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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die SelbstLndigkeitsbewegung in Indien

Soldaten gaben den Anstoß; sie befreiten ihre verhafteten Kameraden und
mordeten in scheußlicher Weise englische Offiziere und ihre Familien. Überall,
ausgenommen die Sikhs in Pendschab, traten die eingebornen Truppen auf die
Seite der Empörer. In Delhi fanden sie Kriegsmaterialien und Geld. Gleich
darauf loderte auch in Bengalen die Flamme des Aufruhrs auf. Hätten die
Inder eine gemeinsame kraftvolle Führung gehabt, so wäre vielleicht die englische
Herrschaft weggefegt worden. Aber der Fluch aller Aufstände, der Mangel an
Autorität und Disziplin rächte sich auch an ihnen. In dem ordentlichen Kriege,
der sich nun entspann, blieben die Engländer Sieger. Auf ihrer Seite war die
große Überlegenheit der Kultur und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Der
Inder, ganz besonders der Beugale, ist schwächlich und ohne Ausdauer. Mit
einer Handvoll Leuten hatten Robert Clive und Warren Hastings das Riesen¬
reich erobert. Im Vergleich zu diesem waren die wirklich englischen Truppen
doch auch jetzt nur eine Handvoll. Es gelang ihnen im März 1858 Lucknow,
die Hauptstadt von Audh, in zehntägigem Kampfe zu erobern. Damit war der
Sieg gesichert. Die letzten Kämpfe zogen sich aber noch bis zum Ende des
Jahres hin. Es wurde ein strenges Strafgericht gehalten. Man band die zum
Tode verurteilten Meuterer vor die Kanonen, und indem das Geschoß die
Leiber zerfetzte, nahm es nach dem Glauben der Hindus den Opfern die Mög¬
lichkeit des ewigen Lebens. Seitdem ist kein Aufruhr wieder eingetreten. Die
Kompagnie hat ihre Territorialherrschaft verloren, der Staat hat die Zügel in
seine eigne Hand genommen.

Das seitdem verflossene halbe Jahrhundert hat Indien tiefe Spuren ein¬
gedrückt. Nach allen Seiten ist das englische Gebiet erweitert worden. Es reicht
von der Ostgrenze Persiens bis zur Westgrenze Siams. Sein Flächeninhalt
beträgt einschließlich Ceylons, das formell nicht zum Kaiserreich Indien gehört,
4875000 Quadratkilometer; es ist also genau neunmal so groß wie das
Deutsche Reich. Die Einwohnerzahl betrügt 299 Millionen, also nahezu fünf¬
mal so viel wie die Deutschlands. Drei Fünftel dieses gewaltigen Reiches -- nach
der Einwohnerzahl gar vier Fünftel -- stehen direkt unter englischer Staats¬
verwaltung, der Nest besteht aus Schutzstaaten, denen eine gewisse Selbständigkeit
im innern Regiment verblieben ist. Zu diesen gehören unter andern Haiderabad
und Maissur, dann die buddhistischen Staaten im Himalaya: Kaschmir, Nepal
und Bhutan. Die wahre Gewalt liegt jedoch auch bei ihnen in den Händen
des englischen Residenten, des Vizekönigs in Simla, der Regierung in London.

Wer sich keiner sträflichen Verblendung schuldig machen will, muß an¬
erkennen, daß England seit dem Aufstande Großes für Indien getan hat-
Unschätzbar ist schon der Landfrieden, ein Segen, den das Land früher kaum
je gekannt hat; von gleichem Wert ist die Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit
der Rechtspflege, soweit der englische Dienst reicht. Auch das ist etwas, was
kein orientalisches Land je zuvor erreicht hat. Für die Volkswohlfahrt sind
große Unternehmungen gemacht worden. Man hat Ent- und Bewässerung?'-


Die SelbstLndigkeitsbewegung in Indien

Soldaten gaben den Anstoß; sie befreiten ihre verhafteten Kameraden und
mordeten in scheußlicher Weise englische Offiziere und ihre Familien. Überall,
ausgenommen die Sikhs in Pendschab, traten die eingebornen Truppen auf die
Seite der Empörer. In Delhi fanden sie Kriegsmaterialien und Geld. Gleich
darauf loderte auch in Bengalen die Flamme des Aufruhrs auf. Hätten die
Inder eine gemeinsame kraftvolle Führung gehabt, so wäre vielleicht die englische
Herrschaft weggefegt worden. Aber der Fluch aller Aufstände, der Mangel an
Autorität und Disziplin rächte sich auch an ihnen. In dem ordentlichen Kriege,
der sich nun entspann, blieben die Engländer Sieger. Auf ihrer Seite war die
große Überlegenheit der Kultur und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Der
Inder, ganz besonders der Beugale, ist schwächlich und ohne Ausdauer. Mit
einer Handvoll Leuten hatten Robert Clive und Warren Hastings das Riesen¬
reich erobert. Im Vergleich zu diesem waren die wirklich englischen Truppen
doch auch jetzt nur eine Handvoll. Es gelang ihnen im März 1858 Lucknow,
die Hauptstadt von Audh, in zehntägigem Kampfe zu erobern. Damit war der
Sieg gesichert. Die letzten Kämpfe zogen sich aber noch bis zum Ende des
Jahres hin. Es wurde ein strenges Strafgericht gehalten. Man band die zum
Tode verurteilten Meuterer vor die Kanonen, und indem das Geschoß die
Leiber zerfetzte, nahm es nach dem Glauben der Hindus den Opfern die Mög¬
lichkeit des ewigen Lebens. Seitdem ist kein Aufruhr wieder eingetreten. Die
Kompagnie hat ihre Territorialherrschaft verloren, der Staat hat die Zügel in
seine eigne Hand genommen.

Das seitdem verflossene halbe Jahrhundert hat Indien tiefe Spuren ein¬
gedrückt. Nach allen Seiten ist das englische Gebiet erweitert worden. Es reicht
von der Ostgrenze Persiens bis zur Westgrenze Siams. Sein Flächeninhalt
beträgt einschließlich Ceylons, das formell nicht zum Kaiserreich Indien gehört,
4875000 Quadratkilometer; es ist also genau neunmal so groß wie das
Deutsche Reich. Die Einwohnerzahl betrügt 299 Millionen, also nahezu fünf¬
mal so viel wie die Deutschlands. Drei Fünftel dieses gewaltigen Reiches — nach
der Einwohnerzahl gar vier Fünftel — stehen direkt unter englischer Staats¬
verwaltung, der Nest besteht aus Schutzstaaten, denen eine gewisse Selbständigkeit
im innern Regiment verblieben ist. Zu diesen gehören unter andern Haiderabad
und Maissur, dann die buddhistischen Staaten im Himalaya: Kaschmir, Nepal
und Bhutan. Die wahre Gewalt liegt jedoch auch bei ihnen in den Händen
des englischen Residenten, des Vizekönigs in Simla, der Regierung in London.

Wer sich keiner sträflichen Verblendung schuldig machen will, muß an¬
erkennen, daß England seit dem Aufstande Großes für Indien getan hat-
Unschätzbar ist schon der Landfrieden, ein Segen, den das Land früher kaum
je gekannt hat; von gleichem Wert ist die Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit
der Rechtspflege, soweit der englische Dienst reicht. Auch das ist etwas, was
kein orientalisches Land je zuvor erreicht hat. Für die Volkswohlfahrt sind
große Unternehmungen gemacht worden. Man hat Ent- und Bewässerung?'-


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[0494] Die SelbstLndigkeitsbewegung in Indien Soldaten gaben den Anstoß; sie befreiten ihre verhafteten Kameraden und mordeten in scheußlicher Weise englische Offiziere und ihre Familien. Überall, ausgenommen die Sikhs in Pendschab, traten die eingebornen Truppen auf die Seite der Empörer. In Delhi fanden sie Kriegsmaterialien und Geld. Gleich darauf loderte auch in Bengalen die Flamme des Aufruhrs auf. Hätten die Inder eine gemeinsame kraftvolle Führung gehabt, so wäre vielleicht die englische Herrschaft weggefegt worden. Aber der Fluch aller Aufstände, der Mangel an Autorität und Disziplin rächte sich auch an ihnen. In dem ordentlichen Kriege, der sich nun entspann, blieben die Engländer Sieger. Auf ihrer Seite war die große Überlegenheit der Kultur und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Der Inder, ganz besonders der Beugale, ist schwächlich und ohne Ausdauer. Mit einer Handvoll Leuten hatten Robert Clive und Warren Hastings das Riesen¬ reich erobert. Im Vergleich zu diesem waren die wirklich englischen Truppen doch auch jetzt nur eine Handvoll. Es gelang ihnen im März 1858 Lucknow, die Hauptstadt von Audh, in zehntägigem Kampfe zu erobern. Damit war der Sieg gesichert. Die letzten Kämpfe zogen sich aber noch bis zum Ende des Jahres hin. Es wurde ein strenges Strafgericht gehalten. Man band die zum Tode verurteilten Meuterer vor die Kanonen, und indem das Geschoß die Leiber zerfetzte, nahm es nach dem Glauben der Hindus den Opfern die Mög¬ lichkeit des ewigen Lebens. Seitdem ist kein Aufruhr wieder eingetreten. Die Kompagnie hat ihre Territorialherrschaft verloren, der Staat hat die Zügel in seine eigne Hand genommen. Das seitdem verflossene halbe Jahrhundert hat Indien tiefe Spuren ein¬ gedrückt. Nach allen Seiten ist das englische Gebiet erweitert worden. Es reicht von der Ostgrenze Persiens bis zur Westgrenze Siams. Sein Flächeninhalt beträgt einschließlich Ceylons, das formell nicht zum Kaiserreich Indien gehört, 4875000 Quadratkilometer; es ist also genau neunmal so groß wie das Deutsche Reich. Die Einwohnerzahl betrügt 299 Millionen, also nahezu fünf¬ mal so viel wie die Deutschlands. Drei Fünftel dieses gewaltigen Reiches — nach der Einwohnerzahl gar vier Fünftel — stehen direkt unter englischer Staats¬ verwaltung, der Nest besteht aus Schutzstaaten, denen eine gewisse Selbständigkeit im innern Regiment verblieben ist. Zu diesen gehören unter andern Haiderabad und Maissur, dann die buddhistischen Staaten im Himalaya: Kaschmir, Nepal und Bhutan. Die wahre Gewalt liegt jedoch auch bei ihnen in den Händen des englischen Residenten, des Vizekönigs in Simla, der Regierung in London. Wer sich keiner sträflichen Verblendung schuldig machen will, muß an¬ erkennen, daß England seit dem Aufstande Großes für Indien getan hat- Unschätzbar ist schon der Landfrieden, ein Segen, den das Land früher kaum je gekannt hat; von gleichem Wert ist die Gerechtigkeit und Unbestechlichkeit der Rechtspflege, soweit der englische Dienst reicht. Auch das ist etwas, was kein orientalisches Land je zuvor erreicht hat. Für die Volkswohlfahrt sind große Unternehmungen gemacht worden. Man hat Ent- und Bewässerung?'-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/494>, abgerufen am 06.02.2025.