber im rationalistischen Fahrwasser der "Stunden der An¬
dacht" bewegt hatte. Luitgardens Tochter Johanna nun wurde Bismarcks
Gattin. "Weltabgewandter als Littegarde joie sie gewöhnlich genannt wurdej
von Puttkamer seit ihrer Erweckung durch die Belowschen Verwandten ist Wohl
selten jemand gewesen." Das beweise unter anderm eine Stelle in einem Briefe
ihres jüngern Stiefbruders Hans von Kleist, in dem er sich über die Lehre
des mit dem Mystiker Jakob Böhme innerlich verwandten Thcosophen Gichtel
und das Verhältnis seiner Verwandten zu ihr ausspricht. "Richtig ist, daß
Gichtel die Neigung des männlichen Geschlechts zum weiblichen für die Wurzel
aller Sünde hielt und glaubte, Gott habe ursprünglich die Fortpflanzung der
Menschen auf anderm Wege beschlossen gehabt. Ihm nähert sich in etwas
meine Schwester." Das Leben, das sie führte, würden Katholiken heiligmäßig
nennen. Aber sie gehörte nicht zu den zornigen Heiligen, sondern zu den
milden und heitern. Die Trennung von ihrer Tochter war das einzige, was
ihren gottseliger Frohsinn vorübergehend trübte; so stark allerdings, daß man
für ihre Gesundheit fürchtete. "Bald aber söhnte sie sich mit dem Geschick der
Tochter aus, denn sie überzeugte sich, daß Johanna an der Seite des tollen
Junkers glücklich wurde. "Meine Augen sahen noch nie ein Paar, das so
vollständig glücklich ist wie Johanna und Bismarck." Mit warmer Anteil¬
nahme verfolgte sie die glänzende Laufbahn ihres Schwiegersohns. Sie hat,
wie ihr Bruder bezeugt, neben der ersten Frau von Moritz Blanckenburg am
meisten von allen Menschen auf das Glaubensleben Bismarcks eingewirkt,
obwohl oder vielmehr gerade weil sie der Kirche entfremdet war. "Den Streit
um die äußere Kirche verstehe ich nicht und habe ihn nie verstanden", bekannte
sie noch im Jahre 1858 ihrem Bruder."

Dieser Stiefbruder Hans nun ist in solcher Atmosphäre schon als Knabe
fromm geworden und zeitlebens ein halber Asket und ganzer "Pietist" ge¬
blieben, im Unterschiede von Luitgarde jedoch ein kirchlich gesinnter, was sich
aus seiner vielseitigen praktischen Tätigkeit erklärt, die sich mit Separatismus
wie mit religiösem Individualismus schlecht vertragen hätte. Als gewissen¬
hafter und um das Seelenheil seiner Gutsangehörigen besorgter Kirchenpatron
wie als Förderer der innern Mission bedürfte er der Kirche. Er wurde eine
geschlossene Persönlichkeit von unbeugsamen Charakter, in der sich lebhaftes
wissenschaftliches Interesse (das verdankte er Schulpforta), praktische Tüchtigkeit
und tiefe, aufrichtige Religiosität zur glücklichen Harmonie vereinigten. Seine
Richtung brachte ihn früh den beiden Gerlachs nahe -- unter dem Präsidenten
Ludwig von Gerlach arbeitete er in Frankfurt an der Oder als Referendar --
und durch diese dem Könige. Als Landrat seines Heimatkreises Belgard ver¬
anlaßte er die ersten antirevvlntionären Kundgebungen (die Deputation Schön-


Hans von Aleist-Retzow

lutherischen Stil — zog seinen Schwager Heinrich Puttkamer und dessen
Gattin Luitgarde hinein; diese endlich gewann ihren Stiefvater, Haus Jürgen
von Kleist-Retzow auf Kieckow, der sich schon vorher ernsthaft mit religiösen
Dingen beschäftigt, aber im rationalistischen Fahrwasser der „Stunden der An¬
dacht" bewegt hatte. Luitgardens Tochter Johanna nun wurde Bismarcks
Gattin. „Weltabgewandter als Littegarde joie sie gewöhnlich genannt wurdej
von Puttkamer seit ihrer Erweckung durch die Belowschen Verwandten ist Wohl
selten jemand gewesen." Das beweise unter anderm eine Stelle in einem Briefe
ihres jüngern Stiefbruders Hans von Kleist, in dem er sich über die Lehre
des mit dem Mystiker Jakob Böhme innerlich verwandten Thcosophen Gichtel
und das Verhältnis seiner Verwandten zu ihr ausspricht. „Richtig ist, daß
Gichtel die Neigung des männlichen Geschlechts zum weiblichen für die Wurzel
aller Sünde hielt und glaubte, Gott habe ursprünglich die Fortpflanzung der
Menschen auf anderm Wege beschlossen gehabt. Ihm nähert sich in etwas
meine Schwester." Das Leben, das sie führte, würden Katholiken heiligmäßig
nennen. Aber sie gehörte nicht zu den zornigen Heiligen, sondern zu den
milden und heitern. Die Trennung von ihrer Tochter war das einzige, was
ihren gottseliger Frohsinn vorübergehend trübte; so stark allerdings, daß man
für ihre Gesundheit fürchtete. „Bald aber söhnte sie sich mit dem Geschick der
Tochter aus, denn sie überzeugte sich, daß Johanna an der Seite des tollen
Junkers glücklich wurde. »Meine Augen sahen noch nie ein Paar, das so
vollständig glücklich ist wie Johanna und Bismarck.« Mit warmer Anteil¬
nahme verfolgte sie die glänzende Laufbahn ihres Schwiegersohns. Sie hat,
wie ihr Bruder bezeugt, neben der ersten Frau von Moritz Blanckenburg am
meisten von allen Menschen auf das Glaubensleben Bismarcks eingewirkt,
obwohl oder vielmehr gerade weil sie der Kirche entfremdet war. »Den Streit
um die äußere Kirche verstehe ich nicht und habe ihn nie verstanden«, bekannte
sie noch im Jahre 1858 ihrem Bruder."

Dieser Stiefbruder Hans nun ist in solcher Atmosphäre schon als Knabe
fromm geworden und zeitlebens ein halber Asket und ganzer „Pietist" ge¬
blieben, im Unterschiede von Luitgarde jedoch ein kirchlich gesinnter, was sich
aus seiner vielseitigen praktischen Tätigkeit erklärt, die sich mit Separatismus
wie mit religiösem Individualismus schlecht vertragen hätte. Als gewissen¬
hafter und um das Seelenheil seiner Gutsangehörigen besorgter Kirchenpatron
wie als Förderer der innern Mission bedürfte er der Kirche. Er wurde eine
geschlossene Persönlichkeit von unbeugsamen Charakter, in der sich lebhaftes
wissenschaftliches Interesse (das verdankte er Schulpforta), praktische Tüchtigkeit
und tiefe, aufrichtige Religiosität zur glücklichen Harmonie vereinigten. Seine
Richtung brachte ihn früh den beiden Gerlachs nahe — unter dem Präsidenten
Ludwig von Gerlach arbeitete er in Frankfurt an der Oder als Referendar —
und durch diese dem Könige. Als Landrat seines Heimatkreises Belgard ver¬
anlaßte er die ersten antirevvlntionären Kundgebungen (die Deputation Schön-


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[0624] Hans von Aleist-Retzow lutherischen Stil — zog seinen Schwager Heinrich Puttkamer und dessen Gattin Luitgarde hinein; diese endlich gewann ihren Stiefvater, Haus Jürgen von Kleist-Retzow auf Kieckow, der sich schon vorher ernsthaft mit religiösen Dingen beschäftigt, aber im rationalistischen Fahrwasser der „Stunden der An¬ dacht" bewegt hatte. Luitgardens Tochter Johanna nun wurde Bismarcks Gattin. „Weltabgewandter als Littegarde joie sie gewöhnlich genannt wurdej von Puttkamer seit ihrer Erweckung durch die Belowschen Verwandten ist Wohl selten jemand gewesen." Das beweise unter anderm eine Stelle in einem Briefe ihres jüngern Stiefbruders Hans von Kleist, in dem er sich über die Lehre des mit dem Mystiker Jakob Böhme innerlich verwandten Thcosophen Gichtel und das Verhältnis seiner Verwandten zu ihr ausspricht. „Richtig ist, daß Gichtel die Neigung des männlichen Geschlechts zum weiblichen für die Wurzel aller Sünde hielt und glaubte, Gott habe ursprünglich die Fortpflanzung der Menschen auf anderm Wege beschlossen gehabt. Ihm nähert sich in etwas meine Schwester." Das Leben, das sie führte, würden Katholiken heiligmäßig nennen. Aber sie gehörte nicht zu den zornigen Heiligen, sondern zu den milden und heitern. Die Trennung von ihrer Tochter war das einzige, was ihren gottseliger Frohsinn vorübergehend trübte; so stark allerdings, daß man für ihre Gesundheit fürchtete. „Bald aber söhnte sie sich mit dem Geschick der Tochter aus, denn sie überzeugte sich, daß Johanna an der Seite des tollen Junkers glücklich wurde. »Meine Augen sahen noch nie ein Paar, das so vollständig glücklich ist wie Johanna und Bismarck.« Mit warmer Anteil¬ nahme verfolgte sie die glänzende Laufbahn ihres Schwiegersohns. Sie hat, wie ihr Bruder bezeugt, neben der ersten Frau von Moritz Blanckenburg am meisten von allen Menschen auf das Glaubensleben Bismarcks eingewirkt, obwohl oder vielmehr gerade weil sie der Kirche entfremdet war. »Den Streit um die äußere Kirche verstehe ich nicht und habe ihn nie verstanden«, bekannte sie noch im Jahre 1858 ihrem Bruder." Dieser Stiefbruder Hans nun ist in solcher Atmosphäre schon als Knabe fromm geworden und zeitlebens ein halber Asket und ganzer „Pietist" ge¬ blieben, im Unterschiede von Luitgarde jedoch ein kirchlich gesinnter, was sich aus seiner vielseitigen praktischen Tätigkeit erklärt, die sich mit Separatismus wie mit religiösem Individualismus schlecht vertragen hätte. Als gewissen¬ hafter und um das Seelenheil seiner Gutsangehörigen besorgter Kirchenpatron wie als Förderer der innern Mission bedürfte er der Kirche. Er wurde eine geschlossene Persönlichkeit von unbeugsamen Charakter, in der sich lebhaftes wissenschaftliches Interesse (das verdankte er Schulpforta), praktische Tüchtigkeit und tiefe, aufrichtige Religiosität zur glücklichen Harmonie vereinigten. Seine Richtung brachte ihn früh den beiden Gerlachs nahe — unter dem Präsidenten Ludwig von Gerlach arbeitete er in Frankfurt an der Oder als Referendar — und durch diese dem Könige. Als Landrat seines Heimatkreises Belgard ver¬ anlaßte er die ersten antirevvlntionären Kundgebungen (die Deputation Schön-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/624>, abgerufen am 06.02.2025.