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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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hungernd verkommt, revoltiert und für jeden Fetzen Land, wenn sie irgend
kann, Wucherpreise zahlt. Die ganze gewaltige Differenz der Arbeitser-
giebigkeit spricht sich darin aus; die der Arbeitsintensität aber darin,
daß jene 5 Hektar pro Familie oder 2 Hektar pro Mann den kleinen
deutschen Bauern des Ostens und seine Familie auch annähernd vollständig
beschäftigen, während der entsprechende Seelennadjel in Zentralruszland nur
21 bis 23 Prozent der vorhandnen Arbeitskraft in Anspruch nimmt." (Bei
Wein-, Obst-, Hopfen-, Gemüsebau genügt bekanntlich eine noch weit kleinere
Fläche sowohl für die Beschäftigung wie für den Unterhalt der Familie.) So
also steht es, wenn gar nicht Vergrößerung des durchschnittlichen Nadjels
gefordert wird, sondern nur, daß dieser als Minimum festgesetzt werde, und
daß alle Bauernwirtschaften, die ihn nicht erreichen, bis zu diesem Minimum
ergänzt werden sollen. Was die Berechnungen der für die Verteilung zur
Verfügung stehenden Laudflüchen betrifft, so ist zu bemerken, daß sie vorläufig
in der Luft schweben, weil eine zuverlässige Statistik fehlt, und daß die Frage,
wie bei einer etwaigen Verteilung mit den Waldbeständen verfahren werden
solle, die soeben beschriebne erste Schwierigkeit nicht wenig erhöht.

Die zweite liegt in der Frage: wer denn zum Anspruch auf den nach
irgendeiner Norm abgemessenen Landanteil zugelassen werden soll? "Sie ist
deshalb nicht so einfach, weil ja die rechtliche Zugehörigkeit zur heutigen
bäuerlichen Gemeinde nicht mit der ökonomischen Qualität eines Bauern, ja
überhaupt eines irgendwie landwirtschaftlich Tätigen zusammenfällt." Der
Mirgenvsse, der auswärts Arbeit sucht, verliert dadurch nicht seinen Anspruch
auf einen Minuten. In mancher Fabrik besteht nnr ein Zehntel des Arbeiter¬
personals aus Leuten, die nicht mehr einer Dorfgemeinde "zugeschrieben" sind;
im Durchschnitt berechnet man die Zahl der Fabrikarbeiter, die den Zusammen¬
hang mit dem Dorfe verloren haben, auf die Hälfte. Sollen also alle, die
dem Rechte nach Bauern sind, oder nur die in der Landwirtschaft tätigen
oder gar nur die Hofbesitzer mit Landanteilen bedacht werden? Und wie soll
es mit landwirtschaftlich tätigen Parzellenbesitzern gehalten werden, die keiner
Bauerngemeinde angehören, die also dem Rechte nach keine Bauern sind?
Eine dritte Schwierigkeit erwächst aus dem Umstände, daß die zu kleinen An¬
teile meistens nicht mit Ackern ergänzt werden könnten, die in der Nähe
liegen; es gibt nicht in oder bei jedem Dorfe einen Großgrundbesitzer, der
expropriiert werden könnte. Es müßten also Massenumsiedlungen vorgenommen
werden. Gegen solche sträuben sich sowohl die Bauern, die fortziehen sollen,
weil sie zu unbehilflich sind, sich leicht an die Wirtschaftsbedingungen einer
andern Gegend anzupassen (es würde sich meistens darum handeln, Baktern
des ziemlich dichtbevölkerten Schwarzcrdegebiets in nördlichere Waldregionen
zu verpflanzen), als auch die Bauern der Gebiete, die die neuen Ansiedler
aufnehmen sollen. Diese würden besonders über Einschränkung der Wald-
und Weidenutzuug klagen, an die sie gewöhnt sind. Eine vierte Schwierigkeit


hungernd verkommt, revoltiert und für jeden Fetzen Land, wenn sie irgend
kann, Wucherpreise zahlt. Die ganze gewaltige Differenz der Arbeitser-
giebigkeit spricht sich darin aus; die der Arbeitsintensität aber darin,
daß jene 5 Hektar pro Familie oder 2 Hektar pro Mann den kleinen
deutschen Bauern des Ostens und seine Familie auch annähernd vollständig
beschäftigen, während der entsprechende Seelennadjel in Zentralruszland nur
21 bis 23 Prozent der vorhandnen Arbeitskraft in Anspruch nimmt." (Bei
Wein-, Obst-, Hopfen-, Gemüsebau genügt bekanntlich eine noch weit kleinere
Fläche sowohl für die Beschäftigung wie für den Unterhalt der Familie.) So
also steht es, wenn gar nicht Vergrößerung des durchschnittlichen Nadjels
gefordert wird, sondern nur, daß dieser als Minimum festgesetzt werde, und
daß alle Bauernwirtschaften, die ihn nicht erreichen, bis zu diesem Minimum
ergänzt werden sollen. Was die Berechnungen der für die Verteilung zur
Verfügung stehenden Laudflüchen betrifft, so ist zu bemerken, daß sie vorläufig
in der Luft schweben, weil eine zuverlässige Statistik fehlt, und daß die Frage,
wie bei einer etwaigen Verteilung mit den Waldbeständen verfahren werden
solle, die soeben beschriebne erste Schwierigkeit nicht wenig erhöht.

Die zweite liegt in der Frage: wer denn zum Anspruch auf den nach
irgendeiner Norm abgemessenen Landanteil zugelassen werden soll? „Sie ist
deshalb nicht so einfach, weil ja die rechtliche Zugehörigkeit zur heutigen
bäuerlichen Gemeinde nicht mit der ökonomischen Qualität eines Bauern, ja
überhaupt eines irgendwie landwirtschaftlich Tätigen zusammenfällt." Der
Mirgenvsse, der auswärts Arbeit sucht, verliert dadurch nicht seinen Anspruch
auf einen Minuten. In mancher Fabrik besteht nnr ein Zehntel des Arbeiter¬
personals aus Leuten, die nicht mehr einer Dorfgemeinde „zugeschrieben" sind;
im Durchschnitt berechnet man die Zahl der Fabrikarbeiter, die den Zusammen¬
hang mit dem Dorfe verloren haben, auf die Hälfte. Sollen also alle, die
dem Rechte nach Bauern sind, oder nur die in der Landwirtschaft tätigen
oder gar nur die Hofbesitzer mit Landanteilen bedacht werden? Und wie soll
es mit landwirtschaftlich tätigen Parzellenbesitzern gehalten werden, die keiner
Bauerngemeinde angehören, die also dem Rechte nach keine Bauern sind?
Eine dritte Schwierigkeit erwächst aus dem Umstände, daß die zu kleinen An¬
teile meistens nicht mit Ackern ergänzt werden könnten, die in der Nähe
liegen; es gibt nicht in oder bei jedem Dorfe einen Großgrundbesitzer, der
expropriiert werden könnte. Es müßten also Massenumsiedlungen vorgenommen
werden. Gegen solche sträuben sich sowohl die Bauern, die fortziehen sollen,
weil sie zu unbehilflich sind, sich leicht an die Wirtschaftsbedingungen einer
andern Gegend anzupassen (es würde sich meistens darum handeln, Baktern
des ziemlich dichtbevölkerten Schwarzcrdegebiets in nördlichere Waldregionen
zu verpflanzen), als auch die Bauern der Gebiete, die die neuen Ansiedler
aufnehmen sollen. Diese würden besonders über Einschränkung der Wald-
und Weidenutzuug klagen, an die sie gewöhnt sind. Eine vierte Schwierigkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/400>, abgerufen am 06.02.2025.